Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 99
Der Psalm beschreibt den HERRN als zukünftigen Herrscher über Israel und über alle übrigen Völker der Erde. Hier geht es nicht mehr um Niederwerfung und Bestrafung, auch nicht um die Wiederherstellung des Rechts und um Besserung der äußeren Umstände. Die Anerkennung des HERRN ist nun keine Frage mehr. Das Augenmerk ist jetzt auf die neu entstandenen Verpflichtungen und laufenden Aufgaben gerichtet, die in dem errichteten Reich Ihm gegenüber zu erfüllen sind. Der alle Verhältnisse regelnde Grundsatz Seiner Regierung ist Seine Heiligkeit. Daher wird die Heiligkeit des HERRN als Zusammenfassung und Höhepunkt am Schluss jeder Versgruppe dieses Psalms hervorgehoben. Wenn der HERR regiert, herrscht zweifellos auch Seine Heiligkeit. Das bedeutet, dass sie überall im Vordergrund steht und dass sie uneingeschränkten Einfluss und ehrerbietige Anerkennung verlangt (Verse 3.5.9). Die ‚Cherubim' (Vers 1), die als himmlische Wesen zur nächsten Umgebung des HERRN gehören, bezeugen immerfort Seine richterliche Autorität und Seine Heiligkeit (2. Mo 25,22; Ps 80,2). Dies erinnert an das ständige Zeugnis der ‚Seraphim' in Jesaja 6,3: „Heilig, heilig, heilig ist der HERR der Heerscharen, die ganze Erde ist voll Seiner Herrlichkeit!“ Auch die vier lebendigen Wesen der Offenbarung, die ringsum und innen voller Augen sind, „hören Tag und Nacht nicht auf zu sagen: Heilig, heilig, heilig, Herr, Gott, Allmächtiger, der da war und der da ist und der da kommt!“ (Off 4,8; Ps 111,9; 5. Mo 28,58). Wer in die Nähe Gottes kommt und sich dort aufhält, hat die Ehrfurcht gebietende, alles prüfende Heiligkeit unbedingt zu beachten. Diese Forderung ist seit jeher und in Ewigkeit unverändert die gleiche. Die in der Schrift dargestellte Geschichte Israels stellt die Anerkennung der Heiligkeit Gottes als ein unumgängliches Erfordernis dar. Die Worte der Schrift betreffs der Heiligkeit dürfen nicht außer Acht gelassen werden, und auf deren Zeugnisse nimmt der vorliegende Psalm Bezug. Will ein Mensch dem Herrn Ehrerbietung bezeugen, dann hat er die Ansprüche Seiner Heiligkeit mit Sorgfalt zu berücksichtigen. Andernfalls ist er für Gott nicht annehmbar. Diese Seite des Wesens Gottes, die der Anbetung, aber auch der Gerechtigkeit und der Reinheit ihren Gott gemäßen Charakter verleiht, wird hier besonders hervorgehoben.
Unter dem starken Eindruck Seiner Erhabenheit erzittern die Völker ohne Ausnahme (Ps 96,9). Angesichts Seiner Heiligkeit, die absoluten Gehorsam verlangt, begibt sich niemand mehr auf einen eigenwilligen Weg. Eine verhärtete Haltung, die sich gegen Gott behaupten will und die göttliche Majestät unbeachtet lässt, ist unter der Regierung Seines heiligen und furchtbaren Namens unmöglich (Verse 1 bis 3; Jer 10,7; Off 15,3.4). Seine Taten und die ständige Gegenwart des HERRN lassen dann keinen Menschen mehr unbewegt oder gleichgültig. Jeder hat sich Ihm willig zu unterwerfen. Für immer vergangen ist die Zeit, da man Seine Majestät nicht zur Kenntnis nahm und von der Furchtbarkeit Seines Namens nichts wissen wollte; man rechnete nicht mit Seiner Allgegenwart, man fühlte sich Ihm gegenüber nicht verantwortlich und leugnete Ihn als Schöpfer. In der Zukunft hingegen wird die Herrlichkeit Seiner Person nicht mehr in Zweifel gezogen werden. Der Illusion von menschlicher Existenz in freier Selbstbestimmung, unabhängig von Gott, gibt sich keiner mehr hin. Niemand kann sich noch in einer Selbstsicherheit wiegen, die ohne Gott auszukommen meint. Der Einbildung, auf Gott nicht angewiesen zu sein, ist der Boden entzogen. Es nimmt nicht Wunder, dass die Völker zittern (Vers 1), denn die Erde wankt unter Seinen Füßen, und jeder erkennt, dass die Macht des HERRN die Ursache des außergewöhnlichen Geschehens ist.
Gottes Gerechtigkeit ist eine heilige, vollkommene Gerechtigkeit, ihr mangelt es nie an Kenntnissen über die wirklichen Tatbestände einer Rechtssache (Heb 4,13). Denn Licht und Wahrheit und ein vollkommenes Erkennen sind Kennzeichen des Wesens Gottes (Verse 3 und 4; Off 3,7; 6,10; 15,4). „Die Taten seiner Hände sind Wahrheit und Recht; zuverlässig sind alle seine Vorschriften, festgestellt auf immer, auf ewig, ausgeführt in Wahrheit und Geradheit“ (Ps 111,7.8). „Denn ich, der HERR, liebe das Recht“ (Jes 61,8; Jer 23,5.6). Niemals verändern sich Seine Satzungen, sie bedürfen keiner Anpassung. Sein Recht steht wie Sein Wort ewig fest in den Himmeln. Er ist die Quelle und der allmächtige Schirmherr des Rechts. Er ist der gerechte Gott, und Sein Handeln bezeugt, dass Er das Recht liebt. Göttliche Macht und Stärke, die dann überall offenbar sind, verschaffen Seiner Rechtsordnung absolute Gültigkeit. „Und der HERR der Heerscharen wird im Gericht erhaben sein, und Gott, der Heilige, sich heilig erweisen in Gerechtigkeit“ (Jes 5,16). Er offenbart Sich als der eigentliche, wahre Ursprung dessen, was gut und recht ist. Überall tritt hervor, „was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist“ (Röm 12,2). Jeder beugt sich willig vor dem HERRN und fällt in Anerkennung Seines Namens ehrfürchtig vor Ihm nieder. „Heilig ist er“ (Verse 4 und 5). Demütige Huldigung geziemt sich für jeden, der dem Heiligen naht. Dabei wird sich niemand Lässigkeit oder Leichtfertigkeit in der Haltung und Anrede gestatten, denn das ließe erkennen, dass das Wesen Gottes verkannt wird und man nicht weiß, mit wem man es zu tun hat.
Die Begebenheiten der Verse 6 bis 8 bestätigen, dass die Güte des HERRN nie ohne Seine Heiligkeit in Erscheinung tritt. Seine Freundlichkeit und Seine Strenge gehen immer miteinander. Dies wird in den persönlichen Erfahrungen der drei Gottesmänner Mose, Aaron und Samuel deutlich sichtbar. In Gott gemäßer Weise traten sie vor dem Höchsten stellvertretend für das ganze Volk ein, das Seinen Zorn hervorgerufen hatte. Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments berichten davon, dass diese Männer in einer besonders direkten Weise in die Nähe des Allmächtigen kamen und von Ihm angenommen und erhört wurden. Sie hatten ein tiefes Empfinden dafür, was Seine Heiligkeit erforderte. Daher konnte Er ihnen im besonderen Maß Gnade zuwenden, die anschließend dem ganzen Volk zugutekam (2. Mo 33,9–23; 4. Mo 12,7–13; 1. Sam 3,8ff; 7,9). Die heilige Gerechtigkeit Seiner Regierung blieb gewahrt und die damit verbundene Strenge wurde von diesen Knechten Gottes anerkannt (4. Mo 20,12). Auch wenn Er sich ihnen in großer Güte als der Barmherzige zuwandte, blieb Er dennoch der heilige Gott.
Die Erwähnung der drei Gottesmänner unterstreicht, dass es für die Beziehungen zu Gott sehr notwendig ist, dass treue, gottesfürchtige Gläubige da sind, die als Bittende Gott angenehm sind und als betende Mittler für andere vor Ihm eintreten können, wie es auch der Herr Jesus getan hat (Lk 22,32; Joh 17,9.15.20). Gerne entspricht Gott den Bitten derer, die alles, was Sein Wort bezeugt und gebietet, bewahren und das wertschätzen, was die Gnade Seinem Volk gegeben hat (Vers 6). „Das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag viel“ (Jak 5,16). Solche gebraucht Gott zum Dienst für andere und pflegt Gemeinschaft mit ihnen. Zu ihnen wird Er Sich bekennen. Sie kennzeichnen sich auch dadurch, dass sie die heilige Sache Gottes nicht minder vertreten als die Sache der Mitgläubigen. Sie werden darauf bestehen, dass der Schuldige sich schuldig bekennt und dass die Sünde beim Namen genannt wird. Dann wird der Heilige und Wahrhaftige Sich als „ein vergebender Gott“ erweisen. Bei alledem bleibt Gott der Rächer böser Taten (Vers 8). Das Licht Seiner Heiligkeit tritt bei der Vergebung von Sünden genauso klar hervor wie das alles aufklärende Licht, das bei der Bestrafung von Bösem wirksam ist. Seine Regierung kommt sowohl durch Vergebung als auch durch Strafe in gerechter Weise zum Ausdruck. Zugleich entspricht Gottes Gerechtigkeit Seiner Weisheit, Güte und Heiligkeit. Wer den Herrn liebt, liebt und schätzt ebenso sehr Sein Licht und Seine Wahrheit, und lässt sich von ihnen zu „seinem heiligen Berg“ führen (Ps 43.3.4). Er kommt in Seine Nähe und fällt mit Ehrfurcht vor Ihm nieder (Vers 9). Die Heiligkeit Gottes ist für Ihn ein starker Anziehungspunkt, nicht etwa ein Hindernis, das er fürchten müsste. Der Psalm macht deutlich, dass Gott solche Anbeter sucht und dass der Weg dahin vorhanden ist.