Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis

Psalm 95

Hier ergeht ein Aufruf an die Frommen des Volkes Israel, an dem baldigen Erscheinen ihres Messias festzuhalten und Ihn als Retter zu erwarten, denn sie „sind das Volk seiner Weide und die Herde seiner Hand“ (Vers 7). Niemand in Israel soll sich der Gleichgültigkeit hingeben. Keiner soll sich durch Verhärtung seines Herzens und wegen mangelnder Demut schuldig machen. Die in den Versen 8 bis 10 gerügten Mängel aus Israels Vergangenheit dürfen sich nicht wiederholen. Ein großer Teil des Volkes hat die dringende Warnung des Verses 8, ihre Herzen nicht zu verhärten, in der Vergangenheit unbeachtet gelassen, als sie die Heilsbotschaft Christi ablehnten und Ihn, ihren Messias, bei Seinem ersten Kommen auf diese Erde verwarfen. In der Zukunft wird es für Israel zum zweiten und zugleich letzten Mal ein „Heute“ (Vers 7) geben, wenn ihnen in der kommenden Drangsalszeit erneut Gelegenheit gegeben wird, mit dem Herzen zu dem HERRN umzukehren und Ihm entgegenzugehen (Vers 2), sich vor Ihm zu beugen und Ihn als ihren König und Gott anzuerkennen (Verse 6 und 7). Der Psalm kündigt an, dass Ihn dann Gottesfürchtige aus dem Volk mit Freuden erwarten und Ihn aufnehmen werden. Daraufhin wird sich zu ihrer Belohnung die in Vers 11 verheißene Ruhe einstellen, die das Volk in seiner bisherigen Geschichte sehr vermisst hat. Unter der kommenden Herrschaft Christi „wird das Werk der Gerechtigkeit Frieden sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit in Ewigkeit“ (Jes 32,17).

Die Aufforderung zum Frohlocken in Vers 1 kommt aus tiefstem Innern. Die Herzen sind zu Lob und Dank gestimmt, sie sind in Übereinstimmung mit Gott. Aus innerem Antrieb treten sie freudig und dankbar vor Ihn hin, den Felsen ihres Heils und ihrer Zuflucht (Ps 94,22). Mit Ergebenheit kommen sie ohne Furcht in Seine Nähe, statten Ihm Dank für Seine Güte ab und rühmen Seinen Namen „mit Psalmen“, das heißt mittels dessen, was die Heilige Schrift ihnen vorstellt als die geeignete, Gott gemäße Anbetung (Vers 2). Sie wissen, wie und womit sie in geistlicher Weise Ihm, dem Heiligen und Allmächtigen, entgegengehen und zujubeln können (Ps 100,2.4; Mich 6,6; Eph 5,19). Nicht einzeln und allein wollen sie anbetend zu Ihm kommen, sondern mit der Schar der übrigen aufrichtigen Frommen (Ps 34,4; 111,1; 119,63), die der Stimme Gottes bereitwillig gehorchen. Ermunternd rufen sie wiederholt einander zu: „Kommt!“ Den Anlass für ihr Vorhaben finden sie in der erhabenen Größe und Hoheit ihres HERRN und Gebieters, des allmächtigen Schöpfers dieser Erde mit all dem Wunderbaren, das der Anbeter an Ihm und in Seinen Werken sieht (Verse 3 bis 5; Ps 86,8; 93,4; 104,24.25; 1. Kor 8,6; Off 4,10.11). Das Universum ist Gottes Eigentum, das nach wie vor Seinem Willen unterworfen ist. Er bestimmt über dessen Ende, wie Er einst den Anfang des Geschaffenen gebot (Ps 33,9). Jedes mit Bewusstsein und Urteilsfähigkeit begabte Wesen ist gehalten, die naturbedingte Abhängigkeit als Geschöpf anzuerkennen und sich dem Schöpfer nicht nur zu unterwerfen, sondern auch sich dankbar vor Ihm niederzubeugen, weil Er das Ganze gemacht hat und es zu ihrem Wohl erhält (Vers 6). An dem Geschaffenen kann die unendliche Weisheit Gottes von jedem wahrgenommen werden. Dennoch lehnen die meisten Menschen es ab, Ihn dafür zu verehren. Umso mehr freut Sich der Schöpfer über die, die sich im Glauben anbetend vor Ihm niederbeugen. Gott will ein heiliges, Ihm ergebenes Volk als Seine Anbeter. Solchen offenbart Er Sich in der Herrlichkeit Seines Wesens. Wahre Christen erfreuen sich an dem „Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ (2. Kor 4,6). Diese Erkenntnis Gottes geht noch weit über das Herrliche hinaus, das in der Schöpfung zu bewundern ist.

Gott hat Freude daran, ein Volk von Gläubigen auf dieser Erde zu besitzen. In der Zukunft, nachdem das Gottesvolk der wahren Christen in den Himmel entrückt ist, werden die Gläubigen aus Israel das „Volk seiner Weide und die Herde seiner Hand“ bilden. Mit glücklichem Herzen werden sie dann bekennen: „Er ist unser Gott“ (Vers 7; Ps 48,15; 77,21; 79,13; Jes 40,11). In der Vergangenheit hat Israel als Gottes Herde wiederholt versagt und ist von Gott beiseitegestellt worden (Röm 11,8–10.19.25). Sie blieben Ihm nicht treu, verließen Sein Wort und verwarfen Seinen Sohn, den Herrn Jesus Christus. Ihre Untreue voraussehend, verweist der Geist Gottes bereits durch Mose mit bewegenden Worten auf die Ansprüche der HERRN: „Möchte doch dieses ihr Herz ihnen bleiben: mich allezeit zu fürchten und alle meine Gebote zu halten, damit es ihnen und ihren Kindern wohlergehe auf ewig!“ (5. Mo 5,29; 31,16f). Im gleichen Sinne wird hier die Warnung der Verse 7b bis 11 an sie gerichtet, beginnend mit der Mahnung: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht!“. Sie kennzeichneten sich als „ein Volk irrenden Herzens“, das die Wege Gottes nicht erkannt hat (Vers 10; Heb 3,7f). Zur Zeit der Apostel waren erneut Angehörige dieses Volkes in Gefahr, die Wege Gottes zu verkennen und mit dem Herzen irrezugehen (Apg 28,26–28). Deshalb wird im Brief an die Hebräer das Mahnwort des vorliegenden Psalms wiederholt und vor der Verhärtung des Herzens gewarnt. Es richtet sich dort aber an Juden, die durch Taufe und Bekenntnis auf den christlichen Boden getreten waren. Verstocktheit macht das Herz unempfindlich gegenüber dem Wort Gottes und den Wirkungen des Heiligen Geistes. Man verschließt sich der besseren, geistlichen Erkenntnis und folgt dem eigenen Willen und den Verführungen falscher Lehrer. Das Herz ist dann für die göttliche Wahrheit unzugänglich geworden, es ist sozusagen verriegelt.

Das uneinsichtige Verhalten fordert Gott heraus und stellt Seine Geduld so sehr auf die Probe, wie es durch Israel „am Tag von Massa in der Wüste“ und in Meriba geschah (Vers 8; 2. Mo 17,7; 5. Mo 6,16). Die herrlichen Wunderwerke Gottes, die Israel in Ägypten und in der Wüste gesehen hatte, haben nicht bewirken können, dass ihr Glaube aufrechterhalten blieb (Vers 9; Ps 78,8.18.20.42f; 81,7–9; 5. Mo 11,2–7). Schon der Verstand hätte sie damals eines Besseren belehren müssen (Vers 8). Aber menschliche Vernunft kann einen Mangel an Glauben und Achtung vor Gott nicht ersetzen. Weil sie vom Unglauben beherrscht waren, haben sie damals Ihn und Seine Wege verkannt. Während der vierzig Jahre der Wüstenreise Israels hatte der HERR wegen der fortwährenden Verfehlungen Ekel an ihnen (Vers 10). Trotz Seiner wunderbaren Fürsorge misstrauten sie Ihm. Hartnäckig hielten sie als Volk an ihren eigenen Wegen fest. Gottes Wege, den Sinn Seiner Führungen und Vorschriften, nahmen sie nicht in ihr Herz auf, obwohl Seine Geduld ihnen eine vierzig Jahre währende Probezeit zugestanden hatte (4. Mo 14,1–3.21–23). Unterdessen ließ Er ihren Ungehorsam nicht ungestraft. Wer sich Ihm widersetzt hatte, fand den Tod in der Wüste, ohne die Ruhe Gottes im Land Kanaan zu erreichen (Vers 11). Ihr Beispiel zeigt, wie verhängnisvoll fortgesetzter Widerstand gegen das göttliche Gebot für den ist, der um den Weg Gottes weiß, Seinen Willen kennt und dennoch selbst gewählte Wege geht. Das Neue Testament greift wiederholt Ereignisse aus der Geschichte Israels auf und wendet sie mahnend auf die heutige Zeit des Christentums an, „damit nicht jemand nach demselben Beispiel des Ungehorsams falle“ (Heb 4,11). Die Warnungen des Neuen Testaments vor dem Unglauben und dem Ungehorsam und vor der Verhärtung des Herzens sind nicht zu überhören (Heb 3,12–19). Es hat schwerwiegenden Schaden zur Folge, wenn die vorhandene Zeit und Gelegenheit nicht genutzt wird, den Aufruf ernst zu nehmen: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht“ (Heb 3,7).

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