Kein anderer Psalm berichtet von einem solchen Ringen angesichts völliger Aussichtlosigkeit und der Todesnot wie der vorliegende Psalm. Fast alle Verse befassen sich mit dem Schrecken des Todes, dem sich der Psalmdichter hilflos ausgeliefert sieht. Vor Gott breitet er die Todesängste, die ihn befallen haben, freimütig aus. Gott ist der Einzige, dem er die Leiden seiner Seele zu jeder Tages- und Nachtzeit vortragen kann, nachdem alle seine Bekannten, Freunde und Genossen als Helfer und Tröstende versagt haben. Seine Umgebung, vielleicht auch Ärzte, haben ihn aufgegeben. Seine körperlichen und seelischen Kräfte sind erschöpft. Nach aller menschlichen Erfahrung ist er ein hoffnungsloser Fall. Aber die Kraft zum Gebet besitzt er noch. Wie ein Versinkender klammert er sich an den HERRN, den Gott des Heils und der Rettung (Vers 2). Seine Lage ist derart verzweifelt, dass nur noch Gott helfen kann, denn Er allein gebietet über den Tod. Nur Gott weiß um das, was nach dem Tod kommt. Über das Sterben kann keinerlei menschliche Erfahrung berichten. Daher schreit der Psalmdichter immerfort zu Gott mit der Bitte um Gehör. Seine Umgebung ist längst seines Schreiens überdrüssig, vom Tod mag man nichts hören. Das Maß des körperlichen und seelischen Leidens ist so voll, dass dem nichts mehr hinzugefügt werden kann; er ist bis „an die Pforten des Todes“ gekommen (Verse 3 und 4; Ps 107,18; 143,7; Jes 38,10f; Klgl 3,15–19). Nach seinem Empfinden und nach dem Urteil seiner Umgebung war er schon zum Reich der Gestorbenen zu zählen. Ohne die geringste Aussicht auf Befreiung unter Toten und Erschlagenen begraben zu sein und dies mit noch wachem Sinn wahrzunehmen, ist das denkbar Schrecklichste, es ist dunkelste Finsternis (Verse 5 bis 7; Ps 31,13; Klgl 3,53–56). Dennoch greift er Gott nicht vor, er fordert Ihn nicht auf, ihn sterben zu lassen. Er weiß, dass Gott es ist, der ihn „in die tiefste Grube gelegt hat, in Finsternisse, in Tiefen“, aber er gibt sich nicht dem Gedanken hin, dass er gar von Gottes Händen abgeschnitten oder von Ihm verworfen sei. Offensichtlich weiß er sich immer noch in Gottes Hand und unter Seinem aufmerksamen Auge. Das genügt seinem Glauben, so dass er die Kraft zum Weiterbeten findet. „So trat der Tod Christus in Gethsemane entgegen, obwohl Er nicht alles zum Ausdruck gebracht hätte, was in diesem Psalm steht“ (Darby).
Der Dichter beklagt in Vers 8, dass Gottes Grimm schwer auf ihm liegt. In Vers 17 fügt er hinzu: „Deine Zorngluten sind über mich hingegangen“. Das Wohlwollen Gottes, dessen er sich vorher offenbar erfreut hatte, hat sich anscheinend von ihm abgewandt. Seine Empfindung ist, dass sich Gottes Handeln ihm gegenüber völlig verändert hat. Gerne und dankbar hatte er das Gute von dem ‚Gott seines Heils' entgegengenommen. Doch jetzt kann er nicht mehr von Gottes Güte reden; es geschieht ihm immerzu nur das Schlimmste. Das schreibt er nicht dem Zufall zu, auch nicht Feinden oder unzureichender oder fehlerhafter Hilfeleistung, sondern bleibt bei der Feststellung, dass Gottes Hand ihm dies auferlegt und die niederdrückenden Wellen gesandt hat (Ps 42,8; Jona 2,3.4). Er hält sich davon zurück, Gott etwas vorzuwerfen oder das ihm zugemessene Leiden als ungerechtfertigt zu beanstanden. Übrigens ist in diesem Psalm von Sünde und Schuld keine Rede, auch nicht von Belastungen des Gewissens, die ein Bekenntnis notwendig machen würden. Der drohende Tod wird hier nicht als Folge der Sünde dargestellt, sondern als der Gipfel und Schlusspunkt des Leidens. Zudem ist festzuhalten, dass Gott in allen Entscheidungen souverän und zugleich gerecht ist. Der Psalmdichter erkennt dies an trotz des Unergründlichen und Niederdrückenden seines Leidens. Der Psalm lehrt, dass wir uns unter den Willen Gottes beugen müssen und Ihm nichts Ungereimtes zuschreiben dürfen.
In den Versen 9 und 10 legt der Psalmdichter seinem Gott vor, was ihn seitens seiner nächsten Umgebung besonders schwer bedrückte. Sogar von engsten Vertrauten sah er sich allein gelassen. Ihm erging es wie Hiob: „Meine Brüder hat er von mir entfernt, und meine Bekannten sind mir ganz entfremdet. Meine Verwandten bleiben aus, und meine Vertrauten haben mich vergessen“ (Hiob 19,13–15; Ps 38,12). Auch im Leben Hiobs sind keine Verfehlungen auszumachen, die nach menschlichem Gerechtigkeitssinn seine schweren Leiden hätten begründen können. Nachdem sich alle von ihm losgesagt und entfernt hatten, fühlte sich der Psalmdichter, wie auch einst Hiob, völlig verlassen gleich einem, der eingekerkert ist. Seine Bekannten gingen offenbar wie gewohnt ihren Beschäftigungen nach, ohne gemeinsam mit ihm zu leiden. Es war ihnen schon abstoßend, wenn sie sich an ihn erinnerten. Doch er schimpft nicht über seine treulosen Freunde. Er selbst hatte keine Hoffnung mehr, aus seinem Elend herauszukommen. Aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Er, der ihm die schweren Prüfungen geschickt hatte, vermochte sie ebenso gut zu beendigen. Er ließ sich auch nicht durch Verbitterung davon abhalten, jeden Tag zum HERRN zu rufen und zu Ihm seine Hände auszubreiten. Dazu gab Gott ihm den nötigen Glauben und dazu das Ausharren. Als einziger Umgang war ihm der HERR übriggeblieben, und das bedeutete ihm sehr viel (Vers 10; Ps 6,3–8; 143,4–7; Jes 38,13f).
In den Versen 11 bis 13 stellt der Leidende dem HERRN mehrere Fragen, die ihn im Innersten bewegten. Er fragte nicht nach Begründungen für sein Leiden, er forschte auch nicht nach der Ursache dafür, dass der HERR nicht eingriff und ihn von den Leiden und der Todesangst befreite. Seine Fragen befassen sich mehr mit dem Sinn des Lebens und dem Sinnlosen des Todes. Nach seinem Abscheiden würde Sich Gott jedenfalls nicht mehr durch Güte an ihm bezeugen können. Jetzt aber konnte Gott ihm noch durch ein Wunder helfen, und dafür würde er Seine Güte preisen. War das denn nicht die eigentliche Aufgabe der Frommen? Waren die Gläubigen nicht gerade dazu erwählt? Wurden sie nicht deswegen von Gott am Leben erhalten? Ein Zeuge von der Güte und Macht Gottes konnte der Psalmdichter jedenfalls nur als Lebender sein, nicht aber im Grab (Ps 6,6; 30,10; 115,17; Jes 38,18). In seiner wenig geistlichen Umgebung hätte er als Geretteter ein lebendiger Zeuge werden können von der Macht des Gottes, der Wunder zur Heilung zu tun vermag. Doch die Entscheidung sowohl über sein Leben und seine Aufgaben als auch über sein Sterben und Verstummen überließ er Gott.
In den abschließenden Versen 14 bis 19 wendet sich der Psalmdichter nochmals mit aller ihm verbliebenen Kraft betend an den HERRN und schreit in seiner Not um Hilfe. Er vergleicht seinen Lebenslauf mit dem anderer Menschen. Warum wurde seine Seele unter vielen anderen vom HERRN verworfen? Warum verbarg Er sein Angesicht gerade vor ihm? (Hiob 13,24; Jona 2,5). Was hatte er daraus zu lernen, dass er sein Geschick schon von seiner Jugend an zu tragen hatte, während andere sich des Wohlergehens erfreuten? Welche Ziele verfolgte Gott mit ihm, da er fortwährend vor neuem Schrecklichen stand und immerfort mit weiteren Schwierigkeiten zu ringen hatte, die seine Kräfte erschöpften und ihn verwirrten? Er empfand die vielfältigen Züchtigungen als Zorngluten. Wenn er sich auch nicht dagegen auflehnte, so zehrten sie doch Körper und Seele aus und würden ihn zuletzt vernichten (Vers 17). Die Menschen seiner nächsten Umgebung wandten sich von ihm ab. Was hingegen ständig auf ihn zukam, waren nur immer neue furchtbare Nöte. Klagend beschreibt er sein abschreckendes Schicksal, das keinerlei Aussicht auf Entlastung oder wenigstens etwas Erleichterung übrigließ. In ähnlicher Lage sagte Hiob: „O dass mein Kummer doch gewogen würde und man mein Missgeschick auf die Waagschale legte allzumal! Denn dann würde es schwerer sein als der Sand der Meere“ (Hiob 6,2.3; 30,15). Aber auch Mitmenschen und selbst Mitgläubige sind versucht, in unbesonnener Art über das Leiden anderer zu befinden. Bedenkenlos urteilen sie über die Person des Geprüften und bereiten dem Betroffenen zusätzlichen Kummer. Lieblosigkeit und hochmütiger Richtgeist kennzeichnen den, der sich auf die Suche nach möglichen Verfehlungen des Leidenden macht.
J.G. Bellet schreibt zu diesem Psalm: „Wir vernehmen in diesem Psalm einen der Schreie, die von dem Sohn aus Hebräer 5,7 geäußert werden und sich an den richten, „der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte“. Den Zeitpunkt können wir zwischen seiner Festnahme im Garten Gethsemane und dem Kreuz einordnen. Es war die Zeit, als ihn alle verlassen hatten und er nicht „herauskommen“ konnte (V. 9.18.19). Das Todesurteil stand unmittelbar vor ihm, obwohl er sein ganzes Leben praktisch „von seiner Jugend an verschieden war“ (V. 16), bzw. täglich starb, wie es der Apostel ausdrückt (1. Kor 15,31). Doch es war ganz besonders diese Periode, in welcher er „unter den Toten hingestreckt“ wurde. In den anschließenden drei Stunden der Finsternis, die mit der Gabe seines Blutes, bzw. Lebens endeten, ertrug er dann das Gericht über die Sünde durch die zermalmende Hand eines gerechten Gottes. Wir können beobachten, dass die Leiden während seines Lebens von den Menschen kamen, weil er gerecht war. Als er jedoch zur Sünde für uns gemacht wurde, erfuhr er die ganze Schwere des Gerichts von Gottes Seite. Während der drei Stunden der Finsternis litt er an einem Ort, der durch keinen freundlichen Strahl göttlicher Liebe erhellt wurde, weil die Sünde die Szene beherrschte. Das Opfer, das für uns zur Sünde gemacht wurde, und Gott konnten sich nur zurückziehen, um die Frage der Sünde allein zu klären.
Jesus fleht hier um seine Befreiung vom Tod (vgl. Ps 6,6; 30,10; 115,17), weil die Toten Gott nicht preisen können und das Grab seine Güte nicht erzählen kann. Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen.“