Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 84
Alle Lebenden brauchen einen guten Aufenthaltsort zum Wohnen und Ausruhen, wo sie sich wohlfühlen und entwickeln können. Vers 4 verdeutlicht dies am Beispiel des Sperlings und der Schwalbe, die das flinke Umherflattern lieben und gleichwohl ein Nest zum Wohnen haben müssen. Dort finden sie Schutz, Geborgenheit und die nötige Ruhe, und dorthin kehren sie immer wieder zurück, um neue Kraft zu sammeln. Als Eigentum besitzen sie gar nichts außer dem Nest als Wohnplatz. Dem Menschen gibt die eigene Wohnung das angenehme Gefühl, eine Heimat zu besitzen. Andere, im gleichen Gebiet Wohnende, teilen mit ihnen diese Heimat, sie gehört zur menschlichen Identität. Ähnlich der Tierwelt verstehen sich die Leute als dorthin gehörig und werden von anderen entsprechend eingeordnet. Wer keine Wohnung hat, dem fehlt die Heimat. Er ist ein unsteter Obdachloser, der nirgends zur Ruhe kommt. Das Heimatgefühl wird im vorliegenden Psalm auf die Gottesfürchtigen angewendet. Denn für ihr geistliches Leben brauchen sie notwendig einen Ruheplatz, wohin sie sich zurückziehen können, um mit Gott Gemeinschaft zu haben. Gemeinsam mit Gleichgesinnten verwirklichen sie dies unter anderem bei den Gottesdiensten. Doch darüber hinaus ist den Gläubigen der Gnadenzeit von dem Herrn eine Wohnstätte im Himmel bereitet, sie ist ihre ewige und endgültige Heimat (Joh 14,3; Heb 11,10). Dorthin zieht es die gläubigen Christen aus einer unruhigen Welt, die nicht ihre geistliche Heimat, sondern ein vorübergehender Aufenthalt in fremdem Land ist. Wie ihr Herr und Heiland sind auch sie nicht von dieser Welt (Joh 17,16). Darum sehnen sie sich nach der Heimat droben, und dort möchten sie für immer wohnen. Sowohl ihr Herz als auch ihr Fleisch „rufen laut nach dem lebendigen Gott“ (Vers 3; Phil 1,21–23; 3,20.21). Es gibt für den Gläubigen nichts Besseres und Schöneres als die Wohnungen Gottes (Vers 2; Ps 26,8; 27,4; 42,3; 73,26).
Buchstäblich handelt es sich hier um den Ausruf von gläubigen Juden, die noch getrennt vom Tempel, dem Ort ihres Gottesdienstes und dem Wohnort Gottes auf der Erde sind. In dem Tempel zu Jerusalem besaß das Volk Israel bereits ein Haus Gottes auf der Erde, es war der heilige Wohnort des HERRN unter ihnen. Nach göttlicher Anordnung war dies der Platz der Anbetung und des Lobes. Er bedeutete Gottes Gegenwart und die Nähe Seiner heiligen Altäre und Seiner Herrschaft (Vers 4b). Es war ein heiliger Ort wie kein anderer auf der Erde. Dort empfand man die Nähe Gottes. Auf diese Weise die Verbindung und die Gemeinschaft mit ihm zu erleben, war Gnade und Glückseligkeit für die Gottesfürchtigen aus Israel (Vers 5; Ps 5,8; 65,5; 92,14). Eine echte geistliche Gemeinschaft mit denen, die sich in gleicher gottesfürchtiger Gesinnung versammelten, wurde angesichts der Altäre Gottes am deutlichsten erlebt, denn dort offenbarte Er Sich (3. Mo 9,22–24; 2. Chr 7,1–3).
Schon für die Gläubigen des Alten Testaments erschöpfte sich das Verlangen nach Gott nicht im Betrachten des Opferdienstes und der inneren und äußeren Ausstattung der Stiftshütte oder später der Tempelgebäude. Dass die gottesfürchtigen Juden die Gemeinschaft mit Gott und Seine Nähe wirklich wertschätzten, wurde sehr deutlich, als ihnen nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems alles Sichtbare ihres Gottesdienstes weggenommen war. Denn ungeachtet des großen Verlustes an äußeren Dingen blieb ihnen der lebendige Glaube an den HERRN und das Verlangen, in Seiner Nähe zu sein, auch in fremdem Land ohne Tempel erhalten. Die ‚Klagelieder' belegen eindrücklich, dass die Glückseligkeit ihres Glaubens nicht auf dem Besitz sichtbarer Gebräuche und Opferstätten beruhte, sondern auf der Kraft, die von der Gemeinschaft mit Gott ausgeht.
Auch zur Zeit der Psalmdichter hatte die Stärke und die Glückseligkeit gottesfürchtiger Herzen ihre Quelle in Gott (Vers 6; Ps 23,4; 27,1–5). Durch widerwärtige Lebensumstände auf die Probe gestellt, erweist die im Glauben erlebte Nähe zum HERRN ihre Überlegenheit gegenüber allen anderen Quellen. Der Gläubige tut gut daran, bewusst in der Gemeinschaft mit dem Herrn zu verharren. Ein belastetes Gewissen stört die Gemeinschaft oder verhindert sie sogar. Stimmt der Gläubige in seinem Herzen mit dem Herrn überein, dann ist geistliche Kraft vorhanden. Gerade in einem „Tränental“ (Vers 7) vertraut der Gläubige auf Gott und findet Ruhe für sein Herz (Jes 58,11). Der Weg beständiger Gemeinschaft mit dem Herrn führt trotz schwieriger Wegabschnitte zum Ziel, er leitet unfehlbar zur Heimat bei Ihm (Spr 15,24). Mit Mühe zu ersteigende Höhen und beschwerlich zu durchschreitende Tiefen verhindern nicht das Erreichen des Endziels (Phil 3,13.14). Betreffs der äußeren Umstände kann das Tränental herbe Verluste bringen, aber für das Himmlische, für das Festhalten an Ihm und für die Stärkung des Glaubens bedeutet die Notlage Gewinn. Unwichtige Dinge und wertlose Beschäftigungen treten zurück. Stattdessen rücken die Liebe des Herrn und das Ewige in den Vordergrund. Die Gedanken richten sich vermehrt auf Ihn. Sie gelten weniger dem, was in der Jetztzeit begehrenswert erscheint. So wird die Durststrecke der Prüfungen und Entbehrungen zu einem segensreichen Quellengebiet (Vers 7).
In diesem Psalm erbittet der Gläubige für jeden neuen Tag Gnade und Kraft aus dem Himmel, weil er sich darauf angewiesen sieht. Ermutigungen, die allen Belastungen standhalten, sind nur bei dem Herrn zu finden (Verse 8 und 9). Seine Hilfe ist für das geistliche Leben unentbehrlich, denn es „lebt von allem, was aus dem Mund des HERRN hervorgeht“ (5. Mo 8,3). Es geht darum, unter Seinem Wort, unter Seiner Gnade und unter Seinen Augen zu leben. „In uns ist keine Kraft..., auf dich sind unsere Augen gerichtet“, so betete einst Josaphat (2. Chr 20,12) und bewies damit seine Abhängigkeit von dem HERRN. Daraufhin fand er Gnade zur rechtzeitigen Hilfe. Josaphat ging „von Kraft zu Kraft“, und Gott war ihm ein schützender Schild wie einst Abraham (Verse 8 bis 10; 1. Mo 15,1; Ps 32,7; Spr 4,18; Jes 40,30f). Gott überhäuft uns nicht mit Kraft, sondern gibt täglich das Erforderliche, wie in vergangener Zeit dem Volk Israel, als es die Wüste durchwanderte. Bei alledem bleibt es wichtig, in täglicher Abhängigkeit von Ihm zu leben. Dies schützt vor Entmutigung. Einem Glaubensleben wird die Stabilität und Kraft zum Handeln nicht fehlen. Statt Ratlosigkeit und Bestürztheit finden sich gebahnte Wege in Herz und Sinn; auch der nötige Mut für den weiteren Weg ist dann vorhanden. Vers 10 enthält die Bitte: „Schau an das Angesicht deines Gesalbten!“ In Jesus Christus, dem Gesalbten, ist der Glaubende vor Gott angenehm gemacht. Nur in dem Wert des stellvertretenden Opfers Christi können wir vor Gottes Augen bestehen und Gnade finden. Blickt Sein prüfendes Auge auf unsere Praxis, dann werden sich sicherlich manche Mängel vorfinden, die wir Ihm zu bekennen haben.
Vers 11 empfiehlt die Nähe bei Gott als geschützten Aufenthaltsort für den Geist und die Seele der Frommen, die in der gottlosen Umgebung dieser Welt leben müssen. Und der Gottesfürchtige findet jederzeit Zuflucht bei seinem Gott. Die Liebe zum Herrn wird ihn ohnehin in der Nähe des Hauses Gottes halten. Dies wird mit dem Anschauen Seiner Herrlichkeit belohnt werden. Der Gottesfürchtige wird Gott vermehrt erkennen, er wird Seine Liebe und Seinen Frieden genießen und geistliche Dinge ins Herz aufnehmen, die „kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen sind, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“ (1. Kor 2,9; Jes 64,3). Wahrer Glaube führt in die Nähe Gottes ins Heiligtum. Der Unglaube dagegen zieht von Gott weg und verführt zur Lust, zur Selbstgefälligkeit, zur Auflehnung und zu allerhand anderen Sünden. Der feste Glaube bringt Glückseligkeit in der Gemeinschaft mit Gott und mit anderen Gläubigen. Dem gegenüber führt der Unglaube in die ‚Zelte der Gottlosigkeit' (Vers 11b). Diese beiden Wege schließen einander aus, sie sind einander entgegengesetzt. Wer einen Mittelweg beschreiten will, um beiden Seiten zu genügen, befindet sich auf einem Irrweg. Im Verlauf seines Lebens wird fortschreitend sichtbar werden, wo das Herz seine Heimat in Wirklichkeit gesucht und gefunden hat. Niemand kann gleichzeitig im Haus Gottes und im Zelt der Gottlosen sein. Die Wahl trifft der Mensch in seinem Innern, wenn er bei sich selbst sagt: „Ich will lieber...“ (Vers 11). Die Gottesfürchtigen finden ihr Glück und den Sinn ihres Lebens in der Nähe Gottes bei der Quelle des Lebens (Ps 36,10). Die Gottlosen hingegen suchen ihre Befriedigung in dem „zeitlichen Genuss der Sünde“, in den betrügerischen Begierden der Menschen (Eph 4,22; Heb 11,25; 1. Pet 4,2.3).
Angesichts des verfehlten Lebens und des ewigen Verderbens der Gottlosen stellen sich die herrlichen Gnadengeschenke Gottes in besonders hellem Licht dar. Seine Güte sichert denen, die an Ihm und Seinem Wort festhalten, dauerhaftes Glück in Seiner heiligen Wohnung zu. „Sie werden reichlich trinken von der Fettigkeit deines Hauses, und mit dem Strom deiner Wonnen wirst du sie tränken“ (Ps 36,9). Durch Glauben sind sie überzeugt: „Ich werde wohnen im Haus des HERRN auf immerdar“ (Ps 23,6). Er Selbst ist ihr höchstes Gut. Seinen Reichtum an Gutem und Wertvollem lässt Er ihnen zukommen; das macht sie unendlich glücklich (Vers 12; Ps 3,4; Röm 8,30). So hoch bewertet und belohnt Gott den Glauben derer, die Ihm folgen und in Lauterkeit wandeln. Die unübertreffliche Gnade des Wohnens in der Gegenwart Gottes hebt der Psalmist hervor mit den Worten: „Ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser als sonst tausend“ (Vers 11), und: „HERR der Heerscharen, glückselig der Mensch, der auf dich vertraut!“ (Vers 13). „Mit andern Worten: ein Augenblick im Genuss der Gemeinschaft mit dem Herrn ist besser als alle die Güter, welche die Welt uns anzubieten vermag“ (Grobéty).