Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 79
Gleich zu Anfang stellt der Psalmdichter sein Hauptanliegen vor. Die Nationen, die Völker, die Gott nicht kennen, hatten die heilige Stadt und den Tempel so völlig zerstört, dass kein Gottesdienst mehr möglich war (Vers 1). Dem stand entgegen, dass Israel seit jeher und auch für die Zukunft zum Lob Gottes berufen worden war und den vorgeschriebenen Gottesdienst ausüben sollte. Die Gottesfürchtigen unter ihnen wollten ihrer Berufung gerne entsprechen und dieses Vorrecht wahrnehmen, so auch zur Zeit des Psalmdichters. Es ging ihnen um die Verherrlichung Gottes. Das Ziel ihrer Bitten in den Versen 9 bis 13 ist, dass es ihnen durch Besserung der äußeren Umstände wieder ermöglicht würde, am Gottesdienst teilzunehmen. Die feindlichen Völker, die ihnen Schreckliches angetan hatten, waren nicht nur die Gegner Israels, sondern auch die Feinde Gottes; sie waren ohne die geringste Scheu in das Erbteil des HERRN eingedrungen und hatten darin respektlos auch das Heiligtum verunreinigt und zertrümmert, was kein Fremder betreten durfte, da es der Ort der Gegenwart Gottes war (Vers 1; 2. Kön 25,9; Jer 52,12.13; Klgl 1,10; Mich 3,12). Diese angeführten Stellen beziehen sich auf das von Gott angekündigte Gericht über Jerusalem und den Tempel wegen der Sünden des Volkes! Da der HERR Israel als Sein Eigentumsvolk aus allen Völkern erwählt hatte, war Sein Ruf und Sein Ansehen unter den umliegenden Nationen mit dem Schicksal Israels verbunden. Auf die unverändert fortbestehende Beziehung zu Ihm stützten sich gottesfürchtige Juden im Glauben und hofften auf die Wiederherstellung Seiner Ehre (Vers 12). Wenn Gott Sich nun vor den Augen der Nachbarvölker ihrer Sache annehmen sollte, dann konnte es nicht anders sein, als dass ihre Gemeinschaft mit Ihm echt und ihre Liebe zu Ihm wahrhaftig war, und nicht minder ihre Gottesfurcht. Sein Einschreiten setzte voraus, dass sie sich treu und entschieden an Sein Wort hielten. Da alles in Trümmern lag, was sie besessen hatten und ihnen wertvoll gewesen war, konnte es ihnen nicht schwer werden, ihr Augenmerk nun ganz auf Ihn zu richten.
In Vers 2 nennen die Gottesfürchtigen aus Israel sich selbst „deine Knechte“ und „deine Frommen“, und im letzten Vers des Psalms bezeichnen sie sich als „dein Volk und die Herde deiner Weide“. Diese einerseits demütige, andererseits aber gehobene Stellung in Seiner Nähe nahmen sie im Glauben an Sein Wort bewusst für sich in Anspruch. Offenbar wussten sie sich von dem Herrn abhängig. Unmöglich konnten sie Ihm gleichgültig sein. Das traf auch zu im Hinblick auf „die Leichen deiner Knechte“, ihrer Mitbrüder (Vers 2). Denn „kostbar ist in den Augen des HERRN der Tod seiner Frommen“ (Ps 116,15). Dies blieb bestehen, obwohl ihre augenblicklichen Umstände dieser Zusicherung zu widersprechen schienen. Die große Zahl der Erschlagenen hatte es unmöglich gemacht, sie rechtzeitig zu begraben, so dass sie den Vögeln und wilden Tieren zur Speise geworden waren. Ihr Blut war wie Wasser zur Erde geflossen (Vers 3; Klgl 2,15.21; vgl. Lk 19,43f). Grausame Feinde waren erbarmungslos über sie hergefallen und hatten ein schreckliches Blutbad angerichtet. Darüber hinaus hatte die Entweihung des Tempels die Gottesfürchtigen innerlich zutiefst getroffen. Mehrere der in dieser Auslegung als Parallelen angeführten Schriftstellen zeigen, dass die beschriebenen Grausamkeiten sich in zukünftiger Zeit nochmals wiederholen werden. Darüber hinaus haben inzwischen auch Christen Vergleichbares erleben müssen. Für Israel und Juda, deren Geschicke dem Psalmdichter damals vor Augen standen, war das Erlebte eine Schande und eine Schmach. Offenbar hatten die Nachbarvölker ihr furchtbares Los zum Anlass genommen, sie zu verhöhnen (Vers 4; Ps 44,14.15 und Ps 80,7). Die umliegenden Nationen mussten den Eindruck haben, dass Israels Gott keine Macht hatte oder keine Neigung zeigte, sich Israels anzunehmen.
Der Psalmdichter hielt es durchaus für möglich, dass Israels Vergehungen den Zorn Gottes hervorgerufen hatten (Vers 5; Jes 65,7; Klgl 5,7). In Vers 8 erwähnt er „Ungerechtigkeiten der Vorfahren“ und in Vers 9 Sünden, die sie als Volk begangen hatten. Die Züchtigung, die sie so schwer getroffen hatte, war offensichtlich eine Folge dieser Vergehungen. Nun seufzten sie darunter und sehnten das Ende der Not herbei. Auf Barmherzigkeit durften sie hoffen, denn die Heilige Schrift hielt auch für sie die Zusage bereit: „Er wird es sich gereuen lassen über seine Knechte, wenn er sehen wird, dass geschwunden die Kraft, und der Gebundene und der Freie dahin sind“ (5. Mo 32,36). In der Tat waren ihre Städte und Wohnungen verwüstet, und ihr heiliges und herrliches Gotteshaus war mit Feuer verbrannt. Sie empfanden es als hart, dass sie offenbar auch noch unter den Missetaten der Väter leiden sollten (Verse 7 und 8; Jes 64,8–11). Gleichwohl demütigten sie sich unter diese Belastungen und bekannten sich zu der Schuld ihres Volkes mit allen Folgen: „Sehr gering sind wir geworden!“ (Verse 8 und 9). Rettung war nur bei Gott zu finden. Er hatte Sich immer wieder zum Vergeben bereit gezeigt, wenn Demütigung und ein aufrichtiges Bekenntnis vorlagen. Auf Seine Barmherzigkeit vertrauend, durften sie sich die Frage erlauben: „Bis wann, HERR?“. Viele Leidgeprüfte haben bis heute in der Hoffnung auf Seine Hilfe die gleiche Frage gestellt (Vers 5; Ps 74,10f; 89,47; Off 6,10). Psalm 74 ist offensichtlich anlässlich einer ähnlich bedrückenden Lage verfasst worden.
Der Psalmdichter erbittet in Vers 6, dass sich der göttliche Grimm von ihnen abwenden möge zu den Nationen hin, die Ihn nicht anriefen und nicht kannten (Jer 10,24.25). Nach menschlichem Urteil wäre eine solche Verteilung der Strafe gerechter und verständlicher gewesen (2. Thes 1,8). Doch Gottes Volk hat auf seinem Weg durch viele Trübsale zu gehen, „damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden“ (Heb 12,10f; Apg 14,22). Es bestand kein Zweifel, dass sie unfähig waren, sich selbst zu helfen. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. In ihren trostlosen Umständen fehlte ihnen die Wohnung Gottes sehr. Aus ihrer Notlage heraus riefen sie deshalb Gott um Hilfe an und erbaten Sein Einschreiten um Seiner Herrlichkeit willen. Aber dann durfte auf ihrer Seite nichts vorhanden sein, was ihr Gewissen belastete. Darum bekannten sie ihre Sünden und baten Ihn um Vergebung (Vers 9). Bezüglich der Erhörung waren sie indessen ganz auf Seine Gnade angewiesen. Wenn Gott zu ihren Gunsten eingriff, dann konnte dies nur unter Wahrung der Ehre und der Heiligkeit Seines Namens geschehen (Vers 9b; Hes 20,44). Ihre Feinde, die Nationen, hatten mit spöttischem Unterton gefragt: „Wo ist ihr Gott?“ (Vers 10; Ps 42,4.10; 115,2f; Joel 2,17). Eine derart herausfordernde Frage würde sich mit Sicherheit niemand mehr erlauben, wenn sich die vergeltende Gerechtigkeit Gottes vor aller Augen offenbarte und das vergossene Blut Seiner Knechte gerächt wurde (Vers 10; 5. Mo 32,43).
Gottes Mitleid mit denen, die in die Gefangenschaft weggeführt worden waren, konnte ein weiterer Beweggrund für Sein baldiges Einschreiten werden. Bezüglich der Datierung des Psalms könnte die Bitte für die Gefangenen ein Hinweis auf die Wegführung der Juden in das Exil nach Babel sein. Aber auch die Übrigen, die in ihrem Land zurückgeblieben waren, schienen Kinder des Todes zu sein, deren einzige Hoffnung auf Rettung der mächtige Arm des HERRN war (Vers 11; Ps 102,20.21; Jes 42,7). Als Volk gesehen, waren sie sowohl hier wie dort der Willkür der Feinde ausgeliefert. Doch der HERR der Heerscharen hatte durch Jesaja prophezeit, dass Er „einen kleinen Überrest lassen“ wollte (Jes 1,9). Mit der Bitte: „Lass übrig bleiben die Kinder des Todes“ bewegten sich die Gedanken des Psalmdichters daher auf der Linie des göttlichen Ratschlusses. Ein wichtiger Anlass für Gottes Eingreifen war auch durch den Hohn der Nachbarvölker gegeben, der auch dem HERRN gegolten hatte und Ihm gegenüber Geringschätzung zum Ausdruck brachte (Vers 12; Ps 74,18; 94,1–4; Jes 37,23; Jer 50,17–20). Nur ein strenges Strafgericht würde in gerechter Weise Gottes Ehre wahren. Nicht Rachegelüste waren das eigentliche Anliegen des Psalmdichters und der Gottesfürchtigen in Israel, sondern dass Gott verherrlicht wurde und dass sie durch Sein Eintreten zu ihren Gunsten als Sein Volk bestätigt wurden (Vers 13). Sie freuten sich darüber, dass sie Sein Eigentum und die Herde Seiner Weide waren und für immer dazu ausersehen waren, Ihn zu preisen und Sein Lob zu erzählen (Jes 43,21). Diese Hoffnung war entscheidend; sie gab ihrem Dasein den nachhaltigen, tieferen Sinn, dessen Wert die schwere Last ihrer Leiden unendlich überstieg.