Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 74
Das Volk Israel wird gleich zu Beginn als eine von Gott verworfene Herde geschildert. Das äußert sich unter anderem darin, dass das Heiligtum und „alle Versammlungsstätten Gottes im Land“ zerstört sind (Verse 3 bis 8). Obwohl der Psalm von Asaph geschrieben wurde, der zur Zeit Davids lebte, weist sein Inhalt doch deutlich auf eine viel spätere Zeit hin. Anstelle der wunderbaren Gegenwart Gottes halten sich brüllende Feinde mitten in der einst geheiligten Versammlungsstätte auf. Wo früher niemand außer den geweihten Priestern Zutritt hatte, benehmen sich Fremde, den Namen Gottes verachtend, wie alles verwüstende Barbaren. Was sie dort vorfinden, brennen sie nieder und zerschlagen es. Den öffentlichen Gottesdienst gibt es nicht mehr. Von dem, was ehemals die Wohnung Gottes war, ist außer einem Schutthaufen nichts übriggeblieben; der Ort ist entweiht und entheiligt. Als Volk sahen sich die Juden einem nicht minder verheerenden Schicksal unterworfen; sie sind elend und arm, von Feinden niedergeworfen und deren Gewalttat ausgeliefert. Trotzdem hält offenbar eine größere Zahl von getreuen Gottesfürchtigen den Glauben an Israels Bundesgott fest, obgleich sie von Ihm vergessen zu sein scheinen und in ihrem Unglück den äußeren Schutz als irdisches Gottesvolk nicht mehr genießen.
Angesichts dieser Sachlage erinnert der Psalmdichter daran, dass sie aufgrund Seiner Verheißungen immer noch Seine erlöste Herde und Gemeinde, Sein Eigentumsvolk und Erbteil sind (Verse 1 und 2; Röm 11,29) und dass Er ihr König und Erlöser ist (Vers 12ff). Die Feinde, die das Unheil über sie gebracht haben, sind doch in Wirklichkeit auch Seine direkten Widersacher, die als Gefolgsleute Satans die Pläne Gottes durchkreuzen wollen. Außerdem sind sie Verächter Seines Namens und des Heiligtums, das nach Seinem Willen einst zu Seiner Ehre erbaut worden war. Zur Zeit des Dichters haben die Feinde alle Zeichen, die ein offenkundiger Hinweis auf Ihn, den Allmächtigen waren, ungestraft gegen ihre Siegesfahnen und ähnliche Symbole ausgetauscht, um Israels Gott dadurch als Besiegten zu verhöhnen (Vers 4). In Vers 9 scheint die Bedeutung eines „geistlichen“ Zeichens vorzuliegen: Der Prophet als von Gott gesandtes „Zeichen“, den sie vermissen.
Eine Auseinandersetzung mit den Unterdrückern können die unterjochten Juden nicht wagen, da sie zu der Zeit machtlos am Boden liegen. Aber die Möglichkeiten des Allmächtigen sind dadurch keineswegs beeinträchtigt. Da bei den Kämpfen auch das Heiligtum und der Gottesdienst vernichtet worden sind, ist die Auseinandersetzung gleichzeitig zu einer Rechtssache zwischen Gott und den Widersachern geworden. Insofern blieb die Ehre der Juden mit Seiner Ehre verbunden. Sie hoffen auf Seine Antwort, weil ihre schmählichen Umstände Seinen Verheißungen anscheinend widersprechen und Ihm doch nicht gleichgültig sein können. Ihrer Berufung und ihrem Glauben nach stehen sie als Sein Eigentum auf Seiner Seite. Sie wissen aus der Schrift, dass Seine Ziele mit ihnen ganz anderer Art sind als Seine Gedanken betreffs der Widersacher. Ihr Glaube rechnet fest damit, dass Er als Lenker aller Geschicke der Menschen die Gottesfürchtigen in eine gute Zukunft führt; die Gottlosen dagegen wird Er bestrafen. Sie sind sicher, dass Er sie liebt und dass sie Ihm immer noch so wertvoll sind wie in den Anfängen ihres Weges als Volk (2. Mo 2,24f; 4,22). Sollte ihr Gottesdienst wieder aufgerichtet werden – und dies bezweifeln sie nicht – dann kann nur Seine Gnade und Macht diese Wende herbeiführen. Die gedemütigten Juden selbst hatten damals nichts zur Verfügung, um ein solches Werk in Angriff zu nehmen.
Zu Beginn des Psalms wird die Frage nach dem „Warum“ des Handelns Gottes gestellt (Vers 1). Ihr Glaube sagte den Juden, dass Er der Lenker ihrer Geschicke war und ist. Daher musste ihre Niederlage die Folge einer Entscheidung gegen sie sein. Er hatte die Dinge zu ihren Ungunsten gelenkt. Sie waren sich jedoch keiner Schuld bewusst, die Seinen Zorn hervorgerufen haben könnte. In der Tat spricht der Psalm nirgends von einer Versündigung oder von einer Bestrafung, die ihnen gegolten hätte. Offenbar sollte ihr Glaube daraufhin erprobt werden, ob sie unbeirrt an ihrer Verbindung mit Gott im Glauben festhielten und ob sie trotz ihres Unglücks weiterhin mit der unveränderlichen Bundesbeziehung zu Ihm rechneten und Ihn um Hilfe anrufen würden. Wenn sie an Seiner Treue festhielten, konnten sie unmöglich für immer verworfen sein! (Vers 1; Ps 44,10.24; 60,3; 77,8–10; 89,40–47; Jes 51,9–11; Jer 31,36f). Im Glauben bestanden sie darauf, dass sie die Herde Seiner Weide sind, und doch waren ihre derzeitigen Lebensumstände alles andere als eine schöne, fette Weide (Vers 1b; Ps 79,13; 95,7; 100,3). Wenn sie aber nach wie vor die Herde des HERRN waren, dann musste Er ihnen doch als treuer Hirte die gute Weide in leiblicher und geistlicher Hinsicht wieder zugänglich machen, denn zweifellos blieb Er immer Sich Selbst treu. Außerdem waren sie im Glauben überzeugt, dass Er die von Ihm erworbene Gemeinde, die Er auf herrliche Weise erlöst hatte und als Sein Erbteil bezeichnete, keinesfalls aus Seinem Besitz streichen würde. Genauso wenig würde Er den Wohnort in ihrer Mitte aufgeben, der in Seinem Wort als Ihm gehörend festgeschrieben war. Was ihr HERR einmal beschlossen und verkündigt hatte, dabei blieb Er auch und führte es zu einem Seiner Herrlichkeit entsprechenden Ziel (Vers 2; 2. Mo 15,13–18; 5. Mo 32,9f; 2. Sam 7,23f; Neh 1,10; Ps 79,1; Jer 10,16). Den Berg Zion würde Er niemals außer Acht lassen. Für ihren Glauben war es undenkbar, dass der HERR Sein Eigentum für immer Seinen Feinden überlassen würde. Dies ging aus der Heiligen Schrift eindeutig hervor.
Nach ihrem Empfinden lagen das Heiligtum und das ganze Land schon viel zu lange in Trümmern. Darum riefen sie den HERRN auf, nicht beim Hinschauen stehen zu bleiben, sondern Sich zu den erbarmenswerten Trümmerstätten hinzuwenden, die Wiederherrichtung in Angriff zu nehmen und die Widersacher zu vertreiben. Auch in der Gegenwart geht es dem Feind darum, sowohl Gottes Haus als auch Seinem Volk zu schaden. Aber der Herr beobachtet die Vorgänge (Vers 3; 1. Kor 3,16.17). Ein hartes Gericht wird die treffen, die solches tun. Der Herr verzeichnet genau, mit welchen bösen Vorstellungen und mit was für Werkzeugen, Äxten, Hämmern und Beilen sie vorgehen. Er kennt auch die Brandstifter und solche, die das Haus Gottes durch Entweihung verderben, indem sie, selbst mit Sünden befleckt, unheilige Dinge und weltliches Verhalten sowie unreine Personen hineinbringen (Verse 4 bis 8; Jes 64,9–11; Jer 52,12–14; Mt 24,2; 2. Thes 2,4). Satan scheint dabei die Oberhand zu haben. Die Gottesfürchtigen können sich zunächst des Eindrucks kaum erwehren, dass sie die Verlierer sind.
Israel hat in seiner Geschichte mehrfach die Zerschlagung des Landes, des Gottesdienstes und des Tempels, dazu auch der Einheit als Volk erlebt. Nach den Prophezeiungen der Schrift steht ihnen nun noch eine Drangsal bevor, „wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird“ (Mt 24,21; Jer 30,7). Aber der Prophet Jeremia und Jesus Christus Selbst haben vorausgesagt, dass die Auserwählten des Volkes daraus errettet werden (Mt 24,30f). Die Aussicht auf Befreiung aus der Not steht auch hinter den Fragen und klagenden Feststellungen des vorliegenden Psalms. Aber Anzeichen einer Wende waren für die hoffenden Gläubigen damals nicht zu erkennen. Der Sammelpunkt für die Anbetung und die Opferwilligen war ihnen genommen. Propheten und geeignete Führer fehlten ihnen, niemand konnte Sicheres über die Dauer des Elends sagen (Vers 9).
An etwas Sichtbarem konnte sich ihr Glaube nicht mehr orientieren, wie es einst durch die Wolkensäule und die Stiftshütte, später durch den Tempel mit dem Opferdienst und nicht zuletzt durch die Priester und Propheten gegeben war. Ihr Glaube verwirklichte sich jetzt nur noch in der Hoffnung und in der „Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht“ (Heb 11,1). Doch gerade in dieser Zeit des Verlusts der äußeren Zeichen des Gottesdienstes und ohne den sichtbaren Beistand von Propheten und führenden Männern bewährten sie sich, wenn sie auch mehrfach fragten: „Bis wann?“ und die dringende Bitte äußerten: „Mach ein Ende!“ Auch ohne den Tempeldienst pflegten sie eine lebendige Glaubensbeziehung zu ihrem Gott. Dass sie zum Hohn ihrer heidnischen Umgebung geworden waren, stellte sie auf eine harte Probe (Verse 9 bis 11; 44,14f; 79,4; Jes 37,4). Es schien so, als hätte Gott nicht bemerkt, dass der Hohn ihrer Bedränger auch Ihm galt und der Feind Ihn verachtete. Die Kraft der Rechten des Herrn war doch die gleiche wie zur Zeit des Durchzugs durch das Rote Meer (2. Mo 15,6; Klgl 2,3). Warum zog Er Seine Hand zurück? Sie bekamen auf ihre Vorhaltungen damals keine Antwort. Doch dem augenblicklichen Stand der Dinge zum Trotz hielten sie unbeirrt an der Glaubensüberzeugung fest, dass eine bloße Handbewegung Gottes die Umstände zu ihren Gunsten wenden konnte.
Die Verse 12 bis 17 erinnern daran, auf welch eine herrliche Weise Gott vordem Seine Macht bei der Errichtung der Schöpfung und im Besonderen als König und Bundesgott Israels offenbart hatte (Jer 10,10; Heb 1,12). Daher kannten sie Ihn als gnädigen Gott, der jede Gefahr und jeden Mangel von Seinem Volk wegzunehmen weiß, und vertrauten Ihm weiterhin trotz der schweren Verluste, die zu beklagen waren. Sie ehrten Seinen wunderbaren Namen als Gott der Rettungen, indem sie Seine Allmacht rühmten. Wiederholt hatte Er diese Macht zu ihren Gunsten eingesetzt und Sich vor den Augen der ganzen Welt als der allmächtige Schöpfer offenbart, der Sich in Liebe um die leidenden Geschöpfe kümmert und ihnen durch Wundertaten das Mangelnde beschafft (5. Mo 4,7; Ps 65,7–11; 114,3; Jes 48,21; 51,9; 63,12; Jer 5,22; 31,35–37). Als Volk hatten sie die Erfahrung gemacht, dass die ganze Schöpfung und alle Völker der Erde Ihm gegenüber zu sofortigem Gehorsam gezwungen waren. Jedem Machthaber und allen Kräften in der Schöpfung setzte Er Grenzen, die niemand überschreiten kann. Angesichts dessen war es eine schwerwiegende Vergehung ihrer Feinde, den Gott Israels zu verhöhnen (Vers 10). Maßloser Hochmut hatte die Gegner dazu verführt, Seinem Namen mit Verachtung zu begegnen (Vers 18; 2. Kön 19,4). Der Psalmdichter fordert in Vers 22 ausdrücklich dazu auf, dass Gott sie dieserhalb zur Rechenschaft ziehen möge. Der herabsetzende Hohn galt sowohl ihnen als auch Gott; es war die Stimme Seiner Widersacher, das Getöse derer, die sich gegen Ihn erhoben (Vers 23; Ps 2,1.2; 69,20; 89,51f).
In den Versen 19 bis 21 bat der Psalmdichter noch einmal um das Eingreifen des HERRN, ihres Bundesgottes. Sie fühlten sich so wehrlos und allein gelassen wie eine Taube dem Raubvogel gegenüber. Konnte Seine Barmherzigkeit sie preisgeben, da sie doch,Seine Turteltaube', Sein Eigentumsvolk, waren? Das hielt ihr Glaube für unmöglich. Das Leben Seiner Frommen, der Elenden und Armen, musste Ihm kostbar sein. Überdies standen sie durch einen von Ihm gestifteten Bund in unverbrüchlicher Beziehung zu Ihm. Es ist wahrscheinlich so, dass der Psalmschreiber nicht den Bund Gottes mit Abraham und auch nicht den Bund vom Sinai meint, sondern nach Ps 50,5 den Bund, den die gläubigen Juden in der Drangsal geschlossen haben werden, um den Opferdienst wieder aufzunehmen. An diesen Bund, d. h. an den festen Vorsatz des Überrests, Gott inmitten der Drangsal doch zu ehren, erinnert der Psalmist Gott nun. Auf die rechtlosen Zustände in der noch kommenden Zeit des Endes, wenn der Überrest Israels zum Herrn umkehren wird, wird in Vers 20 hingewiesen. Aufs Äußerste bedrängt, werden die gläubig gewordenen Juden dann zu Recht bitten: „Schau hin auf den Bund! Denn die finsteren Orte der Erde sind voll von Wohnungen der Gewalttat“. Wenn zukünftig das Böse in der Welt überhandgenommen hat, werden daraufhin die Gerichtsschläge, die im Buch der Offenbarung beschrieben sind, die ganze Menschheit treffen. Aber viele der gottesfürchtigen Juden, die gerade dann an Ihn glauben werden, wenn die allgemeine Gottlosigkeit und die Verhöhnung Seines Namens ein überlaufendes Maß erreicht haben, werden aus der Drangsal errettet werden. Sie gehen ins Reich ihres Messias ein und erleben, was ihr König und Bundesgott an Segnungen für sie bereithält. Die einst Elenden und Armen werden dann in ewiger Freude den Namen des HERRN loben.