Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 66
Auch dieser Psalm hat prophetisch die kommende Zeit der Regierung Gottes auf der Erde im Blickfeld. In dem ersten Teil des Psalms (Verse 1 bis 12) werden alle Erdbewohner aufgefordert, anhand der Geschichte des Volkes Israel die Art und Weise der Regierung Gottes und Seine Wege zur Erprobung der Menschen kennenzulernen. Deshalb wird den Völkern der Erde in Vers 5 zugerufen: „Kommt und seht!“. Zunächst haben sie zu lernen, sich Gott gegenüber mit der angemessenen Ehrfurcht zu verhalten (Verse 3 bis 5). Bei der Errichtung Seines Reiches sind unverzügliche Anerkennung Seiner absoluten Autorität und ein entsprechender Gehorsam geboten. Alle stehen dann unter der direkten Herrschaft Gottes, des Richters aller Völker. Im zweiten Teil des Psalms (Verse 13 bis 20) spricht ein einzelner Gottesfürchtiger stellvertretend für seine Glaubensgenossen in Israel. Er wendet sich an die Übrigen, die ebenfalls Gott fürchten, mit dem Aufruf: „Kommt, hört zu,... und ich will erzählen, was er an meiner Seele getan hat“ (Vers 16). Was er im Glauben erlebte, als er von Gott schwer geprüft wurde, war beispielhaft und konnte anderen auf ihrem persönlichen Glaubensweg nützen. Das Geschick des Einzelnen ist in vieler Hinsicht in das Erleben und Ergehen seiner Landsleute eingebettet und oft untrennbar damit verwoben. Doch in Seinen Regierungswegen handelt Gott einerseits mit einem ganzen Volk – Er straft es oder gewährt ihm gute Zeiten – andererseits aber befasst Er Sich mit dem Einzelnen, um ihn zu prüfen und zu züchtigen, letztlich aber mit der Absicht, sie alle geistlich zu segnen. Die Heilige Schrift des Alten Testaments ist uns in beiderlei Hinsicht zum großen Nutzen. Es lohnt sich jedes Mal, wenn jemand ‚kommt und sieht', was der Heilige Geist ihm am Beispiel der Gläubigen aus vergangener Zeit vorstellen will. Das Handeln Gottes verfolgt den Zweck, zur Erkenntnis des Ewigen zu führen und uns zur Einsicht betreffs unserer Fehler zu verhelfen. Unsererseits sind dann die heiligen Entschlüsse nötig, die in den Versen 13 bis 18 vorgestellt werden, damit Gott in Gnade helfen kann und wir zu Dank und Anbetung kommen.
Im Übrigen verfolgt Psalm 66 weiter das Anliegen des vorhergehenden Psalms, nämlich dass die ganze Erde einst zum Lobpreis der Herrlichkeit des Namens Gottes kommt (Verse 1 und 2). In Psalm 86,9 ist prophetisch vorausgesagt: „Alle Nationen, die du gemacht hast, werden kommen und vor dir anbeten, Herr, und deinen Namen verherrlichen“. Alle Völker müssen sich zur Anerkennung Seiner Allmacht bereitfinden (Ps 8,2; 100,1; Off 15,4). Im Zuge der Errichtung der Weltherrschaft Gottes ist Unterwerfung unumgänglich (Vers 3; Ps 62,12; 68,36; Jes 64,1–3). Die Furchtbarkeit Seiner Gewalt und Seiner Werke wird im göttlichen Gericht und dem Strafurteil offenbar werden. Dabei wird sich die göttliche Macht in einer für die Gottlosen erschreckenden Weise entfalten, wie das Buch der Offenbarung es im Einzelnen beschreibt (vgl. Ps 65,9). Wenn diese Wahrheiten der Bibel übergangen werden, dann weicht man der Heiligkeit Gottes aus. Doch dieses Fundament Seiner Weltregierung darf nicht geringgeschätzt werden. Den Ansprüchen der göttlichen Heiligkeit unterliegen grundsätzlich alle Menschen. Wenn sich bei Anbruch des Gerichtstages die Feinde Gottes plötzlich dieser gewaltigen Macht gegenübersehen, bleibt ihnen keine andere Wahl, als sich zu unterwerfen. Aber bei einigen ist die Unterwerfung nur scheinbar und der Gehorsam geheuchelt; ihre innere Haltung ist insgeheim immer noch ablehnend (Vers 3; Ps 18,45; 5. Mo 33,29). Doch Gottes Macht wird durchgreifen und sich als unwiderstehlich erweisen: sie offenbart sich dann so unmittelbar aus der Nähe, dass sich keinerlei Rebellion mehr zu regen wagt (Verse 5 und 7). Satan, der Anführer aller Widersacher Gottes, wird in jener zukünftigen Zeit 1000 Jahre lang gebunden sein, er ist dann handlungsunfähig (Off 20,1–3). Das ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass in jener kommenden Epoche die ganze Erde Gott anbetet und Seinem Namen mit Psalmen lobsingt (Vers 4).
Die Macht Gottes bricht jeden Widerstand und lässt dabei alles, was Menschen zur Verfügung steht, weit hinter sich zurück; sie ist unendlich viel größer als jede andere Macht. In längst vergangener Zeit ist sie vor den Augen der umliegenden Völker bereits zugunsten Israels offenbar geworden, als der HERR nach dem Auszug Israels aus Ägypten das Rote Meer spaltete und den Meeresgrund in trockenes Land verwandelte, so dass das Volk hindurchgehen konnte. Gleiches wiederholte sich später, als das Volk den Jordan zu überqueren hatte (Jos 3; Ps 46,9–12). Seither ist die Menschheit aufgefordert, näherzutreten und Seine Macht anzuschauen und an Ihn zu glauben. Nichts von den Vorgängen auf der Erde kann sich der Macht Gottes entziehen (Verse 5 bis 7; Dan 4,34). Der Herr Jesus offenbarte dieselbe souveräne göttliche Macht durch die Wunder, die Er auf dieser Erde vor aller Augen tat. Auch hierfür gilt die Einladung: „Kommt und seht!“ (Mt 11,4.5; Joh 1,39). Jeder hat die Möglichkeit, herzuzukommen und wahrzunehmen, dass Gott in Macht und Güte zugunsten Seines Volkes und aller Menschen, die Seine Gnade annehmen, wirkt und auf welch unvergleichliche Weise Er offenbar werden lässt, dass Er ihnen nahe ist und als ihr Retter auftritt (5. Mo 7,21). Durch die Gnade Gottes rechtzeitig errettet worden zu sein, hat für die aus ihrer Not Erlösten ewige Freude und Liebe zu ihrem Retter zur Folge (Vers 9; 2. Mo 15,1–18; Jes 41,16b). Die Rettungen Gottes tragen zu allen Zeiten die gleichen Wesenszüge: Für Sein Volk macht Er gefahrvolle, mit menschlicher Kraft nicht zu bewältigende Wegstrecken gangbar und bringt die Seinen in Sicherheit. Bei Seinem machtvollen Eingreifen wird offenbar, dass Er die Winkelzüge und Machtgelüste feindlicher Mächte längst durchschaute. Ihren üblen Absichten setzt Er nicht zu überschreitende Grenzen. Er lässt nicht zu, dass ein Geschehen in irgendeiner Weise darüber hinausgeht (Vers 9; Ps 55,23). Gott bleibt immer Herr der Lage (Ps 33,10–17; Pred 9,11; Jes 18,4; Off 17,17). „Die Himmel herrschen“ (Dan 4,23); das bedeutet: „Sein Reich herrscht über alles“ (Ps 103,19). Jeder Mensch und vornehmlich der, dem eine erhöhte Verantwortung übertragen ist, soll bedenken: Das Innerste des Menschen ist „bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Heb 4,13). Jede Auflehnung, auch die geringste Erhebung gegen die zukünftige Regierung Christi ahndet Er ohne Verzug und bestraft sie.
Die Verse 8 bis 12 fordern die Völker der Erde auf, den Gott Israels zu preisen. Im Unterschied zu den Gottergebenen im zukünftigen Friedensreich bilden die Gläubigen des Christentums ein himmlisches Volk, den Leib Christi. Nachdem sie in den Himmel aufgenommen sind, müssen die Völker der Erde in dem alsdann entstehenden irdischen Reich Christus als den ewigen Sohn Gottes anerkennen und werden Ihn als Retter verehren. Für alle sichtbar ist Er dann der König Israels, der die an Ihn Glaubenden dem Leib und der Seele nach am Leben erhalten und ihren Untergang abgewendet hat (Verse 8 und 9; Ps 68,21; Jes 42,10–12; Hab 2,4). Stellvertretend für ganz Israel werden die gläubigen Juden der kommenden Endzeit in Gottesfurcht die besondere Stellung einnehmen, die der HERR Seinem irdischen Volk seit jeher zugedacht hat. In den schweren Prüfungen, die Er ihnen auferlegt, wird sich ihr Glaube als standhaft erweisen (Vers 10). Sie werden „im Schmelzofen des Elends“ durch ihr Ausharren das Volk gläubiger Juden bilden, zu deren Rettung Christus als Messias wieder auf diese Erde kommen wird (Jes 1,9.25–27; 48,10; Sach 13,9). Um Seiner Heiligkeit willen muss Gott Sein irdisches Volk in jenen kommenden Tagen in eine furchtbare Zeit der Drangsal führen, um es zu läutern (Jes 51,17–23; Jer 30,7; Klgl 1,12–18; Mt 24,21f). Die gläubigen Juden jener Tage werden die Bestrafung ihres Volkes aus Gottes Hand annehmen; sie zeigen ihre Beugung zu Beginn ihres Bekenntnisses wiederholt mit den demütig klingenden Worten: „Du hast uns...“ (Verse 10 bis 12). In Vers 12b benutzen sie die gleichen Worte auch für ihre endgültige Rettung: „Du hast uns herausgeführt zu überströmender Erquickung“. In Vers 9 danken sie Gott dafür, dass Er „nicht zugelassen hat, dass unsere Füße wankten“. Nachdem das Schreckliche hinter ihnen liegt, kennzeichnet Danksagung ihre Einstellung zu den Fügungen Gottes. Sie bleiben bei ihrem festen Glauben, sie lehnen sich nicht auf gegen das harte Schicksal aus der Hand Gottes und verharren in aufrichtiger Frömmigkeit in Übereinstimmung mit ihrem Gott und im Vertrauen auf Ihn. Er ist es, der ihre Not veranlasst hat, und zugleich der, der sie wieder herausführen wird, damit sie göttlich große Segnungen in Empfang nehmen.
Die prophetische Betrachtungsweise dieser Verse schließt nicht aus, dass Gottesfürchtige schon in früheren Zeiten ähnliche Glaubenserfahrungen gemacht haben. In einer Zeit äußerster Gefährdung bewährten sich die wahrhaft Gläubigen wiederholt. So sind sie ein nachahmenswertes Beispiel für leidende Gottesfürchtige späterer Zeiten geworden. Ihnen allen ruft Jesaja zu: „Fürchte dich nicht,... du bist mein. Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten; wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen“ (Jes 43,1.2). In dem vorliegenden Psalm erfuhr der Glaube eine ermunternde Bestätigung durch Gottes Eingreifen, und darauf folgt in den Versen 13 bis 15 Danksagung, verbunden mit dem Wunsch, Gott Opfer zu bringen. In ihren Herzen ist nicht etwa Groll oder Klage über verlorene Jahre, sondern freudiges Lob (Ps 96,8; 116,17f). Den Entschluss dazu haben sie nicht erst nach Beendigung des Leidens gefasst, sondern schon während ihrer Leidenszeit (Vers 14). Ihr Leben haben sie dem Herrn überlassen, sie haben sich Ihm anvertraut. Sie suchten nichts für sich zu gewinnen, denn ihre Gottseligkeit ist ein alles überragender Gewinn (1. Tim 6,6). Mit den Worten des Neuen Testaments gesprochen, genügte es ihnen, ihre „Leiber darzustellen als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Schlachtopfer“ (Röm 12,1). Sie betrachteten sich als solche, die Gott nicht nur Dank schulden, sondern auch ihr eigenes Leben; alles andere tritt demgegenüber zurück. (Röm 8,12).
Von Vers 16 an bis zum Schluss möchte der Psalmdichter Zeugnis ablegen von dem, was Gott an seiner Seele getan hat. Auf seinen Hilferuf hatte Gott geantwortet. Im Glauben war der Dichter der Erhörung seines Gebets sicher gewesen, denn schon beim Vorbringen seiner Bitte hatte er den Namen Gottes mit Lob erhoben. Offensichtlich hatte Gott den ersten Platz in seinem Herzen und in seinem Verhalten. Sorgfältig prüft er seine Beweggründe, ob nicht hinter seiner gerechtfertigt klingenden Bitte heimliche Nebenabsichten verborgen sind (Vers 18). Er hält sich an den Grundsatz Jeremias: „Du aber, HERR, du kennst mich, du siehst mich und prüfst mein Herz gegen dich“ (Jer 12,3; Jak 4,3.5.8). Denn die Lauterkeit der Bitten ist eine Voraussetzung für ihre Erhörung. Gott kann Sich nicht zu einem Gebet bekennen, das aus einem Herzen kommt, das unreine Gedanken und versteckte oder gar üble Absichten hegt (Joh 9,31; 1. Tim 2,8). Doch Gott hatte auf die Stimme des Psalmdichters gehört, und die Erhörung seines Gebets war die Bestätigung für die lauteren Ziele des Herzens und für seinen Glauben (Jes 59,1–3; 1. Joh 3,21.22; 5,14). Aufgrund wahrer Frömmigkeit und Aufrichtigkeit wird das Gebet des Gerechten erhört (Spr 15,8.29; Mt 6,5–8; Heb 5,7b; Jak 5,16). Die Wirksamkeit unserer Gebete hängt auch davon ab, inwieweit wir die genannten Voraussetzungen erfüllen und ob es uns an erster Stelle um die Ehre Gottes und um Seine Sache geht. Dann wird es ein Beten im Geist und im Namen des Herrn sein. Bei alledem bleiben wir von Seiner Gnade abhängig, die sich uns in Güte zuwendet und unser Gebet erhört (Vers 20).