Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 62
Der Psalm strahlt in besonderem Maße Zuversicht aus. Der Dichter beklagt hier nirgends, dass ihm etwas fehlt, er äußert weder eine Bitte noch eine Befürchtung. Gott Selbst redet er im Schlussvers mit kurzen Worten des Lobes an. Sechsmal gebraucht er das Wort „nur“, um zu betonen, dass er ausschließlich auf Gott vertraut und sein Heil nur bei Ihm findet. Im Gegensatz zu ihm nehmen die gottlosen Gegner ihre Zuflucht zur Lüge, und desto sicherer ist es, dass sie für die Zukunft nichts Gutes zu erwarten haben. Davids Seele ist stille geworden und zur Ruhe gekommen (2. Mo 14,14; Ps 37,7), weil sie völlig auf Gott und Seine Stärke ausgerichtet ist. Ohne den Herrn kann und will David nichts unternehmen. Diesem Bündnis gegenüber vermögen die Feinde nichts. Ihre großen Worte sind in den Wind geredet, sie selber sind leichter als ein Hauch. Die da in scheinbarer Überlegenheit so ungestüm gegen ihn auftreten, sind in Wirklichkeit die Unterlegenen; in ihrem Innern sind sie so hohl wie ihre Worte. Im Übrigen sind sie selbst so unbedeutend wie ihre Aufgeblasenheit und ihre Scheingefechte. Im Gegensatz zu ihnen ist ein ewig unvergängliches Gut dem zugesichert, der seine Erwartung und sein Vertrauen nur auf Gott setzt und geduldig auf Seine Hilfe wartet (Ps 71,5f; Mt 7,24–27). In den Wechselfällen des Lebens bleibt er innerlich ruhig, da er sicheren Schutz von oben genießt, und im Endergebnis gelangt er zum ewigen Heil. Das Streben des Gläubigen sollte sich auf das konzentrieren, was Gottes Gnade ihm schenken möchte. Glück und Segen werden die Folge sein.
In Vers 2 bezeugt der Dichter, dass seine Seele allein auf Gott vertraut, weil die Rettung nur von Ihm kommen kann. Er verharrt still vor Gott und achtet auf jeden Wink Seiner Führung. Er ist bereit, sich formen zu lassen, wie Gott es will. Sein Leben und Ergehen überlässt er der Hand Gottes (Ps 71,16f). Verglichen mit Gott, sind Menschen wie nichts. Von ihnen kann ein Hilfesuchender nicht viel erwarten. Wohl kaum wird jemand so töricht sein, zu behaupten, dass ein Mensch sein Fels und seine Rettung sei oder gar eine „hohe Festung“ (Vers 3). Dennoch handelt auch ein Gläubiger manchmal entsprechend der Denkweise des Unglaubens. Dann ist sein Leben zwiespältig, sein Herz hat er nicht ausschließlich auf den Herrn ausgerichtet. Es fehlt ihm das Bewusstsein, dass er in allem auf Gott angewiesen ist. Gerät er in Not, dann wankt und zweifelt er und nimmt Schaden, denn Gott kann Sich nicht zu den Doppelherzigen bekennen (Ps 119,113; Jak 1,6–8). Noch niemals war es ratsam, mit dem einen Fuß auf dem Felsen stehen zu wollen und mit dem anderen auf dem Sand. Mangelnder Halt verursacht Sturz. Dem hingegen, der dem Herrn mit ganzem Herzen vertraut, gilt die Zusage: „Er wird niemals zulassen, dass der Gerechte wankt“ (Ps 55,23; 66,9). Das echte, unvermischte Gottvertrauen wird nicht enttäuscht. Unsere Hoffnung ist auf den Herrn (Ps 39,8; 146,5; 2. Kor 1,10); wer sie „als einen sicheren und festen Anker der Seele“ hat, ist dem Sturm und den Wellen nicht preisgegeben, wenn auch das Lebensschiff bisweilen scheinbar schwankt (Heb 6,18.19).
Von der Standfestigkeit, die der Glaube besitzt, wussten die Feinde des Psalmdichters nichts (Verse 4 und 5). Sie ahnten nicht, aus welchem Grund ihre Anschläge vergeblich blieben. Ihr Urteil gründete sich auf die sichtbaren Machtverhältnisse ihres Gegners. Danach urteilte vor Zeiten auch der Heerführer des Königs von Assyrien (Jes 36,4–8), der die Macht Gottes und den Glauben des Königs Hiskia verachtete. Ähnlich wie jener sieggewohnte Assyrer meinten auch Davids Gegner, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Ihre wichtigsten Werkzeuge waren ihr Mund, die Lüge und große Worte. Der Gegensatz zwischen ihren Hilfsmitteln und den göttlichen Hilfsquellen Davids ist unendlich groß. Ist wahre Abhängigkeit von Gott vorhanden, dann sind menschliche Einschätzungen ihr untergeordnet. Die Feinde wollten David niederreißen, so dass er für immer am Boden lag (Vers 4). Aber David bleibt nicht lange bei dem Gedanken stehen. Statt sich Sorgen zu machen, setzt er sich in seiner Seele vor, keinen Schritt von der Linie des uneingeschränkten Vertrauens auf Gott abzuweichen. Er hält sich nicht für so schwach, wie die Feinde es sich ausrechnen. Er denkt nicht ans Zurückweichen, sondern erwartet, dass sein Gott für ihn den Kampf führt (Verse 7 und 8; Ps 37,6–11; Jes 44,8). Sein Glaube an Gott macht ihn ruhig und gelassen. Gott wird Seine Macht den Feinden gegenüber erweisen. Auf Gott ruht sein Heil und seine Rettung. Wenn er als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorging, dann war dieser Triumph nicht sein eigener; denn in Wahrheit beruhte der Ausgang ausschließlich auf Gottes Macht. David suchte nicht die Siegerehre. Ihm ging es darum, dass die Stärke Gottes ans Licht trat. Für ihn kam keine andere Sicherheit in Frage als die durch Gott zustande gekommene. Alles andere würde Gottes Ehre schmälern und keinen Bestand haben.
In Vers 9 empfiehlt David, aus seinen Erfahrungen zu lernen und ausschließlich auf Gott zu vertrauen, sich Ihm zu ergeben und das ganze Herz Ihm zu weihen, wie er selbst es sich vorgesetzt hatte und auslebte. Die Gottesfürchtigen sollten den HERRN stets vor sich stellen, dann würden sie nicht wanken (Ps 16,8). Dann waren sie auf dem richtigen, Gott wohlgefälligen Weg. Voller Vertrauen sollten sie vor Gott ihre Befürchtungen darlegen (Ps 142,3; Klgl 2,19; Phil 4,6; 1. Pet 5,7). Vor leichtfertigem, falschem Vertrauen sollten sie sich hüten (Vers 10). Sollte jemand meinen, sein Vertrauen auf Menschen setzen zu können anstatt auf Gott, dann wird er früher oder später enttäuscht werden, denn darauf ruht ein Fluch (Jer 17,5). Gott gegenüber wiegt menschliche Gewichtigkeit so viel wie ein Hauch. Seiner Größe gegenübergestellt, verflüchtigt sich Menschenherrlichkeit ins Nichts. Überhebliche Menschen rühmen sich gerne der vielen Hilfsmittel, über die sie verfügen. Bestand haben ihre Macht und ihr Vermögen nur kurze Zeit vor den Menschen, nicht aber vor Gott. Es ist unklug, sich von Menschen abhängig zu machen, selbst wenn sie es redlich meinen. Alle Menschen werden vor Gott als zu leicht befunden; sie sind nicht aus der Wahrheit, und entsprechend ist ihr Reden und Handeln. Sie sind instabil und veränderlich und irren häufig. Darum kann keiner von ihnen unbedingtes Vertrauen beanspruchen, wie eindrucksvoll auch das Persönlichkeitsbild sein mag. Zu ihrem Unglück neigen viele Menschen zum Überschätzen dessen, was groß ist in dieser Welt (Vers 11). Man schaut bewundernd oder zumindest anerkennend auf die hohe Stellung der Einflussreichen, man ist beeindruckt von Macht und Reichtum, von Titeln und Besitz. Zu leicht blickt man auf äußeren Schein und lässt sich dadurch blenden. „Wenn der Reichtum wächst“, hat es den Anschein, als ob dem wachsenden Vermögen eine eigene Energie zur Vermehrung innewohnte. Darauf können auch Gläubige mehr vertrauen als auf ihren Herrn (Vers 11b). Dann schwindet eine vorher vorhandene Gottesfurcht dahin. Dass der Mensch so leicht dem Irrtum erliegt, wird vom Teufel benutzt, um seine Ziele zu erreichen. So gelingt es ihm, die Unachtsamen zu verführen. Deswegen warnt der Dichter hier: Vertraut nicht darauf! Setzt nicht darauf! (Vers 11). „Willst du deine Augen darauf hinfliegen lassen, und siehe, fort ist es?“ (Spr 23,5; Jak 1,10.11). Je mehr Wert jemand auf die verführerischen Dinge dieses Zeitlaufs legt, desto weniger Wert legt er auf Gottes Wort und seine Wahrheit.
Gott allein besitzt ewig unveränderliche Stärke und Majestät. Was Er gibt und als Belohnung schenkt, das bleibt ewig bestehen (Verse 12 und 13). Niemand sollte Seine Stimme überhören, die sich hier, deutlich den Weg weisend, vernehmen lässt. Sein Wort ist Wahrheit, vor ihm muss sich der menschliche Verstand und jede Überlegung beugen. „Doch in einer Weise redet Gott und in zweien, ohne dass man es beachtet“ (Hiob 33,14). Indessen hat Er Seine Stimme nicht umsonst hören lassen. Dadurch, dass ein Verächter Seines Wortes sie totschweigt oder ignoriert, büßt Gottes Stimme nichts von ihrer göttlichen Gewalt ein, denn keins Seiner Worte fällt dahin (1. Kön 8,56; Ps 29). Vor Ihm, vor Seiner Stimme und Majestät kann keine irdische oder überirdische Macht bestehen. Auch heute regiert Er in Wahrheit und Wirklichkeit, wenn auch verborgen. Gott entscheidet über das Ergehen aller Völker und über jede geschichtliche Entwicklung. Gemessen an Seiner Allmacht, verlieren alle anderen Mächte, auch der Glanz und Wert aller irdischen Güter, ihr Gewicht. Aber das will der von Ihm abgefallene Mensch weder sehen noch hören. Deshalb wird Gott von jedem Menschen Rechenschaft verlangen und ihm vergelten nach seinem Werk, nach seinem Gehorsam oder Ungehorsam (Vers 13; Pred 12,14; Mal 3,18; Röm 2,5.6; Off 22,12). Dem Menschen gegenüber, der auf Sein Wort hört, erweist Er Sich als der Gott aller Gnade. „Und dein, o Herr, ist die Güte“ (Vers 13; Dan 9,9). Wer auf Sein Wort hört und ihm glaubt, den wird Er begnadigen und ihm den Reichtum Seiner Güte zuwenden (Joh 5,24). Gott erwartet von dem Menschen, dass er uneingeschränktes Vertrauen auf Ihn und Sein Wort setzt und Ihm gehorcht.