Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 58
Dieser Psalm bezieht sich nicht auf bestimmte Ereignisse im Leben eines Gottesfürchtigen. Er sagt zeitlos Gültiges aus über das göttliche Richten und über die Bestrafung der Schuldigen. Er tadelt das Versagen von besonders Verantwortlichen und deckt ihre Schuld auf. Dies findet sich in ähnlicher Weise in den Ps 64 und 82. Nachdem in den Versen 2 bis 6 das Böse charakterisiert wird, rufen die Verse 7 bis 10 das Gericht Gottes über die Gottlosen herab, die sich als ungerechte Richter oder als Lügner und Gewalttäter schuldig gemacht haben. Die beiden Schlussverse berichten von der Freude der Gerechten darüber, dass Gott eingreift. Er bestraft die Gottlosen und belohnt die Gerechten, und die Rechtsordnung wird wiederhergestellt (Vers 12). Es geht dabei auch um die gerichtliche Bestrafung des Bösen in der Welt überhaupt. Es ist die Antwort Gottes auf einen völlig verderbten Zustand der Menschheit am Ende des Zeitalters. Das Unrecht hat dann derartige Formen angenommen, dass nur noch Gottes Macht und Seine Strafen den schlimmen Zuständen auf der Erde in durchgreifender Weise begegnen können. Dieses zukünftige Weltgericht ist gänzlich Gottes Sache, da sich ja alle Vergehungen der Menschen grundsätzlich gegen Ihn und Seine Gebote richten. Er zieht alle zur Rechenschaft und bestraft die Gottlosen auf der Grundlage Seiner Gerechtigkeit.
Der Psalm beklagt, dass ungerechte Richter bestimmenden Einfluss auf die Justiz gewonnen haben und dass dadurch das Rechtssystem verderbt worden ist. Gott, dem obersten Richter, schulden die Richter aller Zeiten Rechenschaft (Ps 82,1–2), und von Ihm müssen sich die hier in Vers 2 Angesprochenen fragen lassen, ob sie in Erfüllung ihrer Aufgabe als Richter tatsächlich die Gerechtigkeit Gottes in Geradheit vertreten haben und ein vor Gott gültiges Recht gesprochen haben. Schon ein Verstummen der Rechtskundigen angesichts offenbaren Unrechts kann als Zustimmung zum Bösen angesehen werden. War nicht durch ein solches Versagen und durch ihr Abirren vom Weg Gottes das Recht im Volk Israel zurückgedrängt worden, die Wahrheit missachtet und die Geradheit verbogen worden? (Vers 2; Jes 1,21–23; 59,14.15; Mich 7,2–4). Das persönliche Verhalten solcher, die mit der Rechtsprechung befasst waren, stand im Widerspruch zu dem Recht, das zu verkünden ihre Pflicht war (Vers 2 mit Anmerkung der Übersetzer).
Die zunehmende Verderbtheit der Menschen geht aus der ihnen angeborenen Sündhaftigkeit hervor; sie ist in jedem Menschenherzen vorhanden. Wenn das im Innern wurzelnde Böse sich ungezügelt entwickeln und ausleben kann, kommt es zu Gipfelpunkten der Sünde. Jeder Mensch trägt diese böse Wirkkraft von Geburt an in sich und sündigt von seiner Jugend an. Dies einzugestehen, ist demütigend und widerstrebt dem Selbstgefühl. Daher weichen die Meisten dem Evangelium aus, das diese Wahrheit als Realität offenlegt und den Menschen zur Einsicht und Demütigung vor Gott führen will. Im Widerstand gegen die Lehre des Herrn Jesus, die das Böse in der menschlichen Natur und im Handeln des Menschen schonungslos aufdeckt (s. Mk 7,20–23), äußert sich das angeborene Verderben. Dabei ist der Mensch nicht für die geerbte sündige Natur verantwortlich, sondern für die daraus hervorkommenden Sünden. Wer nicht umkehren und sich nicht von dem im Evangelium angebotenen Heilsweg überzeugen lassen will, den wird Gottes Zorn im endgültigen Gericht treffen.
Wenn die Justiz, die der Ungerechtigkeit Einhalt zu gebieten hat, in der Zukunft dieser Welt so verdorben sein wird, dass sie selbst aktiv und passiv dem Verderben Vorschub leistet, dann ist jede Hoffnung verloren. Daher ruft der Psalmdichter Gott um Hilfe an und bittet um Sein Einschreiten (Verse 7 bis 10). Gott möge die Waffen der Verantwortlichen zerschmettern (Vers 7; Ps 3,8), alle ihre Hilfsquellen austrocknen und ihre Absichten vereiteln, ehe sie zur Ausführung kommen (Vers 8). Die Verderbten möge Er einer solchen Bestrafung unterwerfen, dass nichts von ihnen und ihren bösen Werken zurückbleibt (Vers 9) Die Möglichkeiten zur Ausbreitung ihrer Macht möge Gott wegnehmen und ihre weitere Einflussnahme auf die Herzen der Menschen verhindern (Ps 112,10). Der Dichter wünscht, es geschähe so schnell und gründlich, wie eine Schnecke vergeht und wie ein Feuer trockene Zweige des Dornstrauchs verzehrt (Vers 9 und 10; Ps 1,4). Es ist das Feuer des Gerichts Gottes (Mal 3,19). Zu bemerken bleibt noch, dass hier nicht ein Einzelner im eigenen Interesse um Vergeltung des ihm geschehenen Unrechts bittet, sondern dass es um die grundsätzliche Zerstörung der Macht des Bösen in der ganzen Welt geht und um die Bestrafung der Gottlosen und des Bösen überhaupt. Dann wird das verdorbene, dem Bösen völlig verfallene Weltsystem aufgelöst und vernichtet werden. „Das Reich der Welt (oder: das Weltreich, die Weltherrschaft) unseres Herrn und seines Christus ist gekommen, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit“ (Off 11,15).
Durch die Errichtung Seines Reiches setzt Gott in der Zukunft der jetzt noch währenden Erprobungszeit der Menschheit ein Ende (Ps 59,14). Dann wird allem Bösen Einhalt geboten: Der Einfluss der Gesetzlosen und Satans ist zu Ende gekommen. Dies geschieht zur Genugtuung und zur Freude der Gerechten, die sich hierdurch in ihrem Glauben bestätigt sehen werden (Vers 11). Dann erfüllt sich die Warnung des Wortes Gottes: „Mein ist die Rache; ich will vergelten, spricht der Herr“ (Röm 12,19). Gleichzeitig kommt die Verheißung der Bergpredigt zur Verwirklichung: „Glückselig, die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten, denn sie werden gesättigt werden“ (Mt 5,6; Jes 3,10f). „Sei fröhlich über sie, du Himmel, und ihr Heiligen und ihr Apostel und ihr Propheten! Denn Gott hat euer Urteil an ihr vollzogen“ (Off 18,20). Der ausführende Richter ist der Herr Jesus. Von Ihm ist vorausgesagt: „Er wird richten unter den Nationen, er füllt alles mit Leichen“ (Ps 110,6; 68,22–24; Jes 34,5f; 40,10; 63,1–6). Wenn niemand mehr bereit ist, auf Gottes warnende Stimme zu hören, bleibt nur noch das allumfassende Gericht als letztes Mittel zur Beseitigung des Bösen. Denn Gott hat in vollem Maß Geduld bewiesen und jedem Einzelnen die Gelegenheit zur Buße gegeben. Dann findet die Vergeltung jedes Unrechts statt. Die Gerechten hingegen gelangen zu vollkommener Freiheit und ewigem Glück. „Und der Mensch wird sagen: Ja, es gibt Lohn für den Gerechten; ja, es gibt einen Gott, der auf der Erde richtet“ (Vers 12; Jes 26,9f; 32,1f; Jer 31,16f). Die hier genannten Gerechten sind insbesondere die Gläubigen des Überrests aus Israel, die in der kommenden Zeit des Endes den Herrn Jesus als ihren Messias aus dem Himmel erwarten werden. Angesichts des göttlichen Gerichts und des Strafvollzugs über alles Böse wird offenkundig, dass nun Gott Selbst als Richter in Erscheinung getreten ist. Es zeigt sich vor aller Augen, dass Ihm alle Menschen Verantwortung und Gehorsam schulden. Dann ist jedermann klar, dass Gott der Schöpfer der Welt und der Lenker aller Geschicke ist. Bei alledem wird deutlich, dass Er Seine besondere Freude daran hat, die gottesfürchtigen Gerechten zu belohnen (Vers 12). Das ist zunächst ein Beweis Seiner Gerechtigkeit. Doch zugleich ist es die herrliche Offenbarung Seiner niemals endenden Güte und Liebe zu denen, die Ihn lieben und Ihm gehorchen (2. Thes 1,5–10).