Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 57
Wahrer Glaube besitzt die Kraft, den Schwierigkeiten ins Angesicht zu sehen; er sucht sich nicht über die Realität hinwegzutäuschen, indem er sich einredet: ‚Man muss immer die gute Seite sehen' oder:,Man muss positiv denken'. Er diskutiert die traurige Wirklichkeit nicht weg und schätzt das Bedrückende in dieser Welt realistisch ein. Indessen ist er weder leichtfertig noch unwissend oder sorglos fröhlich. „Du aber sei nüchtern in allem“ (2. Tim 4,5). Der Maßstab des Gläubigen ist das Wort Gottes. Sein Glaube stellt die Zuverlässigkeit und die Wahrheit der Heiligen Schrift über jede andere Gewissheit. Kein Schriftstück auf der Erde, keine irdische Weisheit kann eine dem Wort Gottes gleichkommende Vertrauenswürdigkeit beanspruchen. Der vorliegende Psalm stellt mehrfach Himmel und Erde einander gegenüber. Auf dieser Erde mangelt es an vielem, aber im Himmel ist jederzeit alles im Vollmaß vorhanden. Himmlische Weite und Kraft stehen hier im Gegensatz zu irdischer Enge und Ohnmacht. Himmlisches Licht steht hoch über irdischem Dunkel. Der Gläubige, der hier durch die Umstände niedergedrückt ist, bekommt vom Himmel her die nötige Kraft für seinen weiteren Weg. Die Seele, die hier keinen Ruheplatz findet, flieht zu Gott und erlangt Heil und Bergung. Psalm 57 hat einiges gemeinsam mit Psalm 142.
Nachdem der Psalmdichter auf seinem Weg in große Bedrängnis geraten war, nahm er seine Zuflucht zu Gott und bat Ihn um Gnade. Seine Seele flüchtete sich aus irdischer Bedrohung unter den Schatten der Flügel Gottes. Wenn Gott ihn nicht schützte, war er dem Verderben ausgeliefert. Er hatte das Vertrauen zu Gott, dem Höchsten, dass Er für ihn eintrat und vom Himmel her das zur Rettung Notwendige unternehmen würde (Verse 2 bis 4; Ps 18,17; 62,8; 63,8; 138,7.8; Röm 8,32). Er selbst sah keine Möglichkeit, sich zu helfen; in allem war er auf Gott angewiesen. Manche schwierigen Wegstrecken sieht der Gläubige wie einen finsteren Tunnel oder wie einen unüberwindlichen Berg vor sich liegen. Für solche Lebensabschnitte braucht er Gottes Hilfe in besonderer Weise. Dazu befiehlt er sich Gott an, denn ohne Sein Eingreifen wird die Sache kein gutes Ende nehmen. Während der Gläubige ausharrt, handelt Gott. Nachdem die Tiefen durchschritten sind und das Verderben vorübergezogen ist, sieht sich der Glaube in der Überzeugung bestärkt, dass Gottes Zusagen verlässlich sind. Gott hat Seine Liebe und Fürsorglichkeit bewiesen und hat helfend eingegriffen. So zeigt sich Seine Treue im Leben dessen, der Ihn um Gnade und Hilfe anruft (Ps 40,12; Lk 18,7). Unglück und Gefahren sind Dinge, denen Gott eine bestimmte Zeit gesetzt hat. Sie entwickeln sich nach Seinem weisen Dafürhalten, bis Sein Vorhaben zum Ziel gekommen ist. Unter der oft lange anhaltenden Not seufzt der Gläubige. Indessen bleibt ihm die ewige Rettung stets sicher. Niemand kann ihn aus der Hand des Herrn rauben. Nach dem Abschluss der Erprobungen führt Gott Seine Kinder aus der Beengung und den Befürchtungen hinaus ins Weite (Ps 18,20; 144,7).
Wenn es Gott zuließ, dass die Wege Davids so gefahrvoll verliefen, dann hatte Er ohne Zweifel auch den Ausweg schon vorbereitet. Niemals zu spät, sondern immer zum geeigneten Zeitpunkt wird Er „seine Güte senden“ (Vers 4b). David schien den Löwen, den Flammen und den todbringenden Absichten der Gegner preisgegeben, in Wirklichkeit aber war er es nicht (Vers 5; Ps 22,13.17.22; Jes 54,17). Die Menschen, die seinen Tod suchten, verfolgten ihn wie wilde Raubtiere. Nach menschlichem Urteil war er verloren. Doch Gott besaß hinreichende Hilfsmittel. Er achtete sorgfältig auf Seinen Knecht und war zum rechtzeitigen Eingreifen bereit. Der Arm des Allmächtigen ist hoch erhaben über der Mordlust und den furchterregenden Worten und Vernichtungsplänen der Feinde (Ps 68,2f). David bittet Ihn, Seine Überlegenheit einzusetzen und Seine herrliche Größe sichtbar werden zu lassen, und zwar hoch über der Erde, die im Vergleich zum Himmel so klein und so tief da unten liegt (Vers 6; Ps 90,16). In kommender Zeit, wenn Gott in Herrlichkeit über der Erde für alle sichtbar in Erscheinung tritt, wird der Glaube der Gottesfürchtigen vor aller Augen gerechtfertigt. Dann ist mit einem Mal offenbar, dass alles Irdische Ihm zu Füßen liegt. Der Gewalttätige, der vordem auftrat wie ein allen überlegener Löwe und mit einer Zunge, verletzend wie ein Schwert, liegt dann am Boden (Vers 5).
Auch der Gottesfürchtige ist mitten in den Nöten des Lebens so manches Mal ein schwer Geprüfter, unter schwerem Druck stehend und niedergeworfen (Vers 7). Doch die Verhältnisse werden sich umkehren und die Übeltäter werden plötzlich in der Grube liegen, die sie ihrem Feind zugedacht hatten. Daran wird auch der größte Aufwand an List und Bosheit nichts ändern können (Vers 7b; Ps 140,13; Mich 7,2–4). Viele urteilen nach dem augenblicklichen Anschein der Dinge. Doch bei ihren Überlegungen erliegen sie der List von Verführern, anstatt der Wahrheit der Heiligen Schrift und ihren Warnungen zu glauben. Das Wort Gottes hingegen erweist sich als wahr, es wankt nicht und ändert sich nicht. Nur auf dieser ewig festen Grundlage fußend, kann die Welt mit ihren verführerischen Dingen und Gedanken richtig beurteilt werden. Der Psalmdichter räumt der inneren Befestigung auf der Grundlage der Heiligen Schrift einen besonderen Platz ein. Dass er sich darauf verließ, bekräftigt er in Vers 8 mit den Worten: „Befestigt ist mein Herz, o Gott, befestigt ist mein Herz!“ Ein wankendes Herz hat einen unsicheren Gang zur Folge. Doch David ließ in seinem Herzen nicht so leicht Zweifel an der Güte Gottes und der Wahrheit Seines Wortes aufkommen. Darum war er getrost und ging sicheren Schrittes durch die Gefahren hindurch. Seine innere Ruhe und seelische Stärke beruhte auf dem festen Glauben an Gott, nicht aber auf eigenen Überlegungen und menschlichen Hilfsmitteln (Ps 37,23f; 62,6f; 78,8.37; 112,8; Jes 26,3; 2. Kor 1,21.22; Kol 2,7).
Das Herz ist dann befestigt, wenn es in Übereinstimmung mit Gott bleibt und vor allem anderen den Zweck verfolgt, dem Herrn zu dienen und Ihn zu ehren. Aus Liebe zu Ihm wünscht es, mit jedem Tag diesem Ziel vermehrt zu entsprechen und dabei den Blick auf Ihn gerichtet zu halten. Auf einem solchen Weg wird die Verehrung Gottes ein ständiger Begleiter sein (Verse 9 bis 11). Die Seele ist dann stets zum Lob gestimmt, und gerade dies hat der Psalmdichter sich zum Ziel gesetzt. Dabei bleibt er nicht allein. Mit anderen vereint, rühmt er in der Öffentlichkeit den gemeinsamen Herrn und Heiland. Wenn dies den Vorrang hat, dann ist dazu immer die nötige Zeit und Kraft vorhanden; auch an Mut und Freudigkeit wird es nicht fehlen. Und Anlass zum Loben ist hinreichend vorhanden: „Denn groß bis zu den Himmeln ist deine Güte und bis zu den Wolken deine Wahrheit“ (Vers 11; Ps 105,1–5; 119,14.64). Die Erfüllung des zweiten Teils von Vers 12 steht noch bevor: Wenn der Herr Jesus das Reich Gottes auf der Erde errichtet haben wird, dann werden alle Völker der Erde Seine Herrlichkeit schauen und Ihn rühmen (Jes 51,9–11; 66,22–24).