Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 49
Die hier zur Sprache kommenden Einsichten schließen sich den Gedanken über das irdische Dasein am Schluss des vorigen Psalms an und führen sie weiter. Weder Materielles noch Geistiges, weder Ruhm und Ansehen, noch seine Seele behält der Mensch über den Tod hinaus verfügend in der Hand. Eines Tages ist seine Kraft dahin, seine Lebenszeit samt allem Wollen und Wirken ist abgelaufen. Wer die Grenzlinie, die der Tod unweigerlich zieht, bei seinen Überlegungen und Taten außer Acht lässt, der ist ein Tor (Verse 10.13.14.18.21). Er hat sich getäuscht, hat falsche Vorstellungen über sein Leben gehabt und entsprechend falsch entschieden. Er hat sich verschätzt hinsichtlich seines Daseins und seiner Verantwortlichkeit. Statt in der jetzigen Heilszeit sein Vertrauen auf Gott zu setzen und durch Glauben an Ihn und Seinen Sohn Jesus Christus Erlösung vom ewigen Tod zu erlangen (Röm 3,23.24), hat er auf die Beständigkeit von Reichtum und Ehre und auf das Gewicht seines Ansehens vertraut. Eine solche Einstellung zum Leben ist kurzsichtig und unklug; sie bleibt gleichgültig und sorglos gegenüber den Warnungen Gottes in der Heiligen Schrift. Das Gericht über die Sünde und die Notwendigkeit der Erlösung werden nicht in Betracht gezogen. Den Glauben an Gottes Wort und ein Bewusstsein der Verantwortung vor Gott als dem Schöpfer und Richter hält man für unnötig. „Dieser ihr Weg ist ihre Torheit“ (Vers 14). Denn wer Gott nicht in Erkenntnis hat, irrt um den Preis seines Lebens (Röm 1,18–28). Er kommt um wie ein Tier (Verse 13 und 21). Seine geistigen Fähigkeiten hat er nicht benutzt, um über das erdgebundene, natürliche Leben eines Tieres hinauszugelangen. Er hat das von Gott gewünschte Ziel seines Lebens, die Erkenntnis Gottes und der Wahrheit Seines Wortes und die Erlösung durch Jesus Christus verfehlt. Über den Sinn des menschlichen Lebens und über den Wert und die Vergänglichkeit des Irdischen im Vergleich zu dem göttlich Ewigen reden unter anderen die Bücher Hiob und der Prediger, ihre Parallelen zum Gedankengang des vorliegenden Psalms sind auffallend.
Die Verse 2 bis 5 können als Einleitung betrachtet werden. Angeredet werden in diesem Psalm die Menschen aller Völker und Zeiten, die Bewohner der Welt schlechthin, ob es sich nun um Reiche oder Arme, um einfache Sterbliche oder um Herrensöhne, angesehene „Männersöhne“ handelt (Verse 2 und 3). Aus dem Mund des im Nachdenken geübten Psalmdichters sollen sie Worte der Wahrheit und Weisheit vernehmen, die in Wirklichkeit die Stimme Gottes sind. Die Worte der Heiligen Schrift sind der weltlichen, menschlichen Weisheit unendlich überlegen, weil sie nicht nur vergangene Zeitläufe und mehr als ein Menschenleben überblicken, sondern die Ewigkeiten (Spr 8,1–21). Der Ursprung und der wichtigste Bezugspunkt der Schrift ist der allein weise Gott Selbst. Nur Er und Sein Wort unterscheiden mit göttlicher Sicherheit zwischen täuschendem Schein und der Wahrheit. Durch Sein Wort stellt Er dem Menschen Einsichten und Weisheiten vor, die menschlichem Forschen und Verstehen sonst nicht zugänglich sind. Sein Heiliger Geist gibt dem Aufgeschlossenen, der zur Aufnahme und Befolgung bereit ist, die notwendige Hilfestellung zum Verständnis. In Vers 5 lässt der Psalmdichter erkennen, dass er nicht nur Weisheit weitergibt, sondern selbst auch gute Übung darin hat, sein Ohr dem zuzuneigen, was Gottes Geist ihm eröffnen will, um es zu überdenken und ins Herz aufzunehmen (Spr 1,5; 2,1–8; 1. Tim 4,15f; 2. Tim 2,7).
Die Frage des sechsten und siebten Verses wird durch die darauf folgenden Ausführungen auf göttliche Weise beantwortet. Dadurch hatte der Psalmdichter selbst Ruhe und Frieden für seine Seele in allen Lebenslagen gefunden. Weil er auf Gott vertraute, fürchtete er die bösen Absichten von Menschen nicht mehr (Ps 56,4f; 118,6). Geschah ihm Unrecht, dann legte er die Angelegenheit vertrauensvoll in Gottes Hand. Es genügte ihm, dass Gott auf seiner Seite stand und das Geschehene gesehen hatte (Ps 23,4–6; 27,1f). Auch die dem Dichter nachstellenden Ungerechten besaßen ein scheinbar festes Vertrauen, das sich jedoch auf ihr Können und auf die Größe ihres Reichtums stützte (5. Mo 32,31; Jes 5,8f; Mk 10,23f; 1. Tim 6,17). Darum befasst er sich von Vers 7 an eingehend mit dem Sinn und Wert des Vertrauens auf Geld und Gut. Um das Wichtigste im Menschenleben, nämlich die Befreiung vom Tod, zu erkaufen, reichen die materiellen Güter dieser Erde nicht aus. Von ihrem Besitz hängt das natürliche Leben nicht ab, und noch viel weniger die weitere Existenz des Menschen nach dem leiblichen Tod; das eine wie das andere ist nicht käuflich zu erwerben. Der Tod ist die Vergeltung für die Sünde. Keineswegs ist die Erlösung des dem Tod verfallenen Sünders mit Geld oder Ähnlichem zu erkaufen (Vers 8). Kein Mensch hat etwas zu bieten, was diesen ‚Lohn', diese Strafe, abgelten kann. Von menschlicher Seite ist auf keine Weise das ewige Leben zu erreichen (Röm 3,10.11.23). Unendlich kostbar, das heißt: nicht bezahlbar, ist die Erlösung einer Seele vom Tod, damit der Mensch nicht nach dem Sterben dem Gericht verfällt (Vers 9). Die göttliche Erlösung war die schönste und wertvollste Gewissheit des Psalmdichters, wie der 16. Vers zeigt. Er wusste durch Glauben, dass Gott in Seiner Gnade über die nötigen Mittel verfügte, seine Seele von der Gewalt des Todes zu erlösen und ihn selbst zu Sich aufzunehmen. Hier steht der Reichtum der Herrlichkeit der göttlichen Gnade (vgl. Eph 1,6) dem irdischen Reichtum und seinem Unvermögen gegenüber (Verse 8 bis 10; Mt 16,26; Lk 12,16–21). Nur Gott ist in der Lage, einen Erlöser zu senden, der bußfertige Sünder für Gott erkauft (Off 5,9). Dazu musste der ewige Sohn Gottes Mensch werden und am Kreuz stellvertretend für die an Ihn Glaubenden den Tod erleiden.
Die Vermögenden und die Armen wissen ebenso gut wie die Weisen und die Törichten, dass sie sterben müssen. Das Streben nach Weisheit, nach Geld und Besitz ist kein Ausweg; es hat kein Heilmittel gegen den Tod zu bieten. Auch die Erhaltung eines berühmten Namens in der Literatur oder auf Denkmälern, in Straßennamen und Ähnlichem verleiht keine Unsterblichkeit (Verse 11 und 12; Pred 2,13–16). Wenn ihnen allen das gleiche Geschick widerfährt, was für einen Gewinn bringen dann die Bemühungen eines Menschen und sein verstärkter Einsatz von Zeit und Kräften? Was nützt die Anhäufung von Wissen und Vermögen aller Art? Dennoch ist dies eine häufig anzutreffende Zielsetzung befähigter Leute; sie erhoffen Befriedigung in ihrem Streben und suchen dadurch ihre Seele zu beschwichtigen. Aber das so Erworbene lässt sich weder sichern noch bleibend erhalten. „Doch der Mensch... bleibt nicht“. Gleich dem Vieh, das unentgeltlich für jemand arbeitet, muss er nach angestrengtem Einsatz ohne Lohn sterben (Vers 13; Ps 103,14–16; Pred 3,19f). Sein Ehrgeiz und jeder Besitzanspruch erlöschen. Von seinen Erkenntnissen und von der angesehenen Stellung, von seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten muss der Mensch zwangsläufig für immer Abschied nehmen. Entblößt von allem, stirbt er gleich dem Tier. Das ist das Ende aller Größe des Menschen und alles dessen, was er vermag. Es ist das Ende des lobenden Beifalls, der Ehrenbezeugungen und der Hoffnungen. Für alles dies hat er lebenslang gearbeitet und gekämpft. Wer die göttlichen Ziele des Weges nach der Heiligen Schrift nicht achtet und den eigenwilligen Weg des Menschen ohne Gott vorzieht, dem gilt das Urteil des Verses 14: „Dieser ihr Weg ist ihre Torheit“. Alles Mühen war vergeblich, wenn der Mensch sein Dasein nicht dazu benutzt hat, die Torheit solchen Lebens und Strebens im Licht des Wortes Gottes zu erkennen und in Demut den Heilsweg Gottes zu beschreiten.
Der Herr Jesus spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Dieser Weg zu Gott steht jedem Menschen offen. Doch „wer wird ihn (den Menschen allgemein) dahin bringen, dass er Einsicht gewinnt in das, was nach ihm werden wird?“ (Pred 3,22). Die Haltung der Großen dieser Welt wird durch ihre Umgebung gerne gewürdigt. „Reichtum verschafft viele Freunde... Viele schmeicheln einem Edlen“ (Spr 19,4.6). Von ihren Nachkommen werden sie gerühmt. Ihr von Erfolg gekröntes Streben erhält Beifall und wird nachgeahmt. Viele hoffen, auf gleichem Weg glücklich zu werden. Sie verneigen sich vor dem Erfolg wie vor einem Götzen, werden selbstsicher und selbstgefällig und leben ohne Gott. Ihre Hoffnungen und Ziele beschränken sich auf das, was ihnen der Zeitlauf dieser Welt bietet. An das Sterben möchten sie nicht erinnert werden und mit dem Gedanken daran können sie nicht umgehen. Sie flüchten sich in die Vorstellung, nichts anderes zu sein als ein weiterentwickeltes Tier, das von einer Verantwortung vor Gott nichts weiß. So verschätzen sie sich und verfehlen den Sinn, den der Schöpfer ihrem Dasein geben wollte.
Vers 15 beschreibt, wie der Tod mit denen umgeht, die keine Hoffnung haben und ihm hilflos preisgegeben sind. Der Tod behandelt sie als Kraftlose und Willenlose, die völlig unter seiner Macht stehen (Lk 16,26). Durch ihre Zustimmung zu Grundsätzen, die sich gegen Gott richten, und durch das Verfolgen falscher Lebensziele haben sie sich freiwillig unter die Macht der Sünde begeben. Nach ihrem Abscheiden weidet sie daher der Tod im Scheol, dem Aufenthaltsort der Abgeschiedenen. Der Tod herrscht über sie, die einstmals nach ihrer Auffassung frei waren und unabhängig entscheiden konnten, wie über ewig eingekerkerte Wehrlose. Hilflos und trostlos leidend, erinnern sie sich an ihre früheren Wohnstätten (Lk 16,27). Im Gegensatz zu ihnen erleben die Gottesfürchtigen, die den geraden Weg Gottes gewählt haben, nach ihrem Abscheiden einen ewig neuen Morgen in Freiheit und in gottseligem Frieden (Ps 37,37). Ihrer beider Verhältnisse haben sich völlig gewandelt: Die einen, die Gott nicht kennenlernen wollten, haben an einem schrecklichen Ort jede Möglichkeit zur Selbstbestimmung eingebüßt. Dagegen werden die anderen, die Gott und Sein Wort lieben, im neuen Leben mit vollkommener Freiheit und ewigem Glück belohnt.
Der ewigen Glückseligkeit der verstorbenen Gottesfürchtigen muss die persönliche Auferstehung notwendig vorausgehen. In Vers 16 spricht der Psalmdichter von seiner Auferstehung als von der bevorstehenden Erlösung vom Tod. Er und seine Mitgläubigen haben die Gewissheit, „von der Gewalt des Scheols erlöst“ und durch Gottes Macht daraus befreit zu werden. Nachdem Gott sie aus diesem Leben abgerufen hat, werden sie in Seine Wohnungen aufgenommen (Ps 116,8.9; Hos 13,14; Heb 2,13–16). Diese Gewissheit ist eine überaus große Ermutigung für jeden Gottesfürchtigen, sie gehört grundlegend zum Inhalt seines Glaubens. Angesichts schwieriger Umstände in dieser Zeit wird der Gläubige sich daher nicht der Traurigkeit ergeben und verzagen. Es betrübt ihn nicht, wenn er um sich her Bessergestellte sieht, die ein sorgloses Leben führen und zu allem, was sie bereits haben und genießen, noch hinzugewinnen (Verse 17 und 18). Wenn es ans Sterben geht, kann der Mensch nichts von all den erworbenen Herrlichkeiten mitnehmen (Pred 5,14.15; 1. Tim 6,6.7). Mahnend weist der Herr Jesus in der Bergpredigt auf die rechte innere Einstellung hin: „Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein“ (Mt 6,19–21).
Jemand mag sich glücklich preisen angesichts des Reichtums und der Genüsse, die ihm zur Verfügung stehen (Vers 19). Andere mögen ihn bewundern und dafür loben, dass er sich vieles gönnt in diesem Zeitlauf und sein Einkommen geschickt und gewinnbringend verwendet (Jes 22,13). Solche scheinen bevorzugte Menschen höherer Klasse zu sein; sie können selbst die aufwendigsten Zielvorstellungen verwirklichen. Selbstgefälligkeit und Hochmut, auch Ehrgeiz und Ruhmsucht gehen des Öfteren damit einher. Gottesfurcht und geistliches Leben tragen ganz andere Kennzeichen. In allem vollkommen ist das Leben des Herrn Jesus auf dieser Erde. Er sah überall die Vergänglichkeit, die Mängel, die Sünde, die Selbstgefälligkeit und den Eigennutz, die sich gerne hinter einer schönen Fassade verbergen. Sein Weg der Selbstlosigkeit kannte nur das Ziel, Gottes Willen zu tun und sich für andere hinzugeben bis in den Tod. Dafür hat Gott Ihn auch hoch erhoben und Ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist. Als Mensch hat Er Sich ein unübertrefflich hohes Ansehen erworben. Er hat durch Seinen Tod die Sünde besiegt und in allem Seinen Gott und Vater verherrlicht. Jedem, der an Ihn glaubt, ist Er Selbst zur Weisheit von Gott, zur Gerechtigkeit, Heiligkeit und Erlösung geworden (1. Kor 1,30). Alle, die nicht an Ihn glauben, „werden niemals das Licht sehen“ (Vers 20). Ihnen fehlt die rettende Einsicht, die Weisheit von Gott. „Wenn sie weise wären, so würden sie dies verstehen, ihr Ende bedenken“ (5. Mo 32,29). Der Tod gilt als ein harter, aber ehrlicher Lehrmeister für die noch Lebenden. Wenn Erwägungen anstehen, ob bestimmte Beweggründe gut und die Ziele wirklich erstrebenswert sind, dann sollte ihnen gegenüber der Tod und die Vergänglichkeit der Dinge in die Waagschale geworfen werden. Im Grunde erreicht ein Mensch, dessen Streben nur zeitlichen Gütern, Vorteilen und Erkenntnissen gilt, kaum etwas anderes als das Vieh, das vertilgt wird (Vers 21).