Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 45
Der Ausdruck Maskil in der Überschrift deutet an, dass dieser Psalm nicht nur ein Beispiel vollendeter Dichtkunst ist, sondern geistliche Belehrung vermittelt. Ohne Glauben und die Hilfe des Geistes Gottes ist sein Inhalt nur ungenügend zu erfassen. Überdies ist die Liebe zu Christus, dem Messias Israels, dem Sohn des Menschen, eine notwendige Voraussetzung für das Verständnis dieses Ihn betreffenden Psalms. Auffällig ist die starke innere Anteilnahme des Psalmdichters beim Beschreiben der Person des von Gott gesalbten Königs. Der Psalm befasst sich sehr eingehend mit Seiner majestätischen Person und gleichzeitig mit denen, die mit Ihm in enger Verbindung stehen. Der Blick des Glaubens wird vom Heiligen Geist ganz auf den Gesalbten, den Christus, ausgerichtet. Obwohl Er hier als König auf der Erde in Erscheinung tritt, wird Er auch als Gott selbst angeredet (Verse 7 und 8, zitiert in Heb 1,8.9). Dadurch wird Sein Eintreten als Mittler zwischen Gott und Menschen und als Messias und Erlöser Israels deutlich angesprochen. Er hat Genossen (Vers 8), die Seine Jünger sind, zunächst Getreue aus Israel, die Ihn zur Entfaltung Seiner Herrschaft auf der Erde erwarten, um Ihn dann zu begleiten. Seine Person verkörpert die Hoffnung der an Gott Glaubenden; mit Ihm ist ihr Herz und ihr Leben aufs Innigste verbunden. Er wird der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen und sie überall durchsetzen. Er allein hat diesen Kampf zu führen und wird ihn entscheiden, denn der Sieg gehört Ihm allein. Gleichwohl kommt Sein Sieg den Vielen, die Ihn lieben und Ihm folgen, zugute. Obwohl Er der Sohn des Menschen ist, besitzt Er zugleich das Wesen Gottes. Er ist daher der allein vollkommene Mensch in himmlischer, göttlicher Schönheit. Es ist die Freude Gottes, sich in diesem als Mensch und Gott Vollkommenen zu offenbaren. Gott hat Ihm eine herrliche, über alles erhabene Stellung gegeben und Ihn als König der Könige eingesetzt; Ihm ist alle Macht gegeben (Off 1,5; 17,14; 19,16). Dieser Gesalbte wird die Sache Gottes in der ganzen Schöpfung zum Ziel führen. Unendlich weit überragt Er alle Herrscher, die Israel und die Weltgeschichte jemals hervorgebracht haben (Verse 3 und 7). Indessen bleibt Seine Sendung nach göttlicher Verheißung mit dem Königtum speziell über Israel fest verbunden.
Zunächst spricht der Verfasser von der Stimmung, die sein Herz bewegte, als er den Psalm niederschrieb. Durch den Heiligen Geist geführt, unternahm er es, in einem Lied der Liebe den göttlichen König, den Messias und Christus, zu beschreiben. Sein Lied gilt Dem, dessen Name ewige Herrlichkeit zum Ausdruck bringt, weshalb Er auch in alle Ewigkeit gepriesen werden wird (Verse 2 und 18; Ps 72,17). Als Er auf diese Erde gekommen war, erging eine Stimme aus den Himmeln: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe“ (Mt 3,17). Der Prophet Jesaja spricht vorausschauend von Seinem Kommen in den Kapiteln 9,5.6 und 11,1–5, „weil er seine Herrlichkeit sah und von ihm redete“ (Joh 12,41). Wenn der Herr Jesus nicht in Gleichgestalt der Menschen auf diese Erde herabgekommen wäre (Röm 8,3; Phil 2,7), dann würde es keinen Sinn ergeben, Ihn mit Menschensöhnen zu vergleichen, wie es hier in Vers 3 geschieht. Erst dadurch, dass Er als Mensch auf dieser Erde war und als solcher zum Himmel auffuhr, erhält das Wort in Vers 3 seine wahre Bedeutung. Gar keiner ist Ihm gleichzustellen in Seiner Erscheinung als Mensch, die herrliche, göttliche Vollkommenheit offenbart, und niemand kommt Ihm gleich in der Anmut und Holdseligkeit des Redens und in der Weisheit und Machtfülle Seiner Worte (Jes 50,4; Lk 4,22; Joh 7,46; 10,16; 11,43). Niemals war jemand in seinen Eigenschaften so anziehend wie Er. Gott gefiel es, in Jesus, Seinem ewigen Sohn, einen vollkommenen Menschen vorzustellen mit makellos guter Gesinnung. Der Mensch Jesus Christus besitzt in jeder Beziehung und für immer die höchste Anerkennung Gottes, und Er sitzt zur Rechten Gottes, der Ihn zum Erben aller Verheißungen zugunsten gläubiger Menschen gemacht hat und Ihm eine Hoheitsstellung ohnegleichen gegeben hat. Ihm ist von Gott, dem Vater, die Austeilung vollkommenen Segens übertragen (Ps 72,17). Wer Ihm angehört und Ihn zum Heiland und Retter hat, der nimmt teil an den ewigen Segnungen, die Gott denen zugesagt hat, die an Ihn glauben und Ihm vertrauen.
In den Versen 4 bis 6 tritt der Gesalbte als ein Held hervor, mit Pracht und Majestät geschmückt, in göttlicher Machtfülle. Mit dieser Machtstellung ausgestattet, wird Er in der Zukunft die Herrschaft Gottes in Seinem Reich der Gerechtigkeit und des Friedens errichten (Ps 21,6; 110,2.5f; Jes 9,6; 63,1; 2. Thes 1,7f; Off 19,11–16). Für Seine Feinde bedeutet der Sieg des Guten Gericht und Verderben. Das Gemenge von bösen und guten Zuständen, die in der jetzigen Zeit oft in verworrener Weise nebeneinander bestehen, findet durch Sein zukünftiges Auftreten als Richter sein Ende. Eine ebenso absolute Trennung wird vollzogen zwischen der Lüge und der Wahrheit (Eph 4,21), zwischen Hochmut und Demut, zwischen Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit (Vers 5; Jes 26,8–10; 42,4; Jer 23,6; Joh 5,22.27). Reinheit und Heiligkeit werden ans Licht und zu Ehren kommen. Sein Gerichtsurteil wird jedes Übel aufdecken und die Erde von Grund auf reinigen (Jes 2,12–21; 32,16f; Dan 7,9.10; Apg 10,42). Seinen ‚Pfeilen' entgeht nichts. Selbst das im Herzen Seiner Feinde Verborgene wird aufgespürt. Alle Feinde liegen Ihm dann zu Füßen (Verse 5 und 6; Ps 97,7f; 110,1). Der ganzen Erde kann nichts Besseres widerfahren, als dass Christus und das Recht des Himmels herrschen. Gegensätze zu Seiner Macht, zu Seiner Wahrheit, zu Seiner Sanftmut und Gerechtigkeit und zum Seinem Wesen überhaupt, gibt es dann nicht mehr. Nicht das geringste gegen Ihn Gerichtete kann weiterbestehen, nachdem Er die Herrschaft angetreten hat.
Nur ein einziger Thron steht ewig fest; es ist der Thron Gottes. Jesus Christus, der König Israels und Sohn Davids, nimmt den Platz auf diesem Thron im Reich Gottes auf der Erde ein (Lk 1,32.33). Christus wird in Vers 7 als Gott Selbst angesprochen: Er ist Gott von Ewigkeit her, Er, der zur Rechten Gottes sitzt (Ps 93,1.2; Heb 1,3.8–13). Unter Seiner Herrschaft gedeihen Aufrichtigkeit, Geradheit und Gerechtigkeit, darum ist ewiger Frieden überall sichergestellt (Vers 7; Ps 99,4; Jes 9,6; 11,4.5; 61,8). Das Recht, die Sanftmut und die Wahrheit werden zum Gemeingut aller. Der Messias hält Sein Reich nicht in erster Linie wie in der menschlichen Geschichte üblich, mit Gewaltmitteln in Ordnung, sondern durch Seinen Einfluss auf die innere Einstellung der Menschen, durch ihre Aufrichtigkeit und Liebe zum Recht (Jer 31,33). In der Liebe zur Gerechtigkeit geht Christus allen voran (Vers 8; Heb 1,9). Sein Wesen prägt den Charakter Seines Reiches. Durch Seine Vollkommenheit ist Er der den Gedanken Gottes entsprechende Herrscher. Auf der Erde hat noch niemals jemand in einer Weise regiert, die Seiner Herrschaft zu vergleichen wäre. Die Grundsätze Seiner Regierung haben bereits jetzt unter dem heutigen Volk Gottes, den Gläubigen der christlichen Gnadenzeit, Gültigkeit und sollen zur Ausübung kommen. Wer sie befolgt, kann des Segens des Herrn sicher sein und wird an Seinem Frieden und Seiner Freude teilhaben. Der Schluss des achten Verses hebt den Unterschied zwischen dem König und Seinen Genossen hervor. Christus, der Gesalbte Gottes, steht hoch über allen, die Ihm angehören. Er hat in allem den Vorrang (Kol 1,15.16.18). Er ist der Erstgeborene, der Höchste der Könige der Erde (Ps 89,28; Off 1,5; 19,16). Sein Name ist ein ausgegossenes Salböl, angenehm an Duft sind Seine Salben (Hld 1,3). Das Freudenöl, mit dem Er von Gott gesalbt ist, deutet die Freude an, die Ihm in der Mitte Seines irdischen Volkes und in der Gemeinschaft mit Seinen Genossen bereitet wird. Das Glück und die Freude, die nun Viele mit Ihm genießen, hatte zur Voraussetzung, dass Er den schweren Weg zum Kreuz und in den Tod ging, den Er stellvertretend für sie erlitt. Das Ganze ist Sein Werk der Liebe und gleichzeitig die Erfüllung des Ratschlusses Gottes. „Von der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen“ (Jes 53,11).
„Myrrhe und Aloe, Kassia sind alle deine Kleider“ (Vers 9). Der Wohlgeruch, der vom Wesen und Wirken des Messias ausgeht, verbreitet sich überall und erfreut Gott und Menschen. Nach allen Richtungen hin strömen die Vortrefflichkeiten Seiner unvergleichlichen Person aus. In Ihm ist die ganze Fülle des vollkommen Wertvollen vereint, und sie kommt allen zugute. Die mit Ihm Vereinten, die in Seiner Gegenwart weilen, sind nicht mit eigener Ehre, sondern mit Seiner Herrlichkeit geschmückt (2. Thes 1,10; 1. Joh 3,2), sie sind dadurch gekennzeichnet (Phil 3,21). Es gibt nichts Schöneres und Kostbareres, als Seine Nähe aufzusuchen und den Ort Seiner Wohnung mit Ihm zu teilen. Jetzt ist Sein Reich Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. Die Ihn lieben, stehen in naher, vertrauter Beziehung zu Ihm, ähnlich derjenigen zwischen Bräutigam und Braut. Sie haben ihre alten Verbindungen abgebrochen und kennen nur noch Ihn, ihren Herrn und Heiland (Verse 10 und 11; Lk 14,33). Diese Freude genügt ihnen vollkommen. So lässt auch die Verbindung mit Christus alles andere vergessen und wirft die Dinge dieser Welt als hinderlichen Ballast weg. Indessen haben die Ansprüche Christi an die mit Ihm Verbundenen, für die Er sich hingegeben hat, absoluten Charakter; sie betreffen die ganze Person. Er zieht Seine Geliebten zu Sich Selbst hin und führt sie in Verhältnisse, deren Mittelpunkt Er Selbst ist. „Vergiss dein Volk und das Haus deines Vaters!“ (Vers 11). Hat Er Selbst nicht sehr viel mehr aufgegeben, sozusagen alles verkauft (Mt 13,46), um mit erlösten Menschen für immer verbunden zu sein? „Deswegen wird ein Mensch den Vater und die Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein. Dieses Geheimnis ist groß; ich sage es aber in Bezug auf Christus und die Versammlung“ (Eph 5,31.32). Die mit Ihm Verbundenen lernen das, was der Herr Jesus an praktischer Heiligkeit in Absonderung für Ihn erwartet, von allem Andersgearteten zu unterscheiden. In dieser engen Beziehung sind Eigenwille und Unabhängigkeit ganz unmöglich, erst recht Trübungen und Unterbrechungen der Gemeinschaft. Die Braut gehört ganz zum Bräutigam, sie passt zu Ihm, bekleidet mit einem Hochzeitskleid. Nur Ihm gehört ihre Liebe. „Er ist dein Herr: So huldige ihm!“ (Vers 12). Huldigung ist die allein geziemende Haltung dem Herrn gegenüber; sie drückt Verehrung, Hochachtung und Unterwerfung aus. Gleichzeitig einem anderen Herrn dienen zu wollen, ist gänzlich ausgeschlossen. Er ist das Haupt über alles.
Der abschließende Teil des Psalms (Verse 13 bis 18) befasst sich vor allem mit Christus als Messias und mit den Treuen aus Israel, die in zukünftiger Zeit als ein Rest dieses Volkes aus der noch bevorstehenden Drangsalszeit übrigbleiben. Wenn Christus zukünftig als Messias in Herrlichkeit auf dieser Erde erscheint, dann steht die Schar der Ihn erwartenden gläubigen Juden und vor allem die Stadt Jerusalem in engster Beziehung zu Ihm (Jes 54,4–7 und 62,4.5.12; Hos 2,16–18; Mich 4,7f). „An jenem Tag wird zu Jerusalem gesagt werden: Fürchte dich nicht! Zion, lass deine Hände nicht erschlaffen! Der HERR, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender Held. Er freut sich über dich mit Wonne, er schweigt in seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel“ (Zeph 3,16f). Im Einklang mit dieser Aussage kann ‚die Königin zu deiner Rechten in Gold von Ophir' in Vers 10 dieses Psalms als die Stadt Jerusalem angesehen werden und die „Jungfrauen, die Gefährtinnen“ als die übrigen Städte Judas (Vers 15; Hes 16,7–14). Jerusalem ist unter allen Städten und Nationen der Erde die an bevorzugter Stelle stehende Stadt des Königs der Könige, sie ist von Ihm besonders erwählt (Ps 78,68f; 132,13; Sach 1,17; 2,16). Sie wird von den vielen übrigen Städten und von allen Bewohnern der Erde als Sein spezielles Eigentum anerkannt werden (Vers 13; Jes 49,22f; Mich 4,1–8; Sach 8,20–23). Gleich einer Braut ist sie Ihm am nächsten, auch näher als sie es in vergangener Zeit jemals war (Vers 15; Jer 2,2). Die Gegenwart des Messias macht Jerusalems Herrlichkeit aus (Jes 12,4–6). Demgegenüber ist ihre ehemalige Größe in den Schatten gerückt. Es wird sicherlich unvergesslich bleiben, dass die Väter im Glauben die Empfänger der Verheißungen Gottes sind und daher in Ehren zu halten sind. Doch dann werden an ihrer Stelle Söhne da sein, die zu Fürsten im ganzen Land eingesetzt werden (Vers 17; Jes 54,12.13).
Christus Jesus ist Gottes Sohn von Ewigkeit. Für solche, die Ihn anerkennen und lieben, wird er hier einst ein ewiges Reich errichten. Dafür wird Er ewig gepriesen werden (Vers 18; Ps 67,4–6; Röm 15,10–12). Das Anschauen der Vorzüge, der Herrlichkeit und Majestät dieses Königs gibt Anlass, Ihn anzubeten. Über die in Fülle vorhandenen materiellen Dinge hinaus werden die dann Lebenden einen großen geistlichen Gewinn haben und viel Segen empfangen. Sein Erscheinen in der Zukunft wird Seinen Sieg und Seine Herrlichkeit offenbaren, zugleich auch die Herrlichkeit derer, die durch Ihn errettet worden sind und Ihm besonders nahestehen. Er wird Jerusalem in Frohlocken verwandeln und Sein Volk in Freude (Ps 66,12; Jes 65,17.18). Für jeden ist dann offenkundig, dass alles Bestehende von Seiner Macht und von Seiner Güte und Liebe abhängt. „Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger, gerecht und wahrhaftig deine Wege, o König der Nationen! Wer sollte nicht dich, Herr, fürchten und deinen Namen verherrlichen? Denn du allein bist heilig; denn alle Nationen werden kommen und vor dir anbeten, denn deine gerechten Taten sind offenbar geworden“ (Off 15,3.4).