Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 44
Ein kurzer Überblick über den Gesamtinhalt wird hilfreich sein. Vertreten durch den Psalmdichter, spricht in dem ganzen Psalm eine Gemeinschaft von gottesfürchtigen Gläubigen zu Gott. Sie blicken dankbar auf vergangene Zeiten des Anfangs zurück, als die gute Verbindung ihrer Vorfahren zu Gott noch Bestand hatte. Mit Seiner entscheidenden Unterstützung nahmen ihre Väter damals das Land ihrer Gegner in Besitz, was ihnen aus eigener Kraft ganz unmöglich gewesen wäre (Verse 2 bis 4). Durch Wunder und in außergewöhnlichen Offenbarungen Seiner Allmacht bewies Gott Seine Liebe und Sein Wohlgefallen an ihren Vätern. Nicht zuletzt aufgrund dieses ermutigenden Rückblicks vertrauen sie nun in schwerer Zeit weiterhin darauf, dass Er die Beziehung zu denen, die an Seine Macht und Güte glauben, fortsetzen werde. Sie wollen sich jedenfalls Ihm unterordnen. Sie erkennen Ihn als ihren König und ihren Gott an, setzen ihre Hoffnung allein auf Ihn und erwarten von Ihm genauso große Wunder, wie Er sie nach dem Bericht der Heiligen Schriften damals zugunsten ihrer Vorväter gewirkt hatte. Die von Ihm kommende Rettung würde ihnen zum Anlass werden, Seinen Namen zu rühmen (Verse 5 bis 9). Die Verse 10 bis 17 beschreiben die Ursachen für die große äußere Bedrängnis, in die sie nun geraten waren. Vordergründig sind es der Sieg der Feinde mit nachfolgenden Plünderungen und die grausame und erniedrigende Behandlung seitens ihrer Feinde, von denen sie mit Hohn und Spott überschüttet wurden. Diese schweren Schädigungen trafen sie unter den Augen ihres Gottes. Offenbar hielt Gott die Züchtigung für angebracht, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst waren. Warum Er die zermalmenden Schläge über sie ergehen ließ, blieb eine offene Frage. Was über sie gekommen war, konnte nicht als Bestrafung gemeint sein, weil sie den Bund Gottes, den Pfad Gottes und Seinen Namen hoch geachtet hatten; sie hatten sich nicht mit Götzen eingelassen und lebten im Glauben unter Seinen alles erforschenden Augen (Verse 18 bis 23). Trotzdem waren sie nun aufs Ärgste niedergeworfen. Die Verse 24 bis 27 zeigen, dass sie ungeachtet der ihnen unverständlichen Fügungen Gottes weiter völlig auf Ihn vertrauten und Ihn um Hilfe baten. Ihr Glaube blieb unerschütterlich fest, und somit hatten sie die harte Probe bestanden.
Der Psalm trägt den Charakter eines echten Glaubensbekenntnisses, das ohne Zögern in die Tat umgesetzt wird. Der geistliche Standpunkt, den diese treuen Gottesfürchtigen gemeinsam einnahmen, beruhte auf ihrer fortgeschrittenen Erkenntnis Gottes. Die bedrückenden Leiden der derzeitigen Regierungswege Gottes konnten sie nicht verstehen, weil ihrerseits keine erkennbare Veranlassung dafür vorlag. Dennoch misstrauten sie Ihm nicht, weil sie von Seiner unwandelbaren Güte und Bundestreue überzeugt waren. Die großen Taten Gottes in der Vergangenheit lieferten genügende Beweise dafür. Was in der Gegenwart geschah, konnte dies nicht widerlegen (Vers 2; Ps 77,10–16; 135,5ff; 143,5–7; Jes 51,9–11). So unfassbar Großes wie damals bei der Inbesitznahme des Landes durch Israel konnte Ihr Bundesgott auch jetzt zu ihrer Rettung tun (Ps 80,7ff; 111,6; Jos 11,16–23). Ihr Glaube vergegenwärtigte die früheren Großtaten Gottes. Die damaligen Siege waren nicht der Schlagkraft Israels, sondern allein der Macht des Gottes zuzuschreiben, der nach wie vor ihr Bundesgott war (Verse 3 und 4; 2. Mo 15,6; 5. Mo 8,17; 9,4). Der Gott, der auch sie liebte, hatte sich damals ihren Voreltern zugeneigt, weil Er sie auserwählt hatte, Sein Eigentumsvolk zu sein. Seine Liebe konnte sich denen gegenüber, die Ihm treu waren, niemals ändern (5. Mo 7,7–9). Ihr Glaube hielt daran fest, dass Sein Arm so stark war und das göttliche Licht so strahlend über ihnen blieb wie in der Anfangszeit ihres Volkes (Ps 136,10–22; 2. Mo 6,6f; Jes 60,19).
Der Gott, der sich ihren Vätern auf wunderbare Weise offenbart hatte, war nach wie vor Israels König, dem sie huldigten, und blieb ihr Gott, dem sie mit Ehrfurcht dienten. Als der rettende Gott bleibt Er ewig Derselbe (Vers 5; Neh 9,6–15; Ps 17,7; 43,2; 89,18). Zugleich ist Er der Gott der ganzen Erde, der gebietet und von Ihm kommt Hilfe und Heil. Einst war Er Jakobs Rettung gewesen; später hatte Er Nationen vor Israel vertrieben. In Seiner Treue würde Er das, was Er einst aufgerichtet hatte, in dem gegenwärtigen Notstand nicht sich selbst überlassen. Zudem wäre es ganz unverständlich, wenn ein König, dazu noch ein allmächtiger, dem das ganze Weltalls zu Gebote steht und gehorchen muss, sein Eigentumsvolk im Stich ließe. Davon fest überzeugt, wandten sich die Gottesfürchtigen gemeinsam betend an Ihn. Die Zeiten hatten sich gegenüber den Anfängen ihres Volkes gewandelt und somit auch die Art der Erprobung des Glaubens. Doch ihr Vertrauen wurde dadurch nicht geringer, sondern eher gestärkt, wie die Verse 6 bis 9 deutlich machen. Beachtenswert ist, dass sie trotz ihrer misslichen Lage keine Vorwürfe gegen Ihn vorbrachten. Angesichts der Bedrohung durch äußere Feinde besannen sie sich auf den unveränderlichen Wert ihres Glaubens und erinnerten sich an die Verheißungen Gottes und Seines Bundes mit ihnen. Ihr geistlicher Standpunkt festigte sich und gewann an Klarheit. Ganz auf die Hilfe Gottes angewiesen, wurden sie sich ihrer Abhängigkeit von Ihm vermehrt bewusst. Davon legt ihr Gebet ein klares, kraftvolles Zeugnis ab. Obwohl sie noch keine Besserung ihrer Lage wahrnahmen, harrten sie aus und rechneten auf Gott. Durch Ihn, durch Seinen Namen erhofften sie ihre Rettung, nicht aber durch ihren Bogen und ihr Schwert (Hos 1,7). Nicht sie würden enttäuscht werden, sondern ihre Feinde (Verse 7 und 8; 5. Mo 33,29; Ps 20,8–10; 76,4f). Ungeachtet der schweren Last, die sie zu tragen hatten, waren sie glücklich darüber, dass ihre Erprobungen letztlich zum Ruhm und zur Ehre Gottes gereichten und dass sie Ihn in Ewigkeit preisen würden (Vers 9). Nur ein lebendiger Glaube vermochte die Not der Gegenwart so wirksam zu überwinden. Ihr geistlicher Gewinn wog schwerer als der äußere Verlust.
In den Versen 10 bis 17 halten sie ihre Not Gott vor und beklagen, dass Er es offensichtlich unterlassen hat, ihnen beizustehen. Gleichwohl schütten sie im festen Glauben an Seinen Namen ihr Herz vor Ihm aus und hoffen auf Sein Mitempfinden. Allem Anschein nach hatte Er sie in den Auseinandersetzungen mit ihren Feinden nicht begleitet, hatte ihnen nicht die nötige Kraft zum Widerstand gegeben, sondern gab sie der Tötung hin und zerstreute sie unter die heidnischen Völker. Sie fühlten sich unterbewertet und billig verkauft (Vers 13). Das Gegenteil ihrer Erwartungen war eingetreten. Dies schrieben sie weder ihren Feinden noch eigenem Versagen zu, sondern sahen es als von Gott veranlasst an. Sie unterstrichen dies durch ein acht Mal wiederholtes „du“, du hast es über uns verhängt. Dennoch war dies kein Aufbegehren gegen Gott (1. Pet 5,6).
Die Verse 14 bis 17 beschreiben, wie sehr sie unter dem Hohn ihrer Umgebung litten (Ps 79,4). Sollte es denn nicht mehr wahr sein, dass Israel Gottes Augapfel war, auf den Er Acht gab und den Er behütete? (5. Mo 32,10). Ihre Klagen erwecken den Eindruck, dass sie ihren Bundesgott für verpflichtet hielten, ihnen zu Hilfe zu eilen. Doch Gott lässt Sich durch eine noch so treue Befolgung Seines Wortes und durch die Ergebung in Seinen Willen nicht zu einer Gegenleistung verpflichten; dies hatte schon Hiob zu lernen gehabt. Auch das Kopfschütteln der Gottlosen, deren Spott und Schmähreden über die Lage der Gottesfürchtigen zwingt Gott keineswegs einzugreifen. Dies zeigt sich auch in Seinem Warten während des Leidensweges Jesu. Gott lässt sich nicht herausfordern, selbst wenn sich die Zustände bis zum Übermaß verschlimmern. Die Schuldlosigkeit der Betroffenen ist für Ihn noch kein Anlass, als Richter dazwischenzutreten und die hohnlachenden Übeltäter zu bestrafen. „Denn es ist besser, wenn der Wille Gottes es will, für Gutes tun zu leiden als für Böses tun“ (1. Pet 3,17; 4,14–19). Der Gläubige hat zu lernen, dass sich sein Leben in den Umständen dieser Welt nicht dank seines Glaubens günstiger gestaltet als der Weg der Menschen, die Gott nicht kennen. Tatsächlich hat er als Glaubender mit vielerlei Erprobungen zu rechnen, und dies sogar häufig in ungewöhnlichem Maß (Mk 10,28–30; Phil 1,29f; 2. Thes 1,4f; 2. Tim 3,11.12; 4,5; Heb 10,32f). Gott verfolgt dann, wenn Er den Gläubigen leiden lässt, immer weit höhere Ziele als das, was ein angenehmes Leben in Gesundheit und reichem Genuss an allem Guten bieten kann.
Manche Prüfungen treffen die Gläubigen deshalb, weil sie erkennbar zu Gott halten und von Außenstehenden Ihm zugerechnet werden. Vieles kommt über den Gläubigen, was seiner weltlichen Umgebung unverständlich ist und bei ihr den Eindruck erweckt, Gott habe gerade dem Frommen Seine Gunst versagt (Vers 25). Sie fragen: „Wo ist dein Gott?“ (Ps 42,4). Dann ist es in besonderer Weise zu Gottes Ehre, wenn die geprüften Gläubigen den Pfad des Glaubens auch unter schwerster Belastung nicht verlassen (Verse 18 bis 20; Hiob 23,11; 31,5–8; Jes 38,3). Die Gläubigen, die in dem vorliegenden Psalm ihre Erfahrungen schildern, kannten Gott als den, der alles erforscht und vor dem nichts zu verbergen ist. Währenddessen wusste ihr Gott, dass sie sich nicht von Seinem Wort abwenden und dass sie weiterhin in Gottesfurcht ihren Weg gehen würden. Zurzeit aber waren sie dem Tod preisgegeben und wie Schlachtschafe geachtet (Verse 20 bis 23). Wenn sie aber unschuldig vor Ihm dastanden, dann konnte es nicht anders sein, als dass sie von Ihm zu diesem Leiden ausersehen waren und auf Seine Veranlassung in die schwierige Situation gekommen waren (Verse 10–12). Ihr Leiden konnte nicht der Ausdruck Seines Zorns sein. Andere ihnen unbekannte Pläne Gottes mussten die Ursache sein; nur um göttlicher Ziele willen konnte dieses Elend über sie hereingebrochen sein. Im gleichen Sinn reden verschiedene Stellen des Neuen Testaments, um das Leiden von Gottesfürchtigen zu erklären, die sich nicht beirren lassen und nicht daran denken, an der „Liebe des Christus“ irgend zu zweifeln (Röm 8,35–37; 1. Kor 4,9ff; 2. Kor 4,7ff; vergl. Ps 69,10f; Jer 15,15). Auch der Weg Jesu war ein Weg des Leidens (Lk 24,26; Apg 8,32.33; 1. Pet 2,20.21), und deshalb auch der Weg Seiner Jünger (Joh 15,20; Kol 1,24; 1. Thes 3,3), und ebenso der Weg der Propheten, die vor ihnen waren (Mt 5,11.12; Apg 7,52).
In den Versen 24 bis 27 rufen die Gottesfürchtigen gemeinsam zu ihrem Gott, Er möge sich ihnen auf sichtbare Weise zuwenden und sie aus ihrem Elend erlösen. Als schwache Menschen flehen sie dringend um Sein Erwachen, Aufstehen und Eingreifen (Ps 13,2; 40,18; 90,13–16; Mk 4,38). Das lange anhaltende Elend zermürbt sie und zehrt ihre letzten Kräfte auf. Sie liegen völlig am Boden und bitten Ihn, sie um Seiner Güte willen nicht länger leiden zu lassen. Indessen erlitt ihre Gemeinschaft mit Gott durch die Prüfungen keinen Schaden, sie wurde durch das Leiden eher noch vertieft. Sowohl sie als auch wir dürfen überzeugt sein, „dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38.39). Wir dürfen unsere Zukunft getrost in Gottes Hände legen (Heb 4,15.16).