Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 43
Der Psalm steht zu dem vorhergehenden in enger Beziehung. Er zielt in die gleiche Richtung und scheint von demselben Dichter zu stammen. Er wiederholt Gedanken des Psalms 42 oder setzt sie fort. Ein Unterschied besteht insofern, als Psalm 43 mit Ausnahme des letzten Verses ein zusammenhängendes Gebet ist. Damit die Seele im Glauben standhaft bleibt, muss der Gottesfürchtige täglich von neuem im Gebet das Angesicht Gottes aufsuchen, um das Bewusstsein von Seiner Nähe aufzufrischen. Dann wird ihm geschehen, wie er geglaubt hat (2. Kön 4,3–7; Mt 8,10.13). Der Dichter legt betend seine Angelegenheiten in die starke Hand Gottes und erwartet die Hilfe von Ihm. Dabei geht es ihm nicht nur um sein äußeres Wohlergehen, sondern auch um Führung von oben und um den Segen Gottes für Geist und Seele. Offensichtlich liegen ihm die Dinge Gottes und Seine Verehrung am Herzen. Er hält sich verpflichtet, Ihm zu dienen, und dies mit Freuden, weil Gott es von ihm erwartet.
Wer Gott auffordert, Recht zu sprechen oder ihm Recht zu verschaffen, muss sich darüber klar sein, dass er zugleich vor Den hintritt, der auch sein Richter ist, und dass er Gott Anlass zur Beurteilung seiner selbst gibt. Es ist, als ob er darum bitten würde: „Richte mich“ (oder: Urteile über mich! Ps 26,1). Der Psalmdichter war in einen Rechtsstreit verwickelt worden und bittet Gott um Beistand. Vermutlich wünschte er sich eine Rechtfertigung, indes sieht Gott nicht die Person an im Gericht. Offenbar waren seine Gegner gottlose Leute, die keine Barmherzigkeit kannten und durch Betrug und Unrecht gekennzeichnet waren. Von solchen Leuten durch einen Schuldspruch befreit zu werden, war ein verständlicher, berechtigter Wunsch. Überdies war deren Lügenhaftigkeit und Frevel Gott zuwider. Doch die Entscheidung überließ der Psalmdichter dem Urteil und dem Eingreifen Gottes (Vers 1; Ps 10,7f; Spr 20,22; Röm 12,19), wobei er auf baldige Hilfe hoffte. Er selbst war zu schwach, um sich zu wehren, aber sein Gott ersetzte den Mangel durch eine Stärke, die dem Gottesfürchtigen Zuflucht und Schutzwehr garantiert (Vers 2; Ps 42,10; 73,26–28). Warum hatte Gott diese Übeltäter bisher gewähren lassen, so dass sie ihr gesetzwidriges Treiben fortsetzen konnten? (Hiob 24,13–16). Der Dichter fragte sich: „Warum gehe ich trauernd umher wegen der Bedrückung des Feindes?“ (Vers 2). Er hatte darunter zu leiden wie ein von Gott Verworfener, obwohl ihm im Gegensatz zu seinen Gegnern nichts vorzuwerfen war. In diese Situation kann gleich dem tadellosen Hiob jeder Gläubige geraten, ohne etwas verschuldet zu haben. Dann ist es gut, die Rechtssache dem zu überlassen, der das Recht geschaffen hat und zugleich der beste Verteidiger ist. Das Ausharren im Glauben während einer rechtlichen Auseinandersetzung wird jedenfalls schließlich dazu führen, dass Gott jeden Schaden mehr als ersetzt. Und der Glaubende hat bewiesen, dass ihm Gottes Zustimmung so viel mehr bedeutete als die eigenen Rechtsansprüche.
Als schönes und äußerst lohnendes Ziel seines Weges bezeichnet der Psalmdichter den heiligen Berg Gottes und Seine Wohnungen. Wir sehen hier die Empfindungen des zukünftigen jüdischen Überrestes vorgeschattet. Die heilige Nähe Gottes, der Gottesdienst, die Ruhe und der Frieden, die man dort genießt, sind die Erfüllung aller seiner Wünsche (Vers 3; Ps 15,1f; 46,5; 84,2f; 132,5–9). Er sehnt sich danach, dorthin zu gelangen, und bittet Gott, ihn durch Sein Licht und Seine Wahrheit zu leiten, damit er dieses Ziel erreichte (Vers 3; Ps 57,4; 119,105; Joh 8,12; 14,6; 1. Joh 1,7). Mit Gottes Hilfe wird der Bittende auch die am Weg lauernden Gefahren erkennen; so gewinnt er die beste Orientierung. Durch das göttliche Licht und die ewige Wahrheit geleitet, wird er Gott vermehrt erkennen, und dabei auch sein eigenes Herz. Durch weiteres Licht von oben wird er Segen empfangen und urteilsfähiger werden. Wie gerne wird der Herr solche Bitten eines aufrichtigen Herzens erfüllen und ihm den Weg „zum heiligen Berg“ und „zum Altar Gottes“ ebnen! (Vers 4; Ps 27,6; 63,2.3). Doch ohne die ausdrückliche Führung von oben wollte er nicht in die heilige Gegenwart Gottes gelangen. Er dachte nicht daran, sich den Weg selbst zu suchen oder von Menschen dorthin geleitet zu werden, er wollte auch nicht lediglich einer überkommenen Gewohnheit folgen. Gott selbst, Sein Wort und Sein Geist, mussten es sein, wodurch er in die Gegenwart Gottes kam. Das ist auch heute die rechte Führung auf dem Weg zur Gott gemäßen Anbetungsstätte.
Gott war die Stärke des Psalmdichters und seine Zuflucht. Doch darüber hinaus hatte er auch eine bleibende Stätte der Anbetung vor Augen, wo Gott für immer seine Jubelfreude ist, wenn er einst die Wohnungen Gottes erreicht haben wird. Diese von Gott geschenkte Stellung als Anbeter wollte er gerne einnehmen, aber nicht an einem beliebigen, selbst gewählten Ort, sondern an dem Ort der Gegenwart Gottes und Seines Altars. Das ist auch der Ort der Gnade und des Segens, der göttlichen Wahrheit und Heiligkeit. Angesichts der herrlichen Gewissheit, an dieser Stätte des Segens weilen zu dürfen, erscheint das gegenwärtige Leid, das den Psalmdichter getroffen hatte, geringfügig. „Denn das schnell vorübergehende Leichte unserer Trübsal bewirkt uns ein über jedes Maß hinausgehendes, ewiges Gewicht von Herrlichkeit, indem wir nicht das anschauen, was man sieht, sondern das, was man nicht sieht; denn das, was man sieht, ist zeitlich, das aber, was man nicht sieht, ewig“ (2. Kor 4,17.18). „Denn ich werde ihn noch preisen, der die Rettung meines Angesichts und mein Gott ist“ (Vers 5).