Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 41
„Glückselig die Barmherzigen, denn ihnen wird Barmherzigkeit zuteilwerden“ (Mt 5,7), so sagt der Herr Jesus in der Bergpredigt, und diese Aussage stimmt mit dem Inhalt der Verse 2 bis 4 im vorliegenden Psalm überein. Dem Barmherzigen werden hier weitreichende Zusagen gemacht, weil er „Acht hat auf den Armen“ (Vers 2). Wer sich des Bedürftigen annimmt, wird selbst von Gott gesegnet werden, denn „die segnende Seele wird reichlich gesättigt, und der Tränkende wird auch selbst getränkt“ (Spr 11,25; 2. Kor 9,6–10). Mitleid soll jedoch nicht das einzige Motiv der guten Tat sein; ein viel tiefgehender Beweggrund fand sich in den Versammlungen Mazedoniens, die „sich selbst zuerst dem Herrn gaben, und uns durch Gottes Willen“ (2. Kor 8,1–6). Die Heilige Schrift macht die Freigebigkeit für die Armen nicht zu einer Sache des natürlichen Mitleids, und ebenso wenig zum Ergebnis eindringlicher Bitten nach der Schilderung von Notlagen. Für den Christen handelt es sich in Wahrheit um eine Sache des Gehorsams gegenüber dem Willen seines Herrn. Auf den Armen Acht zu haben, will doch sagen, dass man seine Bedürftigkeit nicht übersehen darf, zum anderen aber auch, dass dies mit weiser Bedachtsamkeit und ohne Illusionen geschehen soll. Den bereitwilligen Wohltäter wird der Herr zu belohnen wissen: Trifft ihn ein Übel, dann wird der Herr ihn erretten, er wird bewahrt und am Leben erhalten (Verse 3 und 4). Auch Wohlergehen, Schutz vor Feinden und Hilfe bei Krankheit und im Alter sind dem Freigebigen verheißen. Zu alledem wird ihm das Wohltun als Gerechtigkeit angerechnet (Ps 37,25.26 und Ps 112,4–9). An Gott gemäßer Wohltätigkeit wird echte Gottesfurcht sichtbar. Der Herr wird Sich mit reichen Wohltaten dazu bekennen.
Wer sich durch echte Fürsorglichkeit zum Wohl der Armen auszeichnet, denkt dabei nicht an sich selbst; er hat es nicht aus Zweckmäßigkeitsgründen getan, etwa um daraus einen Anspruch auf Wiedergutmachung herzuleiten. Es ist dem Barmherzigen hoch anzurechnen, dass er gewohnt ist, Gottes Gedanken gemäß zu handeln. Und von seiner Haltung hat der HERR Kenntnis genommen und wird ihn stützen. Der Barmherzige darf darauf rechnen, dass der HERR Sich ihm gerne in Gnade zuwendet, wenn er nach einer Vergehung seine Schuld einsieht, aber auch dann, wenn er angefeindet wird. Der Psalmdichter bekennt in Vers 5 vor Gott: „Ich habe gegen dich gesündigt“. Er verurteilt sein Tun und bittet den HERRN um Gnade und um Heilung für seine Seele (Jer 17,14). Bewusst beugt er sich unter Gottes Wort, und in Aufrichtigkeit stellt er sich innerlich auf die Seite Gottes. Daher wird der treue Gott ihn unterstützen und ihm den Ausweg aus den Gefahren bahnen. Unheilvolle Anschläge, die mit Hass, böser Verdächtigung, Falschheit und Treulosigkeit geplant waren, richteten sich gegen sein Leben (Verse 6 bis 8). Seine Feinde nutzten die offenbar schlimme Lage ihres Gegners aus und begründeten ihr Vorgehen damit, dass wegen seiner Schlechtigkeit ein vernichtendes Gerichtsurteil über ihn verhängt sei (Vers 9).
David machte es sehr zu schaffen, dass jemand, den er „Mann meines Friedens, auf den ich vertraute, der mein Brot aß“, nannte (Vers 10), plötzlich auf die Seite seiner Todfeinde übergewechselt war. Es wird sich hier um den Treubruch des Ahitophel handeln (2. Sam 16,20–17,6). Dieser Mann hatte in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu David gestanden. Doch als Absalom sich gegen seinen Vater David empörte, wandte Ahitophel sich von David ab und unterstützte Absalom durch Ratschläge, die David und seine Getreuen in größte Gefahr brachten. Eine ähnliche Treulosigkeit begegnete dem Herrn Jesus, als Er von Judas verraten und Seinen Hassern überliefert wurde. Kurz bevor der Verräter den Kreis der Jünger verließ, um diesen Frevel zu begehen, eröffnete der Herr den Jüngern im Beisein des Verräters das böse Vorhaben mit den Worten: „Aber damit die Schrift erfüllt werde: Der mit mir das Brot isst, hat seine Ferse gegen mich erhoben“ (Joh 13,18). Der zehnte Vers des vorliegenden Psalms hat somit den abscheulichen Verrat des Judas Iskariot vorausgesagt (Ps 55,13–15). Ein derart niederträchtiger Verrat offenbart die abgründige Verderbtheit eines Menschen, sie bildet den Gipfel treuloser Verschlagenheit eines religiös auftretenden Mannes. Was Judas zur Freude der Hohenpriester tat (Mk 14,10.43), war auch zur Freude Satans. Es war ein besonders bitterer Tropfen im Kelch der Leiden des Herrn, den Er zur Erfüllung der Schriften und in willigem Dulden zu trinken hatte. Noch augenfälliger konnte sich der Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen nicht darstellen. Der Missbrauch Seines Vertrauens, die Hinterhältigkeit und das Voranstellen des persönlichen Vorteils entgegen aller Moral trafen Jesus hart. Unmittelbar anschließend an diesen Verrat mit der darauf folgenden Festnahme hatte der Herr als Elender und Armer jeden der prophezeiten schweren Schritte Seines Leidensweges bis hin zum Kreuz zu gehen. Willig nahm Er es auf Sich, die im Alten Testament beschriebenen weiteren Abschnitte Seines Leidensweges zu erfüllen (Mt 26,54; Lk 24,25–27).
In Vers 11 bittet David darum, dass Gott ihm in Gnade begegnen und ihn wieder aufrichten möge. Handelte es sich hier um die Rebellion Absaloms, dann plante David jetzt offenbar schon die Rückkehr auf den Königsthron. Indessen wollte Er die Wiedererlangung der Herrschaft nicht erzwingen, sondern sie von Gott als eine Gnade und als den Beweis des göttlichen Einverständnisses in Empfang nehmen. Seinem Gott zu gefallen, war die eigentliche Zielsetzung seines Lebens, und darin ist er dem Herrn Jesus ähnlich. Wenn Gott seiner Bitte stattgab, dann konnte David als Regent die Aufrührer um Absalom nicht ungestraft lassen. Das Ansehen und die Rechte des Königtums erforderten dieses Vorgehen. Auch das ungerechtfertigte Blutvergießen verlangte nach gerechter Vergeltung. Ehe dies durchgeführt werden konnte, hatte sich der zu den Feinden übergelaufene einstige Ratsherr bereits selbst gerichtet (2. Sam 17,23). Vergleichbares tat der Verräter Jesu. Auch Judas Iskariot nahm sich in Verzweiflung das Leben (Mt 27,5). Die letzten Verse des Psalms lassen erkennen, dass David seiner Überzeugung treu geblieben war, dass Gott ihn niemals verlassen würde. Vielmehr würde der HERR ihn wegen seiner aufrichtigen Haltung, die auch die eigene Person nicht schonte, und um seines lauteren Wandels willen aus aller Not erretten (Vers 13; Ps 21,8; 26,11). Der HERR belohnte Davids festes Vertrauen, und sein Glaube wird in Ewigkeit nicht enttäuscht werden. Doch aller Ruhm gebührt von Ewigkeit bis in Ewigkeit allein dem HERRN (Vers 14), der die Seinen auf dem rechten Weg zum Ziel bewahrt.