Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 31
Der Psalm gliedert sich wie folgt: Von Vers 2 bis Vers 19 handelt es sich um ein Gebet. Der zweite Abschnitt von Vers 20 bis Vers 25 schildert dann das Eingreifen Gottes zugunsten des gottesfürchtigen Beters. Das Gebet besteht aus mehreren Abschnitten: Die Verse 2 bis 7 enthalten die Grundlagen für das Vertrauen des Bittenden. Die Verse 8 bis 9 nehmen die Erhörung der Bitten vorweg. In den Versen 10 bis 14 legt der Dichter seinen Kummer und sein Elend im Einzelnen Gott vor. In den Versen 15 bis 19 stellt er den Gegensatz zwischen den gottlosen Feinden und dem Gerechten heraus. Im zweiten Teil des Psalms beschreiben die Verse 20 bis 23 die Güte Gottes, und die beiden Schlussverse ermuntern die Frommen, den HERRN zu lieben und Mut zu fassen.
Psalm 31 gibt einen Überblick über die Jahre, in denen der Glaube Davids auf mancherlei Art erprobt wurde. Die Prüfungszeit bewährte sich als die beste Gelegenheit, den HERRN vermehrt kennenzulernen und Seine Hilfe zu erfahren. Angesichts einer Menge von gottlosen Widersachern erfuhr er in den widrigsten Umständen den nötigen Schutz. Zugleich fand er innere Geborgenheit in der Gnade des HERRN. Als er von den äußeren Umständen bedrängt wurde und sich eingeengt fühlte, lernte er die innere Freiheit desto mehr schätzen, die sich durch ein gutes Gewissen vor Gott ergibt und durch die Erinnerung an Gottes Zusagen noch gefördert wurde. Er übergab seine Anliegen vertrauensvoll dem HERRN, dessen Nähe zu suchen er gewohnt war. Diese Nähe zum HERRN und die Beschäftigung mit dem göttlich Wunderbaren, das Gottes heiliger Name beinhaltet, sind Merkmale sowohl echter Frömmigkeit als auch praktizierter Gerechtigkeit. Ohne ein solches Glaubensleben könnte ein Beter nicht so freimütig bitten und dabei sein ganzes Herz öffnen wie David in diesem Psalm. Überzeugt von Gottes Interesse an seinem Ergehen, sagt er: „Du hast mein Elend angesehen, hast Kenntnis genommen von den Bedrängnissen meiner Seele“ (Vers 8). Außergewöhnliches Leiden hatte, wie bei dem Apostel Paulus, bei ihm eine besondere Vertrautheit mit Gott und eine feste Zuversicht bewirkt.
Der Psalm gibt unter anderem Anleitung für den Fall, dass ein Gläubiger sich von Verbindungen lösen will, die er als falsch erkannt hat. Um frei zu werden und sich von schlechten Einflüssen frei zu halten, muss das Wort Gottes und Sein Geist als allein maßgebende Autorität anerkannt werden. Man muss mit Christus eins sein und auch mit denen, die Ihm in allem in Treue folgen wollen. Das eigene Ich ist zurückzustellen, damit der Heilige Geist wirken kann. Das „befestigte Haus“ (Vers 3b), wo Gott wohnt, ist als alleinige Zuflucht anzuerkennen und aufzusuchen. Pflegt man weiterhin Verbindungen mit Wegen und Auffassungen, die unabhängig von Gott gewählt wurden, dann wird man dadurch unfähig, sich von Verkehrtem zu lösen und sich der Wahrheit des Wortes Gottes unterzuordnen. Man muss aufhören, sich mit solchen eins zu machen, die übles Verhalten und falsche Lehren dulden (Off 2,14f; 2,20) und dadurch die Autorität Gottes und Seines Wortes und Geistes missachten. Wenn man hierin lässig ist und gleichgültig bleibt, bringt man es bald nicht mehr fertig, sich aus den darin verborgenen Netzen zu befreien (Vers 5). In der Folge wird man immer häufiger Bekanntschaft mit „nichtigen Götzen“ machen (Vers 7). Schließlich bleibt nur noch zu bekennen: „Meine Kraft wankt durch meine Ungerechtigkeit“ (Vers 11). Davor warnt auch die Mahnung des Apostels: „Für die Freiheit hat Christus uns freigemacht; steht nun fest und lasst euch nicht wieder unter einem Joch der Knechtschaft halten“ (Gal 5,1). Die Schrift fordert uns auf: „Von jeder Art des Bösen haltet euch fern“ (1. Thes 5,22). Folgt man dem Wort und dem Heiligen Geist, dann wird uns dessen Kraft von allem Falschem freimachen.
David konnte nur dann den Schutz des HERRN erwarten, wenn er in Abhängigkeit von Ihm nach Seinem Willen handelte. Nur dann war seine Sache gerecht vor Gott. Daraufhin konnte der HERR seine Verhaltensweise gutheißen und sich dazu bekennen, so dass Davids Glaube nicht beschämt wurde (Verse 2 und 18; Ps 71,1–3). Dass Gott den Glaubenden nicht beschämt, hat Er zugesagt und unzählige Male bewiesen. Er wird es David gegenüber an erneuten Beweisen Seiner Hilfsbereitschaft nicht fehlen lassen. Obwohl die Not groß ist, stellt David es der Huld Gottes anheim, sich ihm zuzuneigen, ihm ein Fels der Zuflucht und „ein befestigtes Haus“ zu sein, ein Haus, das beste Verteidigung gewährleistet, da es auf felsenfester Grundlage steht und allen Stürmen standhält (Vers 3). In diesem „befestigten Haus“ haben die Gläubigen sich dann in Sicherheit gebracht, wenn sie sich in der Nähe des Herrn aufhalten und sich von niemand und nichts anderem leiten lassen als nur von oben, durch Gottes Wort und den Heiligen Geist, und dies in Demut und Gehorsam (Vers 4; Ps 18,3). Gott hat Freude daran, aus falschen Bindungen herauszuführen und zu befreien, besonders die Verführten, die durch Heimtücke oder einen listig ausgelegten Köder einem der vielen Menschenfänger aus der Gefolgschaft Satans ins Netz gegangen sind (Vers 5; Ps 25,15 und 141,9f).
Nicht nur seinen Körper vertraute David dem göttlichen Schutz an, sondern auch seinen Geist. Er bekennt: „Du hast mich erlöst, HERR, du Gott der Wahrheit“ (Vers 6). Mit Seele und Leib gehörte er dem HERRN, darum würde Er ihn auch mit Leib und Seele für Sein Reich bewahren. David ist in jeder Hinsicht in den Händen des HERRN wohl geborgen. Als Glaubender steht er unter der Fürsorge und dem absoluten Schutz des Herrn. Sein ganzer weiterer Weg ist bis in die Ewigkeit hin gesichert. Der treue Gott hält, was Er verspricht, und erweist Sich darin als der Allmächtige und der Ewige (Ps 91,1; Jer 10,10). Das lässt die Seele des Gläubigen im Frieden ruhen; die Seele ist sicher, erlöst zu sein, obwohl die sichtbaren Folgen dieser Erlösung erst in der Zukunft offenbar werden (Hiob 19,25).
Im stärksten Gegensatz zu dem Gott der Wahrheit stehen die von Menschen erdachten und hergestellten Trugbilder der Lüge, die Götzen (Vers 7; Jes 44,20; Jer 10,14). Der heimtückische Grundgedanke, die Götzen dem Rang nach möglichst neben und über den wahren Gott zu stellen, geht von dem Vater der Lüge, dem Erzfeind Gottes, aus. Wenn ein Christ der Auffassung ist, ein Götze sei nicht so ernst zu nehmen und sich damit einlässt, dann leistet er der Sache Satans Vorschub. David wusste darum und sonderte sich nicht nur von den Götzenbildern ab, sondern hasste „die, die auf nichtige Götzen achten“ (Vers 7). Zwischen diesen und ihm, der auf den HERRN vertraute, gab es nichts Gemeinsames. Er scheute sich nicht, dies deutlich zu sagen, und handelte entsprechend. Das gehörte zu der Grundhaltung seines Glaubens.
Mit väterlicher Besorgtheit blickt Gott auf die herab, die Ihn lieben, und kümmert sich um ihre Nöte. Er, der ewige Gott, nimmt Kenntnis von jeder Einzelheit des Lebensweges der Gläubigen. Diese einfache Erkenntnis ist auch eine der Grundlagen des Betens. Erst durch dieses Wissen werden Gebete sinnvoll. Wenn Er unsere Bitten erhört hat, dürfen wir uns darüber freuen, zugleich aber über Seine Güte, die unser Elend angesehen und sich in barmherziger Liebe über uns erbarmt hat (Vers 8). Gott hatte den Feinden Davids nicht gestattet, Hand an ihn zu legen. Nach dem Bericht der geschichtlichen Bücher der Schrift ließ Er es dabei verschiedene Male bis zum Äußersten kommen. Desto herrlicher erscheint dann das rechtzeitige Eingreifen des himmlischen Retters. Die Rettung im letzten Augenblick zeigt, wie genau Er auf Seinen Knecht David Acht gab. Es gefiel Ihm, die Füße Davids aus äußerst kritischen Situationen auf ungewöhnliche Weise in fast unbegrenzte Freiheit, „in weiten Raum“, zu führen (Vers 9). Er gab Seinem Erwählten die Kraft, die damit verbundenen seelischen Beanspruchungen zu durchstehen. Überdies verlieh Er ihm geistliche Weisheit, die Ereignisse unter der Leitung des Heiligen Geistes niederzuschreiben zum Nutzen einer unübersehbaren Zahl von Glaubenden. So wurde David zum Wegweiser und Trostspender für trostbedürftige Weggenossen des Leids. Das ganze Geschehen ist offensichtlich von Gott im Voraus geplant; es offenbart einerseits Seine vorausschauende Weisheit und andererseits Seine Liebe zu David und Seine Vorsorge für die vielen Gottesfürchtigen nach ihm.
In den Versen 10 bis 14 berichtet David über die schlimmen Folgen seiner Leiden. Er ruft zu Gott um Gnade wegen der Schädigungen seiner Augen und der Gesundheit von Leib und Seele. Die Schäden sind verursacht durch die üblen äußeren Umstände und durch den ständigen Druck, durch Kummer und Gram. Sein Leben, seine Jahre schwinden hin, seine Kräfte nehmen ab, die Aussichten für ein Weiterleben in Gesundheit und Frieden sind denkbar schlecht. David äußert sich hier nicht betreffs der Schuld der böswilligen Bedränger, die sich gegen ihn zusammenrotteten. Indessen beschwert es ihn sehr, dass er auch in seiner Nähe solche hat, denen seine Person im Weg ist, die ihn verhöhnen und verabscheuen. Sie fühlen sich wohler, wenn sie ihn nicht sehen. Nachbarn und Bekannte wenden sich ab, sie laufen vor ihm davon; er ist ihnen zum Spott und zum Schrecken geworden (Verse 12 bis 14; Ps 69,20). Völlig gefühllos löschen sie ihn bereits aus ihrem Gedächtnis, denn für sie ist er am Ende angekommen, man gibt nichts mehr um ihn. Er wird verleumdet und geschmäht, er spürt Verachtung von allen Seiten. Nach ihrem Urteil ist für ihn kein Platz mehr auf der Erde (Vers 14). Offenkundig hat er ähnliche Leiden durchstehen müssen wie der wahre Sohn Davids, der Herr Jesus, als Er, verworfen und verurteilt, geschmäht und verachtet, auf schwerem Weg dem Kreuz entgegenging und die Gegner darauf sannen, ihn zu töten.
Das abstoßende Verhalten seiner Hasser in den vorhergehenden Versen bildet einen auffallenden Gegensatz zu dem Glauben und dem vertrauten Verhältnis Davids zu Gott, das in den Versen 15 bis 19 beschrieben ist. Die Worte „Ich aber“ stehen am Anfang des Verses 15 als Merkmal dafür, dass Er nicht mit jenen Gottlosen verwechselt werden will. In festem Vertrauen rechnet er auf den HERRN, bittet Ihn um Rettung und legt die Zukunft in Seine mächtigen Hände (1. Pet 4,19). Von der Treue und Liebe des HERRN völlig überzeugt, bekennt er freudig vor den Menschen: „Du bist mein Gott! In deiner Hand sind meine Zeiten“ (Verse 15 und 16). Im Gegensatz zu der Ablehnung durch die Gottlosen darf David damit rechnen, dass ihm Gottes Angesicht immer freundlich zugewandt ist. Dies macht er zu seiner Bitte (Vers 17; Ps 4,7 und 119,135). Im nächsten Vers erbittet er (wie auch in Vers 2), dass er nicht enttäuscht werden möge. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, auch nicht zu leblosen Götzen gerufen wie seine gottlosen Feinde. Im Gegensatz zu ihnen hatte er den lebendigen Gott angerufen und Ihn durch Vertrauen geehrt. Er brauchte nicht zu fürchten, dass er von Ihm verlassen oder gar bestraft würde. Die Gottlosen hingegen gingen der gerechten Bestrafung entgegen wegen ihrer Lügen und wegen ihres Hochmuts, jedoch auch, weil sie für den Gerechten nur Verachtung übrighatten (Ps 25,3 und 94,2–4.23; Judas 14.15). Ihre frechen Worte werden für immer verstummen (Ps 12,4.5). Aber die Gottesfürchtigen entgehen dem Gericht und werden Gott für Seine Güte preisen (Vers 19).
In den Versen 20 bis 23 wird die Güte Gottes beschrieben, die immer bereitsteht, den Gottesfürchtigen zu Hilfe zu kommen. Eine Fülle von Segen ist bereits für sie „aufbewahrt“ (Vers 20) und sie dürfen sich darauf freuen. Die Erfüllung ihrer Erwartungen ist bis jetzt noch der Zukunft vorbehalten. Doch einst wird ihr Glaube angesichts aller Menschen eine öffentliche Anerkennung finden (Dan 12,2.3; Mk 16,16; Röm 2,7–10). Gott richtet Sein Auge immer besonders auf die, die Ihn durch ihren Wandel ehren. Er ist ihnen nahe und weiß sie durch geeignete Mittel zu beschützen (Vers 21; Ps 32,7 und 61,4f; 2. Pet 2,9). Satan macht alle Anstrengungen, um Gottes Beschlüsse in Bezug auf die Heiligen zu vereiteln, aber er wird nichts ausrichten. Der Gott, der Wunder zu wirken vermag, ist der unendlich Überlegene. Niemand wird die Seinigen aus Seiner Hand rauben können. „Gepriesen sei der HERR!“ (Vers 22; Ps 27,5). Unwillkürlich kommen David bei der Erinnerung an zurückliegende Erlebnisse die wunderbaren Fügungen der Güte Gottes ins Gedächtnis, auch dass Er immer rechtzeitig einen sicheren Zufluchtsort für ihn bereitgestellt hatte. Besonders schlimme Situationen hatten bei dem in die Enge getriebenen David zeitweilig den Eindruck erweckt, er sei von Gottes Augen abgeschnitten.(Vers 23). Doch Gott erhörte sein Flehen und zögerte nicht mit der Hilfe.
David hatte die Liebe Gottes kennengelernt und ruft in seinem Schlusswort die gottesfürchtigen Frommen aller Zeiten auf, den HERRN zu lieben (Vers 24). Im Glauben feststehend, hatte er es viele Male erlebt, dass der HERR die Treuen behütet, während Er die Hochmütigen, die sich gegen Ihn erheben, bestraft. Abschließend ermuntert er die Glaubenden: „Seid stark, und euer Herz fasse Mut, alle, die ihr auf den HERRN harrt!“