Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 26
Die Psalm 25 und 26 ergänzen einander dem Inhalt nach. Des Öfteren ähneln sie sich auch in der Ausdrucksweise. Mit einem Bekenntnis zum vollen Vertrauen auf Gott endet der 25. Psalm, und der 26. Psalm beginnt damit. Des Weiteren wiederholt sich der Wunsch, in Lauterkeit und Redlichkeit zu wandeln. In beiden Psalmen unterstellt sich der Betende rückhaltlos dem Urteil Gottes über die eigene Person. Er verbirgt nichts, sondern wünscht es geradezu, dass Gott ihn durch und durch kennt. Seine Verhaltensweise soll in jeder Hinsicht nachzuprüfen sein, alles soll am Tage liegen, wie ja ohnehin „alles bloß und aufgedeckt ist vor den Augen dessen, mit dem wir es zu tun haben“ (Heb 4,13). Der König Jotham hat es wie sein Ahnherr David gehalten: „Er richtete seine Wege vor dem Angesicht des HERRN, seines Gottes“ (2. Chr 27,6). Dasselbe empfiehlt der Apostel Paulus allen Christen: „Wenn wir uns aber selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet“ (1. Kor 11,31), so dass es keiner Züchtigung von Seiten Gottes bedarf. Petrus schreibt: „Seid jederzeit bereit zur Verantwortung gegen jeden, der Rechenschaft von euch fordert... indem ihr ein gutes Gewissen habt“ (1. Pet 3,15f). Wir sollten nichts zu verbergen haben. Mit wem wir Umgang pflegen und wo wir uns aufhalten, was wir uns anschauen und was wir lesen, sollten wir gleich dem Psalmdichter vor anderen offenlegen können. Aus dem schriftgemäßen Verhalten ergibt sich, ob wir für Gott und für die Aufgaben, die Er uns stellt, „von der Welt unbefleckte“ Diener sind (Jak 1,27).
Wie in Ps 7,9 bat David auch hier den HERRN, dass Er ihn beurteilen und erproben möge (Verse 1 und 2). Wenn er nicht im Glauben sicher gewesen wäre, unter Gottes Gnade und Güte zu stehen, hätte er es nicht wagen können, einen solchen Wunsch vorzubringen. Gott kannte sein Innerstes (Ps 139,1.23f) und David scheute dies nicht. Selbstgericht ist eine notwendige Übung, für sich allein genügt es jedoch nicht. Paulus schreibt: „Denn ich bin mir selbst nichts bewusst, aber dadurch bin ich nicht gerechtfertigt. Der mich aber beurteilt, ist der Herr“ (1. Kor 4,4). Dass er mit einem heiligen Gott auf dem Wege war, wusste David so gut wie der Apostel Paulus. Er wollte vor aller Augen, auch vor denjenigen seiner Feinde, seinen Weg als Rechtschaffener gehen, der mit Gott in Verbindung stand, und dann würde er nicht wanken (Vers 1). Sein gutes Rechtsbewusstsein und seine Lauterkeit waren sowohl die Frucht als auch die Begleiter seines Glaubens. Die Festigkeit im Glauben befestigte auch seine Schritte. Aber er brauchte Gott als Stütze in seiner Nähe, um bei Erprobungen nicht wankend und mutlos zu werden. Sein Herz musste geprüft und geläutert werden, damit er nicht selbstzufrieden wurde und das Wort Gottes aus dem Auge verlor (Vers 2; Ps 30,7 und 37,31). Um „Frucht der Gerechtigkeit“ hervorzubringen, sind Prüfungen und Erprobungen notwendig (Heb 12,11). Nur solange wir den Weg der Nachfolge des Herrn einhalten, sind wir vor dem Abirren und vor Verfehlungen sicher. Wir müssen unter Seiner Gnade bleiben, Seine Güte und Liebe vor Augen haben und in Seiner Wahrheit wandeln (Vers 3; Ps 25,15). „Lehre mich, HERR, deinen Weg: Ich werde wandeln in deiner Wahrheit; einige mein Herz zur Furcht deines Namens“ (Ps 86,11).
Die Verse 4 und 5 zeigen, wie sorgsam David jeden üblen, gefahrbringenden Umgang mied. Schon den bloßen Anschein des Bösen wollte er vermeiden. „Der Edle entwirft Edles, und auf Edlem besteht er“ (Jes 32,8). Darum suchte David guten Umgang, er scharte Edle um sich; davon berichten die geschichtlichen Bücher der Schrift eingehend. „Glücklich, du Land, dessen König ein Sohn der Edlen ist und dessen Fürsten zu rechter Zeit speisen, als Männer und nicht als Schwelger!“ (Pred 10,17). Psalm 101 zählt Regierungsgrundsätze Davids auf; unter anderem schreibt er dort: „Ein verkehrtes Herz soll von mir weichen, den Bösen will ich nicht kennen. – Meine Augen werden gerichtet sein auf die Treuen im Land, damit sie bei mir wohnen; wer auf vollkommenem Weg wandelt, der soll mir dienen“ (Ps 101,4.6). David bewies seine Rechtschaffenheit durch Absonderung von schlechten Menschen. Andererseits trat seine Haltung durch offen bekundete Übereinstimmung mit denen ans Licht, die den HERRN durch Wort und Wandel ehrten. Offenbar legte David strenge Maßstäbe an bei der Auswahl derer, die ihn umgaben, und was er in dieser Hinsicht von sich selbst verlangte, konnte er auch von ihnen erwarten. Nicht nur mied er die Heimtückischen, die sich verstellen, um ihre Absichten zu verbergen; er nahm nicht nur Abstand davon, mit Übeltätern Tischgemeinschaft zu pflegen, sondern er hasste solcher Leute Tun (Ps 139,19–22). Hier kamen Großzügigkeit oder Duldsamkeit nicht in Betracht. David war überzeugt, dass eine Rechtsanschauung und Urteile, die vor Gottes Augen gelten können, letztlich unter dem Schutz und der Aufsicht Gottes stehen, entsprechend der Feststellung der Schrift in Ps 58,12: „Ja, es gibt einen Gott, der auf der Erde richtet“. Die Gott gemäßen Rechtsgrundsätze, die schon David pflegte, werden in dem zukünftigen Reich Christi auf der Erde zur vollen Geltung kommen (Ps 72,1f.7; Jes 11,1–5; Joh 2,17).
Die Grundlagen und der Maßstab für die Grundsätze, die David in den ersten fünf Versen herausstellt, mussten im Einklang stehen mit den Vorschriften für das Heiligtum, für den Altar und für das Haus Gottes als Wohnort der Herrlichkeit Gottes (Verse 6 bis 8); sie mussten der Gegenwart Gottes gerecht werden. Von allen wahren Christen muss einzeln und gemeinsam ebenfalls die Übereinstimmung des praktischen Lebens mit den Grundsätzen des Hauses Gottes gewahrt werden. Diese Notwendigkeit legte Paulus dem Timotheus ans Herz mit den Worten: „damit du weißt, wie man sich verhalten soll im Haus Gottes, das die Versammlung des lebendigen Gottes ist, der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit“ (1. Tim 3,15). Wer und was aus Gründen der heiligenden Absonderung für Gott zu „meiden“ ist und wovon der auf Heiligkeit bedachte Christ sich „wegwenden“ oder „abstehen“ muss und was er „abweisen“ soll, darüber werden die Christen in den Briefen der Apostel unterrichtet. David wollte sich nicht im Geringsten mit dem Bösen einlassen, und keinesfalls wollte er sich mit dem Ränkespiel unaufrichtiger Gottloser identifizieren. Die Liebe zum Haus Gottes und dessen Herrlichkeit beherrschte sowohl seine Wünsche als auch die Haltung den Menschen gegenüber.
Als öffentliches Zeichen dafür, dass er beim Gottesdienst angesichts der heiligen Nähe Gottes auf Reinheit bedacht war, wusch er zunächst „seine Hände in Unschuld“, erst dann begab er sich zu dem heiligen Altar. Die Würde des Heiligtums erforderte es, Gott in korrekter Selbsteinschätzung zu nahen und dann gereinigt von Sünde und frei von bewusster Schuld Ihn anzubeten (Verse 6 und 7; Ps 24,3.4 und Ps 28,2; 3. Mo 10,3; Mt 5,23f). Um der Aufforderung: „Seid heilig, denn ich bin heilig!“ völlig gerecht werden zu können, bedarf es grundsätzlich des sühnenden Blutes Christi und der Reinigung der Seele durch den Gehorsam gegen die Wahrheit, sodann der täglichen praktischen Reinigung durch das Wasser des Wortes Gottes. Das eherne Waschbecken war zu damaliger Zeit ein genauso unentbehrliches Gerät der Stiftshütte wie der Brandopferaltar. Mit heiligem Ernst nahte David dem Altar zur Anbetung und zum Lob im Hause Gottes, weil sein Glaube ihm sagte: Dies ist der Wohnort der Herrlichkeit Gottes (Vers 8). Dort wollte er mit Asaph und den übrigen Anbetern „den Ruhm des HERRN und seine Stärke und seine Wunderwerke, die er getan hat, erzählen“ (Ps 78,4). Öffentlich und mit aller Deutlichkeit bekannte er sich freimütig zu dem wahrhaftigen und heiligen Gott, weil er mit ganzem Herzen glaubte (Röm 10,10). Heiligkeit und Liebe zu Gott und zu Seinem Haus gehörten für David zusammen. Geistliche Liebe zog ihn in die Nähe seines Gottes und daraus erwuchs sein Verlangen nach Heiligkeit (Ps 27,4; vergl. 2. Mo 40,34.35; 2. Sam 15,25; Joh 14,23). Das Haus Gottes war für ihn eine geistliche Heimstatt, es bedeutete Besinnung und inneres Ruhen. Der Herabneigung des HERRN zu Israel war es zu verdanken, dass Er einen Tempel, ein Haus auf dieser Erde hatte. David empfand diese Liebe Gottes und erwiderte sie mit Dankbarkeit.
Die Denkweise der Gläubigen des Alten Testaments bezüglich ihrer Hoffnung wird in Vers 9 deutlich. Belehrt durch die Propheten, wussten sie um den gesalbten Messias als Erlöser, aber sie hatten keine Kenntnis von Jesus von Nazareth, dem wahren Sohn Davids, als dem von Gott gesalbten Retter. Sie konnten auch nichts wissen von Seinem Tod und Seiner Auferstehung, die jetzt für gläubige Christen die Grundlage ihrer Hoffnung sind, ins ewige Leben einzugehen. Doch den vorhandenen Offenbarungen des Alten Testaments über die Gerechtigkeit und die Treue Gottes konnten sie entnehmen, dass der HERR sie als Glaubende niemals im Stich lassen würde. Niemals würde Er sie wie einen Sünder bestrafen. Genauso undenkbar war es für sie, dass der HERR sie mit Sündern zusammen in ein gemeinsames Totenreich schicken würde, obwohl sie keine nähere Kenntnis des „Scheols“ besaßen. Die immerwährende Güte und Liebe Gottes, die sie empfanden und mit Gegenliebe beantworteten, musste eine Gleichbehandlung mit Sündern nach Abschluss des jetzigen Lebens unmöglich erscheinen lassen. Mit den Gott verleugnenden Sündern, den Blutmenschen, Schandtätern und Frevlern, deren Gemeinschaft David um der Heiligkeit Gottes willen in seinem Leben gemieden hatte, konnte der gerechte und heilige Gott ihn unmöglich im Tod vereinen wollen (Ps 28,3). Dabei lag es David fern, einen Anspruch auf eine Besserstellung zu erheben. Vielmehr erbittet er dies von dem gütigen Gott als eine besondere Gnade (Verse 9 und 10), und diese Hoffnung hat ihn nicht getäuscht.
In Vers 11 sondert sich David mit dem in der Schrift öfter wiederkehrenden „Ich aber“ betont von den Betrügern und Frevlern ab, deren Ende nichts anderes als der ewige Tod sein kann. Einem solchen Schicksal ausgeliefert zu werden, kam für David nicht in Betracht, denn sein Wandel war ganz anderer Natur als der ihrige. Weil David nicht sündlos war, konnte ihn jedoch nur die Gnade vom Schicksal der Gottlosen erlösen (Vers 11b; Hiob 19,25), und Gnade hatte der HERR ihm oft in seinem Leben als besondere Gunst zugewandt. Darum setzte David seine Hoffnung darauf und bat um Erlösung. Wenn Gott für ihn war, dann gab es für ihn auch die Rettung vor dem ewigen Tod, doch er stellte dies dem Urteil Gottes anheim (vgl. Ps 5,7.8 und Ps 25,20.21). Durch seinen Glauben hatte er die Gewissheit, auf tragfähigem, ebenem Boden zu stehen und auf dem geraden Weg Gottes zu sein (Vers 12; Jes 26,7), auf dem man gefahrlos weiter vorwärts schreiten kann, auch furchtlos durch festes Vertrauen auf die Gnade (Jes 12,2). Der HERR allein war Davids Hoffnung, Er war sein Fels und sein Erlöser (Ps 19,15). „Nur auf Gott vertraue still meine Seele, denn von ihm kommt meine Erwartung“ (Ps 62,6). David gehörte zu dem Kreis der Aufrichtigen, zu den ‚geraden‘ Leuten, die den HERRN von ganzem Herzen preisen (Ps 111,1; Spr 11,5–8).