Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 25
Die nun bis zum Ende des ersten Buches folgenden Psalmen stellen überwiegend das vor, was das Herz eines Gottesfürchtigen in seinem Leben vor Gott bewegt. Mit allen seinen Gemütsbewegungen tritt der Glaubende im Gebet vor Ihn hin, breitet sie vertrauensvoll vor Ihm aus und findet durch den Gott aller Gnade Ermutigung und liebevolle Unterstützung, auch Belehrung, Vergebung, Hoffnung und Freude. Diese Psalmen werden fast alle David zugeschrieben; indessen erwähnt die Überschrift nur in Psalm 34 einen Abschnitt aus dem Leben Davids als Anlass für die Niederschrift. Dieser Teil der Psalmen macht weniger prophetische Aussagen. Hier wird das vornehmliche Ziel verfolgt, den Gläubigen den Vater der Erbarmungen vorzustellen (Ps 103,13) und ihnen die Erfahrungen der im Glauben Vorangegangenen nutzbringend mitzuteilen. Einige dieser Glaubenserfahrungen deuten auch das an, was Christus, der Sohn des Menschen, auf der Erde erlebt hat. Natürlich handelt es sich in diesen Psalmen nicht um Erfahrungen von Christen, sondern von Israeliten der damaligen Zeit, die dem Bund des Gesetzes vom Sinai verpflichtet waren und deswegen einer diesem Bundesverhältnis entsprechenden Verantwortung vor Jahwe, dem HERRN, unterlagen (Röm 9,4).
Neben vielen praktischen Hinweisen für den Gläubigen enthält Psalm 25 mehrere Äußerungen über Gottes Güte und Erbarmungen, über Seine Treue und Gnade. Er spricht auch über Gott als Hoffnung (Ps 71,1.5) und Rettung, als Erlöser und Führer. Wahrer Glaube richtet sich immer auf Gott, deswegen erhebt David seine Seele zu Ihm (Vers 1). So kann er den Druck der Umstände überwinden und vergessen. Wie der Körper jeden Tag Ernährung nötig hat, so bedarf die Seele der täglichen Erhebung zu Gott, um von Ihm Belehrung und Einsicht über den rechten Weg und dazu die Kraft zum Gehorsam zu bekommen; und Gottes Güte wird dem Aufrichtigen das Erforderliche aus Gnade zukommen lassen. David wendet sich in Vers 1 nach oben; er sucht Gottes Nähe und Gemeinschaft auf und darf sich dann über die Stärkung seiner Seele freuen (Ps 86,4 und 143,8; Jes 40,29–31). Das ist auch das segensreiche Vorrecht aller Gläubigen. Sie können sicher sein, dass sie von ihrem Gott und Vater nicht beschämt werden (Vers 2 und 3; Ps 22,5f; Jes 49,23b; Röm 10,11). Die Feinde hingegen müssen die Rettung ihres Gegners zur Kenntnis nehmen, sie können nicht leugnen, dass dessen Gebete, über die sie sich erhaben gefühlt hatten, sinnvoll und sehr wirksam waren. Der Gottesfürchtige ist ihnen zu einem Zeugnis dafür geworden, dass es einen über allem stehenden rettenden Gott gibt, der Sich mit dem Einsatz Seiner göttlichen Macht zu dem schwachen Beter bekennt. Hinfort werden sie nicht mehr spöttisch fragen: „Was ist das für ein Vertrauen, womit du vertraust?“ (Jes 36,4). Ihr Handeln hatte üble Beweggründe, sie gehen als Treulose, die keinen wahren Glauben kennen, ins Verderben (Vers 3).
Weit davon entfernt, sich in Selbstsicherheit zu wiegen, sagt der Betende in Vers 4: „Deine Wege, HERR, tu mir kund, deine Pfade lehre mich!“. So hütet er sich davor, seine Entscheidungen ohne weiteres für richtig und seine Wege für unangreifbar zu halten. Er möchte auf Gottes Wegen gefunden werden, damit er nicht eigenwillige Ziele verfolgt und dadurch Seiner Gnade verlustig geht (2. Mo 33,13; Ps 27,11; 86,11; 119,35). Er gibt sich nicht dem Dünkel hin, schon hinreichend belehrt zu sein und genügend Weisheit und Erfahrung zu besitzen. Selbst bei gutem Wissensstand bleibt die weitere Einführung in die Wahrheit der Heiligen Schriften eine Notwendigkeit, und dies erbittet David (Vers 4; Jes 30,21 und 48,17; Jer 6,16; Joh 16,13f). Wenn jemand um Davids Wohl besorgt war, dann war es der Gott seines Heils, dem sein ganzes Vertrauen galt (Vers 5). Auf Gott harren heißt auch, beständig in Abhängigkeit von Gott zu leben und zu wissen, dass man auf Ihn angewiesen ist. So weiß ja auch das Kind sich von seinen Eltern abhängig und zum Gehorsam verpflichtet, sogar Zurechtweisung findet es am Platze. David wusste durchaus um den gewaltigen Abstand, der den ewigen Gott von einem Menschen unterscheidet, doch er liebte Seine Nähe und hielt sich dort gerne „den ganzen Tag“ auf, wie ein Kind sich in der Umgebung seines Vaters wohlfühlt und wie von selbst dort bleibt.
Der Glaubende weiß, dass er auf Gnade angewiesen ist. Um Gnade in Anspruch zu nehmen, darf er jederzeit freimütig zu seinem Gott kommen. Seit jeher ist Gott hilfsbereit dem demütigen und aufrichtigen Gläubigen gegenüber, der vertrauensvoll zu Ihm betet und Fehler eingesteht (Verse 6 und 11; Ps 130,4). Weil er zu Fehltritten neigt, bedarf auch der Gläubige ständig der Barmherzigkeit Gottes. Selbst der gottesfürchtige David war des Öfteren genötigt gewesen, die Erbarmungen Gottes in Anspruch zu nehmen, als er Vergebung nötig hatte (Verse 6 und 18; Ps 51,3). Überdies mochten in seiner Jugend durch Leichtsinnigkeit Vergehungen vorgekommen sein, die er damals nicht ernst genommen hatte, die Ihm aber in späterer Zeit in Erinnerung kamen (Vers 7). Davon musste sein Gewissen entlastet werden, selbst wenn er die Einzelheiten vergessen hatte. Ein gutes Gewissen und die lautere Gesinnung verlangen dies (Ps 19,13). In den ersten sieben Versen dieses Psalms geht es darum, dass nichts zwischen dem Gottesfürchtigen und seinem Gott steht, was die Übereinstimmung aufhebt und die Gemeinschaft verhindert. David wusste, „dass Gott Licht ist und gar keine Finsternis in ihm ist“ (1. Joh 1,5–10). Er brachte seine Bitten in Demut und mit Beugung vor und rechnete mit ihrer Erhörung. Vor allem aber wollte er vor Gott ein glückliches, reines Herz haben.
Die Zurechtbringung eines Schuldigen muss nach gottgemäßen Grundsätzen vor sich gehen. Damit ihm vergeben werden kann, muss er Gott die Ehre geben und in Demut seine Schuld bekennen. Die Echtheit der Umkehr ist überzeugend, wenn der Reumütige fortan Gottes Bund und sein Wort bewahrt (Verse 9 und 10). Er darf dann sicher sein, dass der treue Gott, der „gütig und gerade ist“ (Vers 8), zum Vergeben bereit ist und dass die Gemeinschaft mit Gott wiederhergestellt wird. Sollte es an der nötigen Belehrung über eine Gott wohlgefällige Haltung fehlen, dann wird der HERR dem Aufrichtigen die erforderliche Unterweisung zukommen lassen, wenn er Ihn darum bittet (Vers 8; Spr 2,6.7; Jak 1,5). Dass Gott gerne die geistliche Einsicht gibt, die zu einem würdigen Wandel führt, sagt das Neue Testament im Brief an die Kolosser Kap.1,9–11. Nun könnte es gerade dem Demütigen an Mut fehlen; er könnte unsicher darüber sein, wie er sich verhalten soll und ob ihm überhaupt vergeben wird. Doch der Aufrichtige darf auf Gottes Gnade vertrauen und seine Furcht überwinden. Er kann sich darauf verlassen, dass ihm nach den Zusagen des Wortes geholfen wird (Verse 9 bis 12). Auf ein Bekenntnis hin vergibt der HERR die Vergehungen um Seines Namens willen. Mit der Vergebung ist die Angelegenheit zu einem endgültigen Abschluss gebracht (Vers 11). Vertrauen auf Gott ist als Erstes erforderlich. Daraufhin wird Gott „ihn unterweisen in dem Weg, den er wählen soll“ (Vers 12, Ps 32,8). Auf die richtige Haltung hin sorgt Gott für alles Weitere und gibt Gelingen.
In Vers 10 sind die angesprochen, „die seinen Bund und seine Zeugnisse bewahren“. Gott wird sie mit Güte und Wahrheit und mit Seinem Segen begleiten auf den Pfaden, die Er vorschreibt (Ps 119,165). Die Sprüche sagen in Kapitel 16,20: „ Wer auf das Wort achtet, wird Gutes finden“. Vers 13 dieses Psalms verheißt, dass die Seele des Gottesfürchtigen im Guten und im Glück wohnen wird. Das bestätigt auch Ps 103,17: „Die Güte des HERRN aber ist von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten“. Reiche Gnade auf seinem persönlichen Weg und fortdauerndes Glück hat demnach jeder zu erwarten, der sich in Gottesfurcht an Gottes Wort hält. Eine weitere, den Gottesfürchtigen zugesicherte Segnung ist der persönliche, vertraute Umgang mit Gott (Vers 14; Spr 3,32). Hier erreicht das Maß der Segnungen einen Höhepunkt: „Denn so hoch die Himmel über der Erde sind, ist gewaltig seine Güte über denen, die ihn fürchten“, und sie bleibt es von Ewigkeit zu Ewigkeit (Ps 103,11). Der Weg zu einem ungehinderten Umgang mit Gott wird hier beschrieben. Wer diesen Weg eifrig nutzt, wird in die Gedanken Gottes und in Seine Ratschlüsse des Segens vermehrt eingeführt werden. Wie man Gott näher kommt und durch Seinen Geist unterwiesen wird, darüber sagt das Neue Testament: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen“ (Joh 14,23).
In diesem Psalm kehrt die abschließende Gruppe von sieben Versen (15 bis 21) wieder zu der Form des persönlichen Gebets zurück. Der Anlass dazu ist nicht mehr nur die eigene geistliche Haltung des Beters, es sind vielmehr die durch äußere Feinde hervorgerufenen Schwierigkeiten und Ängste. Wie schon zu Anfang des Psalms, blieben Davids Augen weiterhin auf den HERRN gerichtet. Von Ihm erbat er die dringend nötige Hilfe, denn die Hinterlist der Feinde hatte ihn in ihrem Netz gefangen (Vers 15; Ps 31,5; 121,1–3; 123,1f). „Herr, sieh an ihre Drohungen!“ (Apg 4,29). Der HERR war seine Stärke und Schutzwehr. Einsam und elend wie David sich nun fühlte, hoffte er auf die Zuwendung Seiner Güte (Vers 16; Ps 141,8f). Wenn alle ihn in seiner Not verließen, blieb sein Gott ihm doch immer treu (Ps 38,12; 40,18; 102,7). Wie David, so musste auch der Herr Jesus es erfahren, auf einsamem Pfad elend und von Menschen verlassen zu sein (Vers 17; Mt 26,56; Lk 12,50). Er empfand es tief, dass die Bedrohung immer stärker wurde und dass der Tag der Bedrängnis ständig näherkam, bis das ‚Schwert‘ Ihn erreichte (Ps 22,21; 102,3;). Übelster, zu brutaler Gewalt bereiter Hass schlug Ihm entgegen. Gott ist der Einzige, der den Bedrängten aus einer solchen Lage herausführen kann (Ps 69,15f). Seine Hilfe kommt ihnen entgegen, sie führte den Herrn Jesus wie auch David aus der Enge in weiten Raum.
In Vers 18 kommt David noch einmal auf seine Sünden zu sprechen, er möchte durch Vergebung davon erlöst werden, um dann in uneingeschränkter Gemeinschaft mit seinem Gott zu leben. Dreimal bittet Er darum, von der Gewissenslast befreit zu werden, und das ist ihm offenbar wichtiger als die Befreiung von den grausamen Feinden, die ihn hassen (Verse 7.11.19). Durch ein Schuldbewusstsein belastet zu sein, ist ihm unerträglich. Aber nur Gott kann sein Gewissen reinigen (Ps 103,3). Große Sünde (Vers 11) bringt große Gewissensnot. Wenn eine schwerwiegende Sünde vergeben ist, dann ist das der Beweis großer Gnade, die entsprechend dankbar macht. Ist jemandem bewusst, dass ihm viel vergeben wurde, dann hat dies Freude und herzliche Liebe zur Folge. Diese Wechselbeziehung hat der Herr Jesus am Beispiel der sündigen Frau im Haus des Pharisäers verdeutlicht (Lk 7,36–50). Durch Christi Werk gewinnt die Gnade den Sieg über die Sünde, sobald jemand aufrichtig mit der Sünde zu Gott gekommen ist, seine Schuld bekennt und davon ablässt.
In Vers 20 bittet David um Bewahrung seiner Seele, denn nicht nur der Leib braucht Schutz und Errettung, etwa von Krankheit oder äußerer Bedrohung. Die Schrift fordert dazu auf, auch unser Inneres zu bewahren: „Behüte dein Herz mehr als alles, was zu bewahren ist; denn von ihm aus sind die Ausgänge des Lebens“ (Spr 4,23). David legt in diesem Psalm sein ganzes äußeres und inneres Leben in Gottes Hand. Allein von Ihm erhofft er für Körper und Seele hilfreichen Beistand und eine gute Entwicklung der Dinge. Dass David bittet: „Lauterkeit und Geradheit mögen mich behüten“ (Vers 21), beleuchtet die Empfindsamkeit seines Gewissens. Sündige Absichten, Falschheit oder Trug, die in der Regel nach außen hin nicht erkennbar sind, wollte er nicht in seinem Herzen dulden; dies charakterisierte sein Glaubensleben und erfreute seinen Gott. Dies wiederum bestärkte David darin, den beschrittenen Weg weiter zu verfolgen, mit neuem Mut auszuharren und auf Gottes Eingreifen zu warten. Der Apostel Paulus schreibt: „Denn dies ist unser Rühmen: das Zeugnis unseres Gewissens, dass wir in Einfalt und Lauterkeit Gottes und nicht in fleischlicher Weisheit, sondern in der Gnade Gottes gewandelt sind in der Welt, am meisten aber bei euch“ (2. Kor 1,12). Im letzten Vers des Psalms 25 wird erneut deutlich, dass David, wie auch Paulus, nicht überwiegend an seine Belange dachte, sondern ebenso sehr an die Bedrängnisse des ganzen Volkes Gottes.