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Eine Auslegung des ersten und zweiten Timotheusbriefes
Kapitel 4: Falsche und rechte Lehre
Vers 1: Der Geist aber sagt ausdrücklich, dass in späteren Zeiten einige von dem Glauben abfallen werden, indem sie achten auf betrügerische Geister und Lehren von Dämonen.
Im scharfen Gegensatz zu den beiden letzten Versen des vorigen Kapitels geht der Apostel nun auf religiöse Verirrungen unter den Christen ein, die er als Apostel und Prophet (vgl. Eph 2,20) bereits jetzt voraussah.
Der Heilige Geist hat als der von dem Vater kommende Sachwalter in jedem einzelnen Gläubigen und in der Versammlung als Ganzes Wohnung gemacht (Joh 14,16–17; 1. Kor 3,16; 6,19). Er ist gekommen, um die Kinder Gottes bei jedem Schritt zu leiten, sie in die ganze Wahrheit einzuführen und ihnen das Kommende zu verkündigen (Röm 8,14; Gal 5,18; Joh 16,13). Schon in der Zeit des Apostels Paulus hat Er durch eine persönliche Offenbarung an ihn oder durch Sein Wirken in der Versammlung ausdrücklich auf die Gefahren hingewiesen, die in späteren, das heißt auf die Gegenwart unmittelbar folgenden Zeiten in dem Haus Gottes auftreten würden. Der Apostel Paulus teilt dies nun dem Timotheus mit. Die „späteren Zeiten“ gehen noch nicht so weit wie die „letzten Tage“ in 2. Timotheus 3,1 und 2. Petrus 3,3 oder das „Ende der Zeit“ in Judas 18. Hier spricht Paulus nämlich noch von „einigen“, wie bereits in Kapitel 1,3.6.19. Das in 2. Timotheus 3,1 stehende Wort „Menschen“ zeigt, dass der Verfall zunehmen würde.
Wenn auch die Versammlung, als Ganzes betrachtet, den Charakter des Hauses Gottes trägt, würden doch schon bald „einige von dem Glauben abfallen“. Bereits zur Zeit der Abfassung dieses Briefes hatten einige bezüglich des Glaubens Schiffbruch erlitten (Kap 1,19) oder waren von dem Glauben abgeirrt (Kap 1,6; 6,10.21). Aber das hier vorausgesagte Abfallen einiger von dem Glauben beruht auf der klaren Willensentscheidung, die Grundwahrheiten des christlichen Glaubens abzulehnen und dafür andere, von Dämonen herrührende Lehren anzunehmen.
Gibt es einen Abfall von Gläubigen? Gottes Wort spricht unzweideutig davon, dass jemand, der an den Sohn Gottes geglaubt hat und dadurch von neuem geboren ist, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat (Joh 3,16; 10,28–29; Röm 8,31–39). Es ist eine Verdrehung der Heiligen Schrift, zu behaupten – wie es leider so manches Mal geschieht –, jemand, der wiedergeboren ist, könne doch noch verloren gehen. Das würde bedeuten, dass jemand, der aus Gott geboren und dadurch ein Kind Gottes ist (Joh 1,12–13), der ein Glied des Leibes Christi und ein lebendiger Baustein in dem geistlichen Haus Gottes ist (1. Kor 12,27; 1. Pet 2,5) und der das Siegel des Heiligen Geistes besitzt (Eph 1,13–14), alle diese Vorrechte verlieren kann! Stellen wir uns das einmal vor: heute ein Kind Gottes – morgen verloren? Heute ein lebendiges Glied am Leib Christi – morgen abgeschnitten? Nein, solche Gedanken stehen im krassen Widerspruch zur Lehre des NT.
Eine andere Seite des christlichen Lebens ist jedoch das Bekenntnis von und zu diesen Dingen. Johannes schreibt von Menschen, die sagen, dass sie Gemeinschaft mit Gott haben, dass sie Gott kennen, dass sie in dem Licht sind, usw. (1. Joh 1,6; 2,4.9 usw.). Ähnlich heißt es in Jakobus 2,14: „Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke?“ Jemand kann vielleicht lange Zeit seinem Bekenntnis und seinem Lebenswandel nach die christliche Wahrheit äußerlich festhalten und offenbaren, ohne wahrhaft durch Buße und Glauben an das Erlösungswerk Christi errettet zu sein. Eines Tages wendet er sich ab, wie es im Hebräerbrief von Juden beschrieben wird, die im Anfang mitgerissen worden waren, sich dem Bekenntnis des Christentums äußerlich anzuschließen (vgl. Heb 6,4–8; 10,26–31).
Man kann das Christentum wie jede menschliche Philosophie oder Ideologie annehmen, ohne dass das Gewissen in das Licht Gottes gekommen ist. Wenn man dann die fundamentalen Wahrheiten des Wortes Gottes leugnet, um zu anderen „höheren“ Erkenntnissen zu gelangen, dann ist das Abfall von dem Glauben. Der Glaube (hier wieder mit dem Artikel wie in Kap 1,19; 3,9) ist die Gesamtheit der Heilswahrheiten, das Glaubensgut.
Mit dem Abfallen etlicher von dem Glauben ist hier noch nicht der allgemeine Abfall gemeint, der nach 2. Thessalonicher 2,3–12 die tote, bekennende Christenheit unter der Anführung des Menschen der Sünde, des Antichristen, nach der Entrückung der Versammlung erfassen wird. Aber wie der Apostel Johannes schon damals den Geist des Antichristen in vielen Menschen erkannte, die sich äußerlich zum Christentum bekannt hatten (1. Joh 2,18ff), so schrieb auch Paulus, dass das Geheimnis der Gesetzlosigkeit bereits wirksam war (2. Thes 2,7). Wie wichtig war und ist daher das glaubensvolle Festhalten an dem „Geheimnis der Gottseligkeit“ (Kap 3,16), um gegen den bei einigen beginnenden Abfall gewappnet zu sein!
Als nächstes nennt der Apostel die unsichtbaren Triebkräfte des Bösen, durch die diese Menschen verführt werden: „betrügerische Geister und Lehren der Dämonen“. Betrügerische oder irreführende Geister sind in den Menschen wirkende Kräfte, durch die sich der Teufel offenbart. Der Apostel Johannes schreibt: „Geliebte, glaubt nicht jedem Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind“ (1. Joh 4,1). Mit dem Wort „Geist“ ist weder dort noch hier der menschliche Geist gemeint, sondern satanische Geister, die Menschen zu ihren Werkzeugen machen.
Mit den „Lehren von Dämonen“ sind nicht solche Lehren gemeint, die von Dämonen handeln, sondern von ihnen ausgehen. Dämonen sind böse Geister (vgl. Off 16,13–14). Sie sind Satans Werkzeuge (vgl. Mt 12,24–29), die in der Zeit des bereits erwähnten zukünftigen Abfalls der gesamten Namenschristenheit in dieser geradezu ihre Wohnung haben werden. In Offenbarung 18,2 heißt es: „Gefallen, gefallen ist Babylon, die große, und ist eine Behausung von Dämonen geworden und ein Gewahrsam jedes unreinen Geistes.“ Der Einfluss von irreführenden Geistern und Dämonen wird heute oft unterschätzt, ist aber durch Spiritismus und Okkultismus weit verbreitet.
Vers 2: Durch (die) Heuchelei von Lügenrednern, die betreffs des eigenen Gewissens wie mit einem Brenneisen gehärtet sind.
Die Worte: „durch Heuchelei von Lügenrednern“ können auch übersetzt werden: „die in Heuchelei Lügen reden“. Im ersten Fall treten uns in den Lügenrednern Menschen entgegen, und zwar nicht als Opfer des Irrtums, sonder als seine Werkzeuge, die Verführer. Bei der zweiten angegebenen Übersetzungsmöglichkeit sind die Dämonen diejenigen, die in Heuchelei Lügen reden. Auch das Folgende würde dann grammatisch von „Dämonen“ abhängen. Beide Möglichkeiten sind dadurch miteinander in Einklang zu bringen, dass der Heilige Geist hier die Dämonen und ihre Werkzeuge miteinander identifiziert (vgl. hierzu Mk 1,23–26; Lk 4,31–36; 8,27–33) und im Nachfolgenden von den Dämonen zu den von ihnen besessenen Menschen übergeht, die in ihrem eigenen Gewissen wie mit einem Brenneisen gehärtet sind.
Einerseits geben sich die Verführer den Anschein der Frömmigkeit, aber unter dieser heuchlerischen Maske reden sie Lügen, um die Seelen der Menschen Satan, dem Vater der Lüge, zu unterwerfen. Dabei sind sie in ihren eigenen Gewissen wie mit einem Brenneisen gehärtet. Die Worte „wie mit einem Brenneisen gehärtet“ sind die Wiedergabe eines einzigen griechischen Wortes, dessen Bedeutung nicht einfach zu ermitteln ist. Es kommt nur an dieser Stelle im NT vor. W. Kelly übersetzt: „branded“ (gebrannt, gehärtet), im englischen NT von J. N. Darby heißt es: „cauterized“ (gebrandmarkt), und F. W. Grant benutzt das Wort „seared“ (versengt, gebrandmarkt). Luther, Menge und Weizsäcker benutzen das Wort „Brandmal“. Auch die meisten Ausleger denken an ein Brandmarken, wie es im Altertum bei Sklaven und Verbrechern (bei Letzteren an der Stirn) üblich war. Demnach wären diese Irrlehrer zwar nicht äußerlich, sondern innerlich in ihren Gewissen als Sünder und Feinde Gottes gekennzeichnet. Das würde aber doch bedeuten, dass sie vor sich selbst und andern bereits das Zeichen der Verurteilung in sich trügen oder als Sklaven verborgener Sünde gekennzeichnet seien. Einleuchtender und sinnvoller ist dagegen der Gedanke, der in den Worten „wie mit einem Brenneisen gehärtet“ zum Ausdruck kommt. Die Gewissen dieser Verführer sind nicht mehr rein und zart, sondern hart und gefühllos geworden, da sie sich bewusst und dauernd im Widerspruch zu Gott und Seinem Wort befinden.
Vers 3: Verbieten zu heiraten (und gebieten), sich von Speisen zu enthalten, die Gott geschaffen hat zur Annehmung mit Danksagung für die, die glauben und die Wahrheit erkennen.
Die Lehren dämonischen Ursprungs, von denen Paulus bereits in Vers 1 gesprochen hat, haben ebenso wie die Lehre des Christus ihre Auswirkungen auf das praktische Leben ihrer Anhänger. Nur stehen diese in einem krassen Gegensatz zu der Lehre, die nach der Gottseligkeit ist. Paulus fasst sie in den beiden Befehlen zusammen, nicht zu heiraten und nicht alle Speisen zu essen. Die Auslassung des eigentlich erforderlichen zweiten Verbums „gebieten“ kommt schon in Kapitel 2,12 vor und entspricht dem damaligen attisch-griechischen Sprachgebrauch.
Diese Lehren waren im Grunde jüdischen Ursprungs. Das geht aus den schon im Kolosserbrief erwähnten Vorschriften bezüglich der Beschneidung, der Feiertage und der Speisen hervor (Kol 2). Die Mitglieder der jüdischen Sekte der Essener, die in Qumran am Toten Meer ihren Hauptsitz hatten, beobachteten außerdem das Gebot der Ehelosigkeit. Zu dieser jüdischen Grundlage waren jedoch andere philosophische Gedankengänge hinzugekommen, deren Ursprung nicht jüdisch war. In Kleinasien waren die Schranken zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Bürgern nicht mehr sehr trennend. Die soziale Nachbarschaft führte zu einer jüdisch-griechisch-heidnischen religiösen Vermischung (Synkretismus). Diese unter dem Namen Gnostizismus bekannt gewordene philosophisch-theologische Richtung gelangte zwar erst im zweiten Jahrhundert in der Christenheit zu ihrer vollen Entfaltung; ihre Anfänge sind jedoch hier und in den Briefen des Johannes bereits zu erkennen. Der Gnostizismus lehrt für eine intellektuelle Elite eine höhere „Erkenntnis“ (griech. gnosis), durch die die Seele von den Fesseln der Materie befreit und zu den höheren Regionen der Wahrheit und des Lichtes geführt wird. In manchen der verschiedenen gnostischen Systeme offenbarte sich die Verächtlichmachung alles Stofflichen in großer Strenge gegenüber dem menschlichen Körper. Man glaubte, dass leibliche Askese und geistige Bereicherung voneinander abhängig seien. Aber diese satanischen Spekulationen haben nur ein Ziel: die Seele von dem lebendigen Gott fortzuziehen. Die Grundlage des göttlich geordneten Familienlebens und der Gesellschaft, die Ehe (vgl. 1. Mo 1,28; 2,18–25), war das Erste, was verächtlich gemacht wurde. Wenn jemand aus Liebe zum Herrn und in dem Wunsch, Ihm ungehinderter dienen zu können, nicht heiratet, so kann das durchaus richtig und gesegnet sein (vgl. 1. Kor 7). Aber wenn ein solcher Einzelfall zum Grundsatz und die Ausnahme zur Regel gemacht wird, verachtet man das Wort Gottes, herrscht über das Gewissen anderer und zerstört die Grundlage des Glaubens.
Ebenso ist es mit dem Gebot, sich von Speisen zu enthalten. Gott hatte in 1. Mose 1,29; 2,16; 9,2–4 dem Menschen verschiedene Speisegebote gegeben, wobei schließlich einzig der Genuss des Blutes verboten war und ist (vgl. Apg 15,20). Wer diese Anordnungen Gottes beiseite setzt, greift direkt die Autorität des ersten Buches Mose und damit des Wortes Gottes an. Ein solcher Mensch setzt sich in einen deutlichen Widerspruch zu dem Glauben, weil er sich auf einem falschen Weg eine Heiligkeit erringen und eine vermeintliche Verbindung zu Gott schaffen will, die Gott aber einzig und allein demjenigen schenken kann und will, der sich im einfachen und gehorsamen Glauben Seinem offenbarten Willen in Seinem Wort unterwirft.
In den natürlichen Funktionen und Bedürfnissen des menschlichen Leibes gibt es an sich nichts, was uns von Gott trennt. Wohl kann die Sexualität und der Nahrungstrieb – wie fast alles in unserem Leben – zur Sünde verleiten. Aber da sie von Gott gegeben sind, sind diese Dinge an sich nicht böse, wenn wir die göttliche Ordnung, in die sie von Ihm eingebettet sind, erkennen und achten. Wenn wir den Bau unseres Körpers als von Gott bereitet anerkennen, können wir auch den Geschlechtstrieb und die Nahrungsaufnahme dankbar als etwas von Ihm Verordnetes akzeptieren, ja, als ein Band betrachten, das uns im Glauben und in der Abhängigkeit zu Ihm erhält. Das gilt so natürlich nur für die, „die glauben und die Wahrheit erkennen (oder: anerkennen)“. Wer jedoch unversöhnt und fern von Gott ist, kann in den äußerlichen Gaben keinen Anlass zur Danksagung erkennen.
Verse 4–5: Denn jedes Geschöpf Gottes ist gut und nichts verwerflich, wenn es mit Danksagung genommen wird; denn es wird geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet.
Was von einem guten Schöpfer-Gott kommt, kann nicht anders als gut sein. Dieser Grundsatz steht im Gegensatz zu dem Irrtum derer, die in allem Stofflichen das Böse sehen wollten und so weit gingen, dass sie die Schöpfung selbst einem bösen oder unvollkommenen „Gott“ oder „Demiurg“ zuschrieben. Das Gute, das Gott gibt, soll mit Danksagung genommen werden. Es wird für den Gläubigen, der die Wahrheit erkennt, geheiligt durch Gottes Wort und Gebet. Das Volk Israel durfte nach Gottes eigenem Gebot nicht alle Speisen essen (vgl. besonders 3. Mo 11). Die Heidenvölker folgen entweder ihren natürlichen Trieben oder sind durch ihre religiösen Vorschriften so gebunden, dass sie lieber verhungern, als eine „heilige Kuh“ zu schlachten. Für den Christen gibt es außer dem bereits erwähnten Verbot des Genusses von Blut jedoch keinerlei Beschränkungen, wie Gottes Wort uns an manchen Stellen mitteilt (siehe Mt 15,11; Röm 14,14; 1. Kor 10,27; 1. Tim 6,17). Durch diese klaren Aussprüche der Heiligen Schrift ist generell jedes Geschöpf zum Genuss geheiligt. Heiligen bedeutet ja, dass etwas für einen bestimmten, von Gott ausersehenen Zweck abgesondert wird. Ein Christ, der ohne Notwendigkeit ausschließlich vegetarisch lebt, setzt sich daher über diese göttliche Anordnung hinweg.
Die Speise wird jedoch nicht nur durch das Wort Gottes objektiv geheiligt. Hier wird auch noch eine subjektive Heiligung durch das Gebet erwähnt. Damit ist nicht nur die Danksagung bei den Mahlzeiten gemeint, sondern auch das große Vorrecht, dass der Gläubige aufgrund des Erlösungswerkes Christi freimütig zu Gott als seinem Vater nahen kann, weil er Seine Gnade und Liebe kennt und täglich neu erfährt. In dieser innigen Gemeinschaft darf er die scheinbar geringsten Dinge als Gaben eines fürsorglichen Vaters erkennen, der ja auch die größte aller Gaben, Seinen eigenen Sohn, nicht geschont, sondern Ihn für uns alle hingegeben hat.
Vers 6: Wenn du dies den Brüdern vorstellst, so wirst du ein guter Diener Christi Jesu sein, auferzogen durch die Worte des Glaubens und der guten Lehre, der du genau gefolgt bist.
Das hinweisende Fürwort „dies“ steht im Griechischen in der Mehrzahl und könnte auch mit „diese Dinge“ übersetzt werden (so auch Kap 3,14; 4,11.15; 5,7.21; 6,11). Es bezieht sich immer auf die vorher erwähnten Gesichtspunkte der Wahrheit über das Verhalten im Haus Gottes. Wenn Timotheus diese Dinge den Brüdern vorstellte, erwies er sich im Gegensatz zu den heuchlerischen Lügenrednern als ein guter (griech. kalos) Diener Christi Jesu. Im Unterschied zu Kapitel 3,8–13 ist „Diener“ (griech. diakonos) hier in einem allgemeineren Sinn zu verstehen. Das Wort „auferziehen“ bedeutet auch nähren und kommt im NT nur hier vor. Es steht nicht, wie die deutsche Übersetzung nahelegt, in einer Vergangenheitsform, sondern in der Gegenwart (Partizip Präsens Passiv) und bezeichnet daher keine abgeschlossene Handlung, sondern einen andauernden oder allgemeingültigen Vorgang. Die Hilfsmittel zu dieser Erziehung oder Ernährung sind „die Worte des Glaubens und der guten (griech. kalos) Lehre“, der Timotheus genau gefolgt war (zu dem Wort „folgen“ vgl. Lk 1,3 und 2. Tim 3,10 mit Anmerkung der Elberfelder Übersetzung). Die Lehre (griech. didaskalia), die schon in Kapitel 1,10 als „gesunde Lehre“ und in Kapitel 4,1 im Zusammenhang mit Irrlehren vorkommt, begegnet uns nochmals in Kapitel 4,13.16; 5,17; 6,1.3. Während der Glaube mehr den Inhalt und Gegenstand der Wahrheit bezeichnet, ist die Lehre mehr die Form, die Gestalt, in der die Wahrheit mitgeteilt wird.
Wie Timotheus muss jeder Christ die Wahrheit kennen lernen, sie nicht nur mit seinem Verstand, sondern in der Stille in Herz und Gewissen aufnehmen. Das Mittel zu dieser geistlichen Erziehung sind nicht nur der Glaube (das heißt die Heilswahrheit, vgl. Vers 1) und die Lehre allein, sondern die Worte des Glaubens und der gesunden Lehre. Inhalt und Form der göttlichen Wahrheit sind untrennbar miteinander verbunden (vgl. 1. Kor 2,12–13). Dieses Bild gesunder Worte, wie Paulus es in seinem zweiten Brief nennt, kann gar nicht genau genug untersucht und befolgt werden. Immer wieder werden neue Schätze der Weisheit und der Erkenntnis ans Licht kommen. Solch eine Beschäftigung mit den Worten des Glaubens und der guten Lehre unter Gebet und Selbstprüfung ist die Grundlage einer guten, gesunden geistlichen Ernährung und Erziehung. Diese wiederum ist eine Voraussetzung zu geistlichem Wachstum, aber nicht die einzige. Eine weitere unerlässliche Bedingung zum geistlichen Wachstum besteht darin, das Gelernte oder Erkannte in die Praxis des täglichen Glaubenslebens umzusetzen. Gerade an diesem Punkt versagen wir jedoch häufig. Darin liegt eine Ursache geistlicher Armut und Schwachheit. Ein Diener des Herrn, der das, was er anderen predigt, nicht selbst verwirklicht, besitzt jedoch keine sittliche Autorität.
Nur wenn Timotheus die absolute Autorität der Worte des Glaubens und der guten Lehre in seinem eigenen Leben anerkannte, konnte er als ein guter Diener Christi mit geistlicher Autorität auftreten.
Vers 7: Die ungöttlichen und altweibischen Fabeln aber weise ab, übe dich aber zur Gottseligkeit.
Den Worten des Glaubens und der guten Lehre stellt der Apostel die ungöttlichen und altweibischen Fabeln gegenüber (vgl. Kap 6,20; 2. Tim 2,16), die Timotheus mit aller Entschiedenheit abweisen sollte. Damit können wohl nicht die Lehren von Dämonen in Vers 1 gemeint sein, die erst in der Zukunft aufkommen würden. Bereits in Kapitel 1,3–4 haben wir jedoch von anderen Lehren, Fabeln und Geschlechtsregistern gelesen, die in Ephesus verbreitet wurden und, anstatt zu erbauen, nur Streit anrichteten. Von solchen Fabeln ist hier die Rede (vgl. auch Tit 1,14).
Es folgen die Worte: „Übe dich aber zur Gottseligkeit.“ Die Gottseligkeit umfasst alle unsere Beziehungen zu Gott (vgl. das zu Kap 2,2 Gesagte). Sie besteht in der Gemeinschaft mit Gott und der daraus hervorgehenden Praxis unserer Worte und Taten. In dieser Richtung sollte Timotheus sich üben. Dazu musste er einerseits alles abweisen, was seiner Beziehung zu Gott entgegenstand. Andererseits gehörte dazu das Verlangen nach dem Wort Gottes, nach Gebet und Nachsinnen sowie nach der Gemeinschaft mit den Kindern Gottes.
Zu dieser Übung zur Gottseligkeit gehört aber auch, dass der Gläubige selbst Zucht über seinen Leib übt. Die Korinther befanden sich in dieser Hinsicht in großer Gefahr. Denken wir nur an die in 1. Korinther 5 und 6 erwähnte Sünde der Hurerei und ihre in Kapitel 11 angeführte Zügellosigkeit beim Mahl des Herrn! Deshalb stellte Paulus sich selbst als Beispiel hin, wie wir in 1. Korinther 9,24–27 lesen: „Wisst ihr nicht, dass die, die in der Rennbahn laufen, zwar alle laufen, aber einer den Preis empfängt? Lauft (nun) so, dass ihr (ihn) erlangt. Jeder aber, der kämpft, ist enthaltsam in allem; jene freilich, damit sie eine vergängliche Krone empfangen, wir aber eine unvergängliche. Ich laufe daher so, nicht wie aufs Ungewisse; ... sondern ich zerschlage meinen Leib und führe (ihn) in Knechtschaft, damit ich nicht etwa, nachdem ich anderen gepredigt habe, selbst verwerflich werde.“ Ohne diese Übung zur Gottseligkeit steht der Diener Christi immer in großer Gefahr, trotz äußerlicher Aktivität für seinen Herrn, sich innerlich von Ihm zu entfernen.
Vers 8: Denn die leibliche Übung ist zu wenigem nütze, die Gottseligkeit aber ist zu allen (Dingen) nütze, da sie (die) Verheißung des Lebens hat, des jetzigen und des zukünftigen.
Mit der leiblichen Übung ist nicht die bereits in Vers 3 angedeutete Askese gemeint, die später im Mönchtum eine so traurige Blüte erleben sollte. Diese Art von Übung steht ganz im Gegensatz zu Gottes Gedanken. Sollte der Apostel andererseits aber meinen, die mit der geistlichen untrennbar verbundene leibliche Selbstzucht des nach Gottseligkeit trachtenden Christen sei zu wenigem nütze? Zu ihr hatte er doch den Timotheus soeben noch aufgefordert. Es kann also nur die Ausbildung und Stählung von Körperkräften, Geschicklichkeit und Leistungsfähigkeit gemeint sein. Der Begriff der leiblichen Übung ist dem griechischen Sportleben entlehnt und war den Menschen der damaligen Zeit wohl bekannt. In diesem Abschnitt werden also drei verschiedene Dinge behandelt, die zum rechten Verständnis auseinander gehalten werden müssen. In Vers 3 werden menschliche Gebote der Askese erwähnt, durch die das Wort Gottes beiseite gesetzt wurde. Durch das Halten dieser Gebote sollten ihre Anhänger zu einer angeblich höheren Heiligkeit und Erkenntnis gelangen. Diese Askese wird im Wort Gottes scharf verurteilt. Die in Vers 7 erwähnte Übung zur Gottseligkeit beinhaltet geistliche und körperliche Selbstzucht, die jeder gute Diener Christi benötigt, um vor Trägheit und anstößigem Wandel bewahrt zu bleiben. Als Drittes wird in Vers 8 die leibliche Übung, das heißt das körperliche Training, erwähnt. Paulus leugnet nicht, dass diese leibliche Übung einen gewissen Wert hat oder, wie der Heilige Geist es wörtlich ausdrücken lässt, „zu wenigem nütze“ ist. Aber das Höchste, was durch sie erreicht werden kann, ist körperliches Wohlbefinden und eine gewisse Freude und Ehre im irdischen Leben. Im Gegensatz dazu ist die Gottseligkeit, zu der Timotheus sich üben sollte, nützlich zu allen Dingen, da sie von Gott selbst die Verheißung des Lebens hat. Die Gottseligkeit erfordert eine beständige Wachsamkeit, heilige Selbstzucht und vollständige Unterwerfung unter den offenbarten Willen Gottes. So muss sich ja auch jeder Teilnehmer an einem Wettkampf beständig vor jedem schädlichen Einfluss und aller Trägheit hüten, damit er für den Sieg in Frage kommt. Im Leben des Glaubens und der Gottseligkeit wird der ganze Mensch gefordert, der sich der Sünde für tot hält, aber lebend für Gott in Christo Jesu. Auf dieser Gottseligkeit ruht die Verheißung des jetzigen und des zukünftigen Lebens. In der gegenwärtigen Zeit darf der Gläubige im Vertrauen auf Gott in dem friedlichen Bewusstsein ruhen, dass Er selbst gesagt hat: „Ich will dich nicht versäumen, noch dich verlassen“ (Heb 13,5). Im Blick auf die Zukunft heißt es in Römer 2,7, dass Gott denen, die mit Ausharren in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre und Unverweslichkeit suchen, ewiges Leben vergelten wird. Und in seinem zweiten Brief an Timotheus schreibt der Apostel: „Das Wort ist gewiss; denn wenn wir mitgestorben sind, so werden wir auch mitleben“ (2. Tim 2,11). Im Allgemeinen finden wir in den Pastoralbriefen nicht so sehr die himmlischen Vorrechte der Gläubigen, sondern die Praxis eines gesunden und hingebungsvollen Lebens nach der Gottseligkeit. Das ewige Leben sieht Paulus meistens als etwas Zukünftiges vor dem Gläubigen liegen, während es in den Schriften des Johannes im Allgemeinen als gegenwärtiger Besitz des Gläubigen betrachtet wird. Während Paulus die vollkommene Stellung des Gläubigen vor Gott, dem Vater, in Christo aufgrund des Glaubens an Sein Sühnungswerk beschreibt, sieht Johannes uns als Kinder Gottes, die aus Ihm geboren sind und daher schon jetzt das ewige Leben besitzen. Demzufolge wird dem Gläubigen bei Paulus das ewige Leben dann in Vollkommenheit und Vollendung zuteil, wenn er in der Herrlichkeit bei Christus ist (vgl. Kap 1,16; Röm 6,22; Gal 6,8; Tit 3,7).
Verse 9–10: Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert; denn dafür arbeiten wir und werden geschmäht, weil wir auf einen lebendigen Gott hoffen, der ein Erhalter aller Menschen ist, besonders (der) Gläubigen.
Wie bereits in Kapitel 1,15 gebraucht der Apostel hier die unterstreichenden Worte: „Das Wort ist gewiss und aller Annahme wert“ (vgl. Kap 3,1). Hier beziehen sie sich auf das in Vers 8 Gesagte. „Dafür“ (oder wie W. Kelly übersetzt: „zu diesem Zweck“) nimmt nicht direkt Bezug auf „das Wort“. Die Apostel und ihre Mitarbeiter arbeiteten dafür, dass die Worte des Glaubens und der guten Lehre, deren Inhalt die Gottseligkeit ist, auf der Erde verbreitet wurden. Dafür wurden sie auch geschmäht (einige gute alte Handschriften des NT, A C F G K, lesen hier jedoch agonizometha „wir kämpfen“ anstatt oneidizometha „wir werden geschmäht“). Aber diese Diener des Herrn ließen sich nicht entmutigen, denn die Triebfeder ihres Dienstes und Lebens war ihre feste Hoffnung auf einen lebendigen Gott, der ein Erhalter aller Menschen ist, besonders der Gläubigen. Wieder nennt Paulus Gott hier den „lebendigen Gott“, wie bereits in Kapitel 3,15 (vgl. Mt 16,16; 26,63; Apg 14,15; 1. Thes 1,9; Heb–9,14; 10,31). Das Wort „Erhalter“ (griech. soter) wird in Kapitel 1,1 und 2,3 mit „Heiland“ übersetzt. Dieser Titel wurde von den Heiden für ihre Gottheiten, aber auch für den römischen Kaiser gebraucht. Im Römischen Reich wurde der regierende Kaiser der „Erhalter (oder Retter; griech. soter) der Welt“ genannt und als solcher verehrt. Aber welch ein unermesslicher Unterschied besteht zwischen einem solchen menschlichen soter – mag er noch so wohltätig und gütig regieren – und dem lebendigen Gott, der ein Erhalter aller Menschen ist, besonders der Gläubigen! In den meisten Bibelübersetzungen wird das Wort hier mit „Retter“ oder „Heiland“ übersetzt. Aber es handelt sich hier nicht um das Errettungswerk Christi für verlorene Sünder. Gott wird hier als der einzige und wahre Erhalter der gesamten Menschheit gesehen, für die Er in Seiner Regierung Sorge trägt (vgl. Neh 9,6 mit Anmerkung; Mt 5,45; 10,29; Apg 17,25). Aber die Gläubigen, die erkauft sind durch das Blut Christi, sind die besonderen Gegenstände Seiner Fürsorge (1. Pet 3,12; 4,19).
Kein wahrer Christ wird jemals die unermesslichen Vorrechte der Erlösung und des ewigen Lebens, der himmlischen Hoffnung und der ewigen Herrlichkeit vergessen. Aber angesichts dieser unsichtbaren und ewigen Dinge könnte er die beständige, liebevolle Fürsorge Gottes in den Dingen des täglichen Lebens übersehen. Das wäre eine Verunehrung des Herrn und ein Schaden für ihn selbst. Der vorliegende Vers aber, wie wir gesehen haben, auch der Anfang dieses Kapitels, soll die Seele des Gläubigen vor einem solchen Irrtum bewahren. Die Offenbarung hoher geistlicher Wahrheiten und Vorrechte aufgrund des Erlösungswerkes Christi kann die unveränderliche Tatsache, dass Gott der Erhalter aller Menschen ist, an Herrlichkeit übertreffen, aber niemals beiseite setzen. Aber überall, wo Irrlehre oder falsche Lehre auftaucht, besteht die Gefahr, dass die Kreatur verachtet wird.
Verse 11–12: Dies gebiete und lehre. Niemand verachte deine Jugend, sondern sei ein Vorbild der Gläubigen in Wort, in Wandel, in Liebe, in Glauben, in Keuschheit.
Die in den Versen 11–16 enthaltenen Ermahnungen richten sich zwar speziell an Timotheus und beziehen sich auf seinen Dienst, aber sie sind auch nützlich für die Diener Gottes zu allen Zeiten. Die erste Aufforderung des Apostels lautet: „Dies gebiete und lehre“. Die Tatsache, dass das Wort „gebieten“ so häufig erwähnt wird, unterstreicht die Wichtigkeit des praktischen Wandels des Christen, der ja das Thema dieses Briefes ist (vgl. Kap 1,3; 5,7; 6,13.17). Hier ist diese Aufforderung sehr allgemein gehalten und umfasst sicher mehr als nur das in den Versen 9–10 Gesagte. Als Paulus den jungen Timotheus nach Korinth sandte, schrieb er den Gläubigen dort: „Wenn aber Timotheus kommt, so seht zu, dass er ohne Furcht bei euch sei; denn er arbeitet am Werk des Herrn wie auch ich. Es verachte ihn nun niemand“ (1. Kor 16,10–11). Hier ermahnt er Timotheus selbst, sich als Gebietender und Lehrender so zu benehmen, dass niemand dadurch veranlasst wird, ihn wegen seiner Jugend mit Geringschätzung zu behandeln.1 Aber nicht nur das, sondern er sollte auch ein Vorbild der Gläubigen sein. Damit weist der Apostel auf einen sehr wichtigen Punkt im Glaubensleben hin. Ein geistlicher Führer – das war Timotheus trotz seiner Jugend – muss nicht nur den rechten Weg weisen können, sondern auch selbst darauf vorangehen, damit die anderen ihm folgen können. So spricht Paulus von sich selbst (1. Kor 11,1; Phil 3,17), in dieser Richtung ermahnt Petrus die Ältesten (1. Pet 5,2.3), und so sehen wir es in Vollkommenheit bei unserem Herrn Jesus (1. Pet 2,21). Der gute Hirte geht vor Seinen Schafen her, und sie folgen Ihm (Joh 10,4).
Nicht nur die Aufseher und Diener (vgl. Kap 3) müssen in ihrem Wandel untadelig sein, sondern auch diejenigen, die im Evangelium, im Hirtendienst und der Lehre mit der ihnen vom Herrn verliehenen Gabe dienen. Welche Autorität könnten sie sonst in ihrem Dienst ausüben?
Zunächst werden die beiden Gebiete genannt, in denen Timotheus ein Vorbild sein sollte: Wort und Wandel. Er sollte also in seinem ganzen Leben ein Beispiel eines treuen Jüngers sein. In seinen Worten sollte keine Unaufrichtigkeit oder Unehrlichkeit, keine Leichtfertigkeit oder Unreinheit zum Ausdruck kommen, sondern sie sollten allezeit in Gnade, mit Salz gewürzt sein (vgl. Eph 4,29; 5,4; Kol 4,6). Aber auch sein Lebenswandel sollte vorbildlich sein, wo immer Timotheus sich bewegen und mit wem er auch zusammenkommen mochte.
Sodann werden die guten Eigenschaften oder Tugenden erwähnt, durch die Timotheus ein Vorbild sein konnte: Liebe, Glaube und Keuschheit. Gott hat Seine Liebe durch den Heiligen Geist in die Herzen der Gläubigen ausgegossen, und sie lieben, weil Er sie zuerst geliebt hat (Röm 5,5; 1. Joh 4,19). Die göttliche Natur kommt in der Liebe mit ihrer Hingabe, ihrem Zartgefühl und Mitleid zum Ausdruck. Der Glaube ist nicht nur das treue Festhalten an der offenbarten Heilswahrheit, dem Gegenstand unseres Glaubens, sondern die wahre Kenntnis Gottes und das Vertrauen auf Ihn in allen Umständen des täglichen Lebens. Dieser lebendige Glaube ist die mächtige Triebfeder für einen treuen Wandel und Dienst. Die Reinheit schließlich ist das Indiz für die Echtheit und Aufrichtigkeit der Liebe und des Glaubens. Sie beschränkt sich nicht auf den Bereich des Geschlechtlichen, obwohl dieser seit eh und je häufig der Anlass zu Unreinheit und Sünde geworden ist, sondern umfasst wohl alles, was der Person eine lautere und reine Art verleiht. Ohne diese Voraussetzungen hätte Timotheus den nun folgenden Auftrag nicht erfüllen können.
Vers 13: Bis ich komme, halte an mit dem Vorlesen, mit dem Ermahnen, mit dem Lehren.
Bereits in Kapitel 3,14 hatte Paulus die Hoffnung ausgesprochen, bald zu Timotheus nach Ephesus zurückzukehren. Nun erinnert er ihn daran, sich bis dahin dem Vorlesen der Heiligen Schrift, dem Ermahnen und dem Lehren zu widmen. Das Wort, das hier mit „anhalten“ übersetzt ist (griech. prosechein), bedeutet eigentlich „die Aufmerksamkeit auf etwas richten, auf etwas Acht haben“. Daher ist es möglich, dass Timotheus hier nicht nur selbst ermahnt wird, diese drei Tätigkeiten auszuüben, sondern auch darauf zu achten, dass andere dies in gebührender Weise taten.
Das Vorlesen und Erklären der Schriften des AT war schon in den jüdischen Synagogen am Sabbat üblich. In der Synagoge zu Nazareth las und erklärte der Herr Jesus einen Abschnitt aus dem Propheten Jesaja (Lk 4,16.27; vgl. auch Apg 13,14–16). In den Zusammenkünften der Christen geschah dasselbe. Nach und nach kamen zunächst die Briefe (vgl. Kol 4,16), dann die übrigen inspirierten Schriften des NT dazu. Das Lesen der Heiligen Schrift ist die Grundlage jeder christlichen Unterweisung. Wenn es im Geist der Unterwürfigkeit und mit wahrer Bereitschaft nicht nur zum Hören, sondern auch zum Gehorchen geschieht, dann wird allein schon das Lesen des Wortes Gottes in den Seelen eine segensreiche Frucht hervorrufen. Achten wir daher nicht in erster Linie auf Menschenworte, sondern auf das Wort Gottes, ohne jedoch die Gaben zu verachten, die der Herr zur Auferbauung Seiner Versammlung gegeben hat.
Ermahnen ist die Anwendung des Gelesenen auf die Herzen und Gewissen der Zuhörer. Dadurch werden sie zum rechten Handeln erweckt und vor falschen Einflüssen und Lehren bewahrt (vgl. Kap 1,3.4).
Durch das Lehren wird die Bedeutung des Wortes Gottes erklärt, so dass die Hörer den Willen Gottes klar erkennen können.
Vers 14: Vernachlässige nicht die Gnadengabe in dir, die dir gegeben worden ist durch Weissagung mit Auflegen der Hände der Ältestenschaft.
Wenn Timotheus im vorigen Vers zur Aktivität in der Versammlung aufgefordert wurde, so geschah das nicht ohne Grund. Er besaß eine Gnadengabe (griech. charisma; vgl. Röm 12,6–8; 1. Kor 12,4; 1. Pet 4,10). Worin diese Gnadengabe bestand, wird weder hier noch anderswo ausdrücklich gesagt. Aber aus 2. Timotheus 4,5 geht hervor, dass er ein Evangelist war, und die bereits betrachteten Stellen in Kapitel 1,3; 4,6–7.11 sowie Kapitel 4,2 des zweiten Briefes an Timotheus zeigen, dass er auch die Gabe des Lehrers besaß (vgl. Eph 4,11).
Diese Gabe sollte Timotheus nicht vernachlässigen. Durch Trägheit, Gleichgültigkeit oder zu starke Beschäftigung mit anderen Dingen kann jede Fähigkeit vernachlässigt werden. Wenn ich im Sommer meinen Garten einige Zeit vernachlässige, sind die Folgen bald für jeden ersichtlich: Das Unkraut breitet sich aus, und die erwünschten Früchte verkümmern oder bleiben ganz aus. Wenn jemand eine Gnadengabe von dem Herrn empfangen hat, ist damit gleichzeitig der Auftrag verbunden, sie zur Ehre des Herrn und zum Segen für andere zu benutzen. Das hat der Herr selbst in dem Gleichnis der Talente in Matthäus 25,14–30 deutlich gemacht. In 2. Timotheus 1,6 wird Timotheus ermahnt, diese Gnadengabe anzufachen, das heißt, aktiv tätig zu sein, damit sie zur vollen Entfaltung kommt.
Die Gnadengabe, die Timotheus besaß, war ihm durch Weissagung zuteil geworden. Schon in Kapitel 1,18 hatte Paulus ihn an die vorangegangenen Weissagungen über ihn erinnert, womit er sicherlich auf die gleiche Tatsache hinwies wie in diesem Vers. Durch prophetische Äußerungen war schon früh auf die Berufung des Timotheus zu einem besonderen Dienst hingewiesen worden. Der Apostel Paulus hatte ihm in einem wohl einmaligen Fall die Gnadengabe Gottes durch das Auflegen seiner Hände mitgeteilt (2. Tim 1,6). An keiner anderen Stelle des NT lesen wir, dass Gnadengaben durch Vermittlung von Menschen verliehen oder auch nur bestätigt werden. Der Herr Jesus selbst gibt Seiner Versammlung die Gaben (griech. doma; Eph 4,10), und sie können nur in der Kraft des Heiligen Geistes in rechter Weise ausgeübt werden (1. Kor 12,4.8–11). Jede Ernennung oder Berufung zur Ausübung einer Gabe ist eine Vermischung zwischen den Gnadengaben und den örtlichen Ämtern und zeigt völlige Unkenntnis der Gedanken Gottes über göttliche Autorität und geistlichen Dienst (vgl. das zu Kapitel 3 Gesagte).
Es ist daher sehr bedeutsam, dass Timotheus eine Gnadengabe nicht durch, sondern mit Auflegen der Hände der Ältestenschaft besaß. Nicht dadurch, dass die Ältesten ihm die Hände auflegten, hatte er die Gabe empfangen, sondern durch Weissagung und durch das Auflegen der Hände des Apostels. Die Ältesten hatten ihm dann ihre Hände aufgelegt, um ihre Gemeinschaft im Dienst mit ihm auszudrücken. So konnte er seine Arbeit in dem Bewusstsein tun, dass die Ältesten der Versammlung seinen Auftrag anerkannten und unterstützten.
Das Auflegen der Hände war schon im AT im Opferdienst eine sehr bekannte Tatsache. Bei der Darbringung des Brandopfers ging die Wohlgefälligkeit des Opfertieres für Gott auf den Opfernden über (3. Mo 1,4), bei dem Sündopfer wurde dadurch die Sünde auf das Opfertier gelegt (3. Mo 4,4.15.24; 16,21), und beim Friedensopfer kam die Gemeinschaft dadurch zum Ausdruck (3. Mo 3,2). In jedem Fall war es eine Einsmachung mit dem Opfertier, das sinnbildlich von dem Opfer Christi spricht. Auch im NT ist die Handauflegung meistens der Ausdruck der Einsmachung und Gemeinschaft (vgl. Apg 6,6; 13,3; 1. Tim 5,22). Der Gedanke an eine Weihe oder Berufung zu irgendeinem Dienst liegt dem Akt der Handauflegung in der Heiligen Schrift völlig fern. Auch wenn Paulus dem Timotheus die Hände aufgelegt hatte (2. Tim 1,6), kam darin in erster Linie die Einsmachung des alten Dieners mit dem jungen zum Ausdruck (siehe auch Kapitel 5,22).
Vers 15: Bedenke dies sorgfältig; lebe darin, damit deine Fortschritte allen offenbar seien.
J. N. Darby übersetzt den ersten Teil dieses Verses wie folgt: „Beschäftige dich mit diesen Dingen“, und W. Kelly übersetzt: „Verwende Sorge auf diese Dinge.“ Das griechische Wort für „bedenken“ (meletao) kommt nur noch in Apostelgeschichte 4,25 vor, wo es mit „sinnen“ wiedergegeben wird.
Wie bereits in Vers 6 und 11 werden Timotheus hier die vorherigen Ermahnungen nochmals besonders ans Herz gelegt. Er soll seinen Sinn ganz auf diese Dinge richten, nicht auf eigene Interessen oder gar weltliche Dinge. Das ist das Kennzeichen eines treuen und brauchbaren Dieners, der für die Interessen seines Herrn besorgt ist. Er soll nicht für sich selbst leben und arbeiten, sondern für seinen Herrn.
Wenn Timotheus dies täte, würden seine Fortschritte allen offenbar werden. Ein Wandel in Gemeinschaft mit dem Herrn kann nicht verborgen bleiben. Er gibt dem Dienst eine sittliche Autorität, die einen tiefen Eindruck auf alle machen wird. Die Fortschritte bestehen in der Kenntnis des Wortes Gottes, in ihrer Anwendung auf den eigenen Wandel und den der Zuhörer, in der Urteilskraft und in dem Erkennen der Bedürfnisse der einzelnen Seelen, sowie in der Fähigkeit, ihnen in geistlicher Weise zu entsprechen.
Vers 16: Habe Acht auf dich selbst und auf die Lehre; beharre in diesen Dingen; denn wenn du dies tust, (so) wirst du sowohl dich selbst erretten als auch die, die dich hören.
Mit den ersten Worten dieses Verses wiederholt der Apostel nochmals, was er Timotheus bereits eingeschärft hat. Jeder Christ, auch der Diener des Herrn, ist in erster Linie für sich selbst verantwortlich, erst dann für andere. So sagt Paulus den Ältesten von Ephesus: „Habt Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde“ (Apg 20,28). Das eigene Gewissen, das in diesem Brief so oft erwähnt wird, muss immer im Licht Gottes unbefleckt erhalten werden.
Dann aber war es die besondere Aufgabe des Timotheus, auf die Lehre zu achten. Damit ist hier die Reinheit und Sorgfalt bei der Belehrung, aber auch die Lehrtätigkeit anderer Brüder gemeint (vgl. Kap 5,17). Die Belehrung der Gläubigen muss dem Bild gesunder Worte entsprechen.
Timotheus sollte in diesen Dingen beharren. Das bedeutet, dass er einerseits daran festhalten und sich nicht anderen Dingen zuwenden sollte. Aber es bedeutet auch, dass er dies fortgesetzt, ohne Unterlass tun sollte. Schon mancher wollte mit großem Eifer in das Werk des Herrn eintreten. Aber als die ersten Schwierigkeiten auftauchten und die Ergebnisse oder die Anerkennung nicht wie erwartet eintraten, erlahmte das anfängliche Interesse, weil das Ausharren, in dem man sich unter solche Situationen stellt und sie mit dem Herrn und für Ihn erträgt, fehlte.
Wenn Timotheus dies täte, würde er sowohl sich selbst erretten, als auch die, die ihn hörten. Hier ist mit „erretten“ nicht die Errettung der Seele gemeint, die Gott demjenigen schenkt, der an den Herrn Jesus glaubt (vgl. Kap 2,4; 2. Tim 1,9), sondern die Errettung des Gläubigen von den vielen Gefahren auf dem Weg zur Herrlichkeit (vgl. Röm 5,10; 2. Tim 4,18; Heb 7,25). Christus verwendet sich zur Rechten Gottes für die Seinigen, aber hier sehen wir unsere Verantwortung dabei (vgl. Phil 2,12). Die Errettung ist hier die vollkommene Bewahrung vor den bösen Lehren und Praktiken, vor denen wir am Anfang dieses Kapitels ausdrücklich durch den Heiligen Geist gewarnt werden.
Fußnoten
- 1 Wenn Timotheus etwa 20–25 Jahre alt war, als Paulus ihn auf seiner zweiten Reise um das Jahr 50 als Diener mitnahm (Apg 16), dann möchte er jetzt ungefähr 33–38 Jahre alt sein.