Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 15
Wenn jemand sich dort aufhalten will, wo Gott wohnt, dann muss er die von Gott gestellten Bedingungen erfüllen. Denn Gottes Zelt (Vers 1) ist ein heiliger Ort auf Seinem heiligen Berg, zu dem ein Mensch normalerweise keinen Zutritt haben kann (Jes 33,14). „Denn wer ist es wohl, der sein Herz verpfändete, um mir zu nahen? spricht der HERR“ (Jer 30,21b). Kein Mensch kann für sich in Anspruch nehmen, heilig zu sein. Doch um Gott nahen zu können, muss er der Heiligkeit Gottes entsprechen (3. Mo 10,3 und 19,2; Heb 12,14). Nur mit Gottes Hilfe, durch Sein Licht und Seine Wahrheit, die ihm ohne eigenes Verdienst als Gnadengeschenk Gottes zuteilwerden, kann ein Mensch zu der Heiligkeit gelangen, die den Zutritt gewährt (Ps 43,3). Außerdem muss er „unschuldiger Hände und reinen Herzens“ sein (Ps 24,3.4; vergl. Mt 22,12). Daraufhin gehört er zu den Glückseligen, die Gott dazu auserwählt hat, Ihm zu nahen (Ps 65,5). Das Letztgenannte ist eine große Gnade, die dem Einzelnen von Gott verliehen ist. Diese Bedingungen lassen es als eine ungeheure Anmaßung erscheinen, als ein Unheiliger vor Gott hintreten zu wollen. Wie andere Schriftstellen zeigen, wird der Zutritt durch eine geöffnete Tür oder durch ein Tor erschlossen, das der Herr den Auserwählten öffnet: „Dies ist das Tor des HERRN: Die Gerechten werden dadurch eingehen“ (Ps 118,20; Off 22,14). Der Zutritt ist nur durch den Herrn möglich (Joh 10,7–9; Off 3,7). Der Zugang ist nicht abhängig von einer bevorrechtigten Abstammung oder von menschlichem Ermessen (Jes 56,3–7; Apg 10,15.34f). Durch die angeführten Stellen – die zwar verschiedene Inhalte betreffen, aber das Zugangsrecht verdeutlichen – wird klar, dass heute das ‚Nahen‘ der Gottesfürchtigen nach vergleichbaren Grundsätzen geschieht, wie sie Gottes Wort zu damaliger Zeit und für die zukünftige Endzeit dem Volk Israel vorschreibt. Bei der Frage, wer zu den Bewohnern Seines ewigen Reiches gehört, gelten weitgehend die gleichen Grundsätze für das irdische wie für das himmlische Reich. Ein natürlicher Mensch kann ohne das gnädige Eingreifen Gottes, das eine geistliche innere Erneuerung bewirkt, die geforderten Eigenschaften nicht haben, weil er den gestellten Bedingungen schon von Natur aus nicht entspricht. Es kommt heute wie damals einer Missachtung der Heiligkeit Gottes gleich, wenn jemand das Haus Gottes oder überhaupt Seine Nähe in gedankenloser Leichtfertigkeit aufsucht.
Ihre erste Anwendung fanden diese Grundsätze der Heiligen Schrift auf den Zutritt und das Bleiben in dem damaligen Heiligtum des israelitischen Gottesdienstes, in der Stiftshütte, dem Zelt der Zusammenkunft, und in dem Tempel auf dem heiligen Berg in Jerusalem, dem Berg Zion. Gott kann nur unter Heiligen wohnen und nur mit Heiligen Gemeinschaft haben (1. Kor 6,11; 2. Kor 6,17–7,1; Heb 12,14; 1. Pet 1,15f). Der Stellung nach ist jeder, der an Christus glaubt, heilig und damit passend für die Gegenwart Gottes. Aber in seinem praktischen Wandel hat er die Aufgabe und Verantwortung, dieser Heiligkeit zu entsprechen. Beide Seiten sehen wir in den vier zitierten Stellen. Heiligkeit zeigt sich sowohl in dem, was man tut, als auch in dem, was man meidet. Heiligkeit gibt sich nicht in Gefühlen und Stimmungen kund, sondern als eine geistliche Wesensart, welche die ganze Person auszeichnet. Aus der rechten Gesinnung des Herzens folgt die korrekte äußere Haltung. Das wird in Vers 2 mit dem Begriff „Lauterkeit“ ausgedrückt, der als Adjektiv eigentlich „ganz, vollständig“ bedeutet, aber auch die Bedeutung „untadelig, redlich, aufrichtig“ mit einschließt. Das Innere muss rein sein, damit das Äußere rein bleibt. Es gilt, in der Wahrheit zu wandeln, Wahrheit zu reden und wahrhaftig zu bleiben (Verse 2 und 3; Ps 26,3; Eph 4,15.25), das Gute zu tun und den Nächsten zu lieben (3. Mo 19,15–18). Anders zu reden, als wir denken, ist unaufrichtig; es führt rasch zur Täuschung anderer und somit zur Lüge. Das Verhalten im praktischen Leben ist ein Prüfstein dafür, ob eine dem Maßstab der Heiligen Schrift entsprechende Gesinnung vorliegt (Mt 7,16–18). Was dem Wesen Gottes als Licht und Liebe fremd ist, ist dem Gottesfürchtigen genauso fremd; es darf ihm niemals lieb und vertraut sein (Röm 16,19b). Die Fehler anderer sollten wir nie ohne Notwendigkeit herausstellen und nicht weitertragen. Wir sollen niemand schädigen (Röm 13,10), herabsetzen oder verächtlich machen (Vers 3). Niemals soll uns Böswilligkeit leiten. Zu dem allen bedarf es nicht allein des eigenen Strebens, sondern auch der Gnade Gottes, die durch Demut erlangt wird.
Wenn Gott nach dem, was die Heilige Schrift sagt, mit einer Person nicht einverstanden sein kann, dann sollen wir es auch nicht sein (Vers 4). Wir dürfen einem unlauteren Charakter weder stillschweigend noch offen unsere Zustimmung bekunden, denn das hieße, dem Bösen freien Lauf zu gewähren (Eph 5,11; Off 2,2). Mit falscher Liebe können Sünden zugedeckt werden, weil es angenehmer oder vorteilhaft erscheint. Dabei wird Gott außer Acht gelassen und Seiner Sache geschadet. Wir müssen dem Herrn treu sein, nicht aber einem an falscher Stelle vorgeschobenen guten Grundsatz. Solche Unredlichkeit trägt den Anschein liebevollen, friedlichen Verhaltens, aber in Wirklichkeit leistet man dem Unrecht Vorschub. Doch Gott wägt die Herzen. Er rückt das Innerste des Menschen ins Licht. Er beurteilt, ob unser Geben und Nehmen (Vers 5) auf wahrhaft guter Absicht beruht, oder ob es in Wirklichkeit den eigenen Vorteil zum Zweck hat (2. Mo 22,24). Ein freundliches Aushelfen kann dann in Wirklichkeit ein Gewinnstreben sein. Hat man einem Notleidenden Hilfe zugesagt, dann gilt es, dies durchzustehen, selbst wenn es im weiteren Verlauf große Anstrengungen kostet. Wird man dann plötzlich anderen Sinnes und zieht sich zurück, macht man sich des Wortbruchs schuldig (Vers 4b). So verwandelt die Geldliebe ein anfänglich gutes Vorhaben unversehens ins Gegenteil (3. Mo 25,35ff; 4. Mo 30,3;Jes 33,15f).,Nur ein Unweiser könnte das, was in diesem Psalm gesagt wird, den als allgemeine Norm geltenden sittlichen Tugenden der Menschen oder dem freien Willen zuschreiben, obwohl es doch einzig und allein ein Werk der Gnade Gottes ist, die das wahrhaft Gute in uns wirkt‘ (nach M. Luther). „Denn durch die Gnade seid ihr errettet,... nicht aus Werken, damit niemand sich rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir in ihnen wandeln sollen“ (Eph 2,8–10).
Der letzte Satz des Psalms verheißt dem, der im Sinne der Worte Gottes handelt, dass er in Ewigkeit nicht wanken wird (Vers 5b). Er gehört zu denen, die man nach Vers 4 ehren kann und soll, weil sie den HERRN fürchten. Mit ihnen wird der Gottesfürchtige in geistlicher Übereinstimmung leben. In der Zukunft aber wird er die ewige Gemeinschaft der Heiligen genießen, die für immer dazu bestimmt sind, zur Ehre Gottes auf Seinem heiligen Berg zu wohnen (Vers 1). Das gilt für die gläubigen Israeliten; für uns dürfen wir in dem „heiligen Berg“ ein Symbol für den Himmel sehen, aber auch für die Gemeinschaft mit Gott jetzt schon auf der Erde. Wir werden dem HERRN in Ewigkeit für Seine Liebe danken. Die erlösten Geheiligten stellen die lebendige Antwort dar auf die anfangs gestellte Frage nach dem Wohnrecht im Zelt des HERRN. Ihr ewiges Leben in Seiner Nähe zeigt an, dass sie in ihrem jetzigen Leben Seine heiligen Ansprüche anerkannt und gerne befolgt haben (Vers 2–5).