Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 11
Die Stütze des Gläubigen ist Gott, der alle Dinge lenkt, der die Entwicklungen vorhersieht und in Gerechtigkeit richtet. David zeichnete sich aus durch einen starken, festen Glauben an Ihn. Beim Aufkommen einer Gefahr zögerte er in der Regel nicht, Gott als seine Zufluchtsstätte aufzusuchen und sich von Ihm leiten zu lassen (Ps 7,2). An dem Platz, den Gott ihm gab, blieb er dann in sicherer Obhut, bis die Gefahr vorüber war. Das nahm ihm die Angst vor dem Unheil und machte ihn glücklich. Auch wenn nach der Meinung seiner Umgebung andere Auswege vernünftiger erscheinen mochten, ließ er sich von diesem sicheren Ort in der Nähe Gottes nicht abbringen (Vers 1b; Jes 28,16). Gott hatte ihm den Aufenthaltsort zugewiesen und Gott Selbst war sein Schutzschild. Andere angeblich bessere Möglichkeiten gab es für ihn nicht. Auf die heutige Zeit angewandt, heißt dies, dass der Gottesfürchtige eine schwierige Aufgabe oder eine belastende Stellung, an die ihn die Pflicht bindet, nicht ohne Gottes Willen und Wegweisung aufgeben soll. Es geht nicht darum, sich selbst Erleichterung zu verschaffen, sondern auszuhalten in der Stellung und der Pflicht, die der Herr uns zugewiesen hat. Dort wird Er uns beistehen. Wer an den Herrn glaubt, läuft nicht ängstlich davon (Röm 9,33). Das Verharren im Glauben ist das Gegenteil von eigenmächtiger Selbstbehauptung, worin das eigene Ich sich selbst gefallen will. Wenn wir „in mancherlei Versuchungen fallen“, soll unser Ausharren ein vollkommenes Werk haben. Darin muss unser Glaube sich bewähren (Jak 1,2–4). Nehemia antwortete auf den Rat, sich der Ermordung durch die Flucht zu entziehen: „Ein Mann wie ich sollte fliehen?“ (Neh 6,11; vgl. Spr 28,1). Doch in Wirklichkeit wollte ihn ein hinterhältiger Mann seiner Umgebung auf intrigante Weise in Verruf bringen. In ähnlich standhafter Haltung und ebenso unbeirrt trotz der Argumente wohlmeinender Freunde, floh David nicht „wie ein Vogel zu eurem Berg“ (Vers 1). „Gewinnt eure Seelen durch euer Ausharren!“ sagt der Herr Jesus (Lk 21,19). Und im Ausharren bewährt sich der starke, feste Glaube gegenüber dem Kleinglauben. Indessen ist eine Flucht nicht in jedem Fall abzulehnen. Aus gutem Grund riet David in 2. Samuel 15,14 selbst dazu, vor Absalom zu fliehen. So hat der Gläubige im Einzelfall sein eigenes Herz zu erforschen, vor allem aber muss er sich vom Herrn führen lassen. Der Prophet Elia erhielt in bedrohlicher Lage Anweisung, seinen Wohnort an einen Ort zu verlegen, wo der HERR bereits alle notwendigen Vorkehrungen für ihn getroffen hatte (1. Kön 17,8–10). Ein anderes Mal floh Elia vor der wütenden Morddrohung der Königin Isebel (1. Kön 19,1–4). Dazu hatte er keinen Auftrag von Gott.
Die Macht des Falschen und des Bösen tritt auch in unserer Zeit dem Gläubigen entgegen, um ihn einzuschüchtern und vom geraden Weg abzulenken. Davor warnte der Herr den Petrus mit den Worten: „Simon, Simon! Siehe, der Satan hat begehrt, euch zu sichten wie den Weizen“ (Lk 22,31). Simon Petrus stand genauso wie David unter dem besonderen „Schutz des Höchsten“, der den bösen Plan Satans, den Bogen, die Sehne und den Pfeil in der Hand der Feinde längst gesehen hatte (Vers 2) und dem Glaubenden zuruft: „Du wirst dich nicht fürchten vor dem Schrecken der Nacht, vor dem Pfeil, der am Tag fliegt, vor der Pest, die im Finstern umgeht, vor der Seuche, die am Mittag verwüstet“ (Ps 91,5.6). Wie auch manche anderen Psalmen führt der vorliegende Psalm die Gesinnung und Handlungsweise ganz unterschiedlicher Leute vor Augen, um zu zeigen, was in den Herzen der Menschen jederzeit und überall in der Welt aufkommen kann.
Doch was ist geboten, „wenn die Grundpfeiler umgerissen werden?“ (Vers 3). Was kann der Gerechte dann noch ausrichten, wenn er mitten in eine solch aussichtslose Lage allgemeiner Rechtlosigkeit und Willkür (Hos 4,1–4) hineingestellt ist? Er wird empfinden, dass der Herr ihn prüft (Vers 5), aber auch, dass Seine Augen ihn begleiten (Vers 7). Er darf sicher sein, dass der Herr die Anhäufung von Falschheit, Ungerechtigkeit und Verderbtheit sieht und verurteilt (Vers 4) und auch Sorge tragen wird, dass die Vergeltung für das Böse letztlich nicht ihn, sondern die Schuldigen trifft (Vers 6). Um zermürbenden Umständen zu entkommen, zieht sich der eine auf sich selbst zurück, ein anderer Gutgesinnter flieht in eine ihm frommer und friedvoller erscheinende Umgebung. Das allein Richtige jedoch ist die Flucht zum Herrn. Für den Psalmdichter gab es nur diese eine Richtung, in die man fliehen kann: zu dem Herrn, seinem Gott, denn Er war der Ausgangspunkt und das Ziel seiner Gedanken und Taten. Gott möchte nicht, dass die Treuen mutlos werden, wenn die Umstände hoffnungslos schlecht geworden sind. Das einzige, was den Gottesfürchtigen stützen kann, ist die unwandelbare Treue seines Herrn, der Gerechtigkeit liebt und auf den Aufrichtigen achthat (Vers 7). Er wird ihn aus allem Übel dieser Zeit und Welt retten. Der Gerechte wird nicht in dem ihn umgebenden Meer von Gleichgültigkeit und Verderbtheit versinken, denn sein Gott erhält ihn aufrecht und verheißt ihm ewiges Heil. Er ist der gerechte Gott, der die Gerechtigkeit des „Gerechten“ anerkennt und belohnen wird. Der HERR würdigt die Liebe zu gerechten Taten und die Aufrichtigkeit des Gerechten (Vers 7).
Der HERR beobachtet die Ereignisse und ihre Entwicklung aus Seinem heiligen Palast (Verse 4 und 7; Ps 14,2; Jes 18,4–6). Aber gegenwärtig greift Er noch nicht mit allgemeinem Gericht ein, obwohl dies dem leidenden Gerechten der einzige Ausweg zu sein scheint. Dafür hat der heilige Gott Seine Gründe, und es wäre Anmaßung, Seine Entscheidung nicht zu respektieren (Mt 13,25–30). Noch weniger dürfen wir eigenmächtig Sein Handeln vorwegnehmen, selbst nicht in unseren Gedanken und Wünschen. Dies gilt auch in dem Fall, dass die Grundlagen des Staates und der Gesellschaft sich verdorben haben, die Pflege des Rechts nicht mehr möglich erscheint und niemand mehr für das Rechtmäßige einzutreten wagt. Indes wird der allmächtige Gott den Mächten des Bösen nicht grenzenlos freie Hand lassen. Nach Seinem Willen und auf Seinen Befehl hin erfolgt Widerstand dagegen, und Er lässt Gerichtsschläge kommen, die die Gewaltherrscher und Verführer, die Gottlosen und Frevler mit einem Mal wegfegen werden. Zu dem von Ihm festgesetzten Zeitpunkt wird Er ihnen den „Becher“ Seines Zorns reichen (Vers 6; Ps 75,9; Hes 38,22.23; Lk 17,28–33; Off 8,7). Der aufrichtige Gerechte darf sicher sein, dass er diesem allem entgehen und die Zukunft in der Gemeinschaft mit seinem Gott verbringen wird (Vers 7b; Ps 23,6). Hiob sagte trotz seiner furchtbaren Lage: „Und ich, ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er auf der Erde stehen, und ist nach meiner Haut dies da zerstört, so werde ich aus meinem Fleisch Gott anschauen, den ich selbst mir anschauen und den meine Augen sehen werden“. (Hiob 19,25–27). Noch ist der Gerichtstag über alles Böse in dieser Welt nicht da, aber er kommt mit Gewissheit. Nicht umsonst hat der Gottesfürchtige seinem Herrn und Gott vertraut. Sein Ausharren im Glauben wird belohnt werden. Und jeder Mensch wird ernten, was er gesät hat.