Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 10
In der Hauptsache befasst sich der Psalm mit der inneren Einstellung einer Person, deren ganze Verhaltensweise Feindschaft gegen Gott und gegen die Mitmenschen ist (Röm 3,13–18). Die Erfahrung lehrt, dass die Abkehr von Gott und Seinen Geboten oftmals eine üble Handlungsweise nach sich zieht, besonders gegenüber solchen, deren gottesfürchtige Haltung im Widerspruch zu den Anschauungen des Gottesleugners steht. Aber wäre dann nicht zu erwarten, dass der Herr Sich der von den Frevlern bedrängten Gottesfürchtigen annimmt? (Vers 1). Die große Not mag den Gläubigen veranlassen, mit der Frage vor Gott hinzutreten: „Warum, HERR“? (Hiob 7,20f und 10,2f). Warum zögert Gott und wie lange wird dies noch währen? In solcher Lage gilt es, auszuharren und an dem Schriftwort festzuhalten: „Wir wandeln durch Glauben, nicht durch Schauen“ (2. Kor 5,7). Schon Mose „hielt standhaft aus, als sähe er den Unsichtbaren“ (Heb 11,27). Dadurch bewährte sich sein Glaube zur Ehre Gottes (1. Pet 1,6f). Doch während des geduldigen Wartens auf Hilfe kommen auf den Rechtschaffenen oft noch zusätzliche Belastungen zu. Dann wird es ihm schwer, bei dem festen Vertrauen auf seinen Gott zu bleiben, auch wenn ihm bekannt ist, dass die Gottlosen schließlich „gefangen werden in den Anschlägen, die sie ersonnen haben“ (Vers 2) und ihre bösen Taten mit Sicherheit von dem Herrn geahndet werden (Verse 14 bis 18).
In seiner Not mag der Gottesfürchtige zuweilen den Eindruck haben, dass Gott fern von ihm steht und sich verbirgt (Vers 1), obgleich die Heilige Schrift und auch sein Glaube ihm sagen, dass Gott nahe ist, denn „er zieht seine Augen nicht ab vom Gerechten“ (Hiob 36,7). Gott verbirgt Sein Ohr nicht vor dem Seufzen der Bedrängten (Klgl 3,55–57); Er begleitet Seine Kinder durch alle Tiefen hindurch, und niemals lässt Er sie im Stich. Doch ihr Glaube muss sich durch Ausharren bewähren, besonders dann, wenn die momentane Lage niederdrückend ist und der Herr fernzustehen scheint (Vers 1). Nachdem die Not durchstanden ist, erkennt der Gläubige, dass sie nützlich oder sogar nötig war. Die Not während der Züchtigung hat ihm inneren Gewinn gebracht, er hat hinzugelernt. Der starke Druck, der ihn beschwerte, war ihm nicht zum Schaden, sondern zum geistlichen Nutzen. Bei alledem ist immer eine selbstkritische Prüfung am Platz, ob vielleicht ein oberflächlich gewordener Gottesdienst, eine moralische Verunreinigung oder ungerechtes Verhalten die Ursache der Zuchthandlung Gottes sein können.
In der Aufzählung der Schlechtigkeiten und Bosheiten des Gottlosen (Verse 2 bis 11) steht der Hochmut an erster Stelle, der auch den Anfang aller Sünde, den Fall Satans, kennzeichnete (Jes 14,14). Der Gottlose erscheint hier als eine Person, die den Charakter des Bösen im Vollmaß zeigt. Ein Mensch, der diese Charakterzüge trägt, zieht Verderben auf sich, wenn nicht bereits hier auf der Erde, dann mit Bestimmtheit im ewigen Gericht. Die Entwicklung des Bösen beginnt oft mit harmlosen Dingen. Schon das Gefühl, sich in guten Lebensumständen in Sicherheit zu befinden, öffnet das Herz eines Menschen für die Gottlosigkeit. Er hat Gott nicht nötig, weil er auf sich selbst und die günstigen Umstände vertraut. In der Folge findet ein Heer von Begierden Eingang in die Seele und verursacht Sünden, zuletzt die völlige Abkehr von Gott. Wie man weiß, folgt dem Hochmut der Fall, besonders aber dann, wenn er sich gegen Gott erhebt und Ihn missachtet. Nach Vers 3 kennt der Gottlose nur seine eigenen niedrigen und verdorbenen Interessen, er rühmt sich seiner Bosheit und hält sie für einen Vorteil. Er wagt es, wahrhaft Gutes ins Gegenteil zu verkehren. Auf diese Weise erzürnt und lästert er Gott. „Er verachtet den HERRN“ (Vers 3; Ps 94,3f;). Da eine sofortige Ahndung seiner Vergehungen und der offenkundigen Rebellion gegen Gott oft ausbleibt, hält er seine anmaßende Behauptung für bewiesen: „Es ist kein Gott!“ (Vers 4). Gott ist für ihn keine Autorität. Niemand scheint höher zu stehen als der Gottlose selbst, er denkt nicht daran, sich einem anderen oder gar höheren Willen zu beugen. Nichts ist ihm unerträglicher als der Gedanke an Gott. Er will nicht von Ihm abhängig sein, obwohl er als Geschöpf es dennoch ist. An Gott erinnert zu werden, erweckt bei ihm Unsicherheit, Abneigung und Widerwillen. Unbeugsam hält er an seiner Vorstellung fest: Es ist kein Gott! Sein Gewissen und seine Gedanken dürfen nur der Grundrichtung folgen, die er sich selbst zurechtgelegt hat.
Die Verachtung Gottes macht den Gottlosen zu einem Toren, einem gemeinen Menschen (Ps 14,1). Das wiederholte gute Gelingen seiner Unternehmungen wertet er als Bestätigung der Richtigkeit seiner Einstellung (Vers 5; Ps 49,12 und 73,3ff). Der Erfolg gibt ihm offenbar Recht, das meint er selbst und so denkt auch ein oberflächlich urteilender Betrachter. Der Gottlose schafft es stets auf irgendeine Weise, die Ansprüche Gottes und die Forderungen des Rechts von sich zu weisen, als ob sie „weit von ihm entfernt“ lägen (Vers 5; 2. Mo 5,2). In seinen Einbildungen braucht er etwaige Gegner nur anzublasen, um sie zu vernichten. Solchen Gedanken lässt er dann die Tat folgen (Vers 5b). Nicht zu überbietende Arroganz kennzeichnet ihn. Ohne sich Rechenschaft von seinem vermessenen Reden und Handeln zu geben, wiegt sich der Gottlose in Sicherheit. Er hält sich für jemand, der weder Gott und Menschen, noch Unglück und Tod zu fürchten hat (Vers 6). Die Gottlosigkeit hat dann aus einem Menschen ein gewissenloses Ungeheuer gemacht.
Nach den Schilderungen der Verse 7 bis 10 wird dieser Gottlose anderen zu einer tödlichen Gefahr, besonders den Arglosen, den Geringen und Hilflosen. Seine Gott und Menschen verachtende Bosheit verflucht, betrügt und mordet, lauert den Menschen auf, verfolgt sie, stellt ihnen Fallen und gewinnt durch zur Verfügung stehende Machtmittel Gewalt über sie. „Der Böse bringt aus dem bösen (Herzen) das Böse hervor; denn aus der Fülle des Herzens redet der Mund“ (Lk 6,45; s.a. Ps 52,4; Römer 3,13–18). Was sich zunächst noch „unter der Zunge“ verbirgt (Vers 7), ist im Herzen ausgedacht worden und wartet auf die Gelegenheit, offen hervorzutreten. Für die Angegriffenen bedeuten die verlogenen, verletzenden Worte böse Verleumdung, Heimtücke und schweres Leid. Die Frevler bringen ihre verderbten Anschauungen unter die Menschen und werden dadurch anderen zum Verhängnis. Unter der Anleitung von Gottlosen wird das Böse auf der Erde solange weiter um sich greifen, bis am Ende kein Rechtschaffener mehr unter den Menschen zu finden ist (Mich 7,2). In den Versen 8 bis 10 ähnelt der verderbte Mensch einem wilden Tier, das rücksichtslos auf Beute, Raub und Fang ausgeht. Ein solcher hat offensichtlich Freude daran, andere zu verfolgen, zu jagen und zu Tode zu bringen. So tief kann der Mensch fallen, der sich von Gott und allem, was recht ist, losgesagt hat. Seinen Verstand und seine Fähigkeiten missbraucht er, um Böses zu tun, und meint, dass seine Verbrechen nicht aufgedeckt werden und dass Gott sie nicht sieht (Vers 11; Ps 73,11). Wenn solche Zustände sich unter den Menschen allgemein durchgesetzt haben werden, dann ist diese Welt so hoffnungslos von Verderbtem beherrscht, dass Gott das in der Heiligen Schrift angekündigte Gericht über die ganze Erde und die Menschen hereinbrechen lässt und sie zur Verantwortung zieht. Doch „weil das Urteil über böse Taten nicht schnell vollzogen wird, darum ist das Herz der Menschenkinder in ihnen voll, Böses zu tun“ (Pred 8,11). Aber „der Herr zögert die Verheißung nicht hinaus, wie es einige für ein Hinauszögern halten, sondern er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen.“ (2. Pet 3,9).
Die Gottlosigkeit breitete sich schon zur Zeit des Psalmdichters immer weiter aus, darum wandte er sich Hilfe suchend an Gott: „Steh auf, HERR! Gott, erhebe deine Hand! Vergiss nicht die Elenden!“ (Vers 12; Ps 9,13). Dem Beter standen die damals schwer geprüften Elenden und Gebeugten vor Augen, die sich dem mächtigen „Arm des Gottlosen“ (Vers 15) ausgeliefert sahen und auf göttliche Hilfe angewiesen waren. Niemand außer Gott Selbst konnte dem überhandnehmenden Übel wehren, Er ist sowohl der barmherzige als auch der gerechte Gott (2. Mo 34,6.7), zugleich ein „großer, starker und furchtbarer Gott“ (Neh 9,32). So kannten Ihn die Ihm Vertrauenden, die von Ihm Hilfe erwarteten. Als sie Ihn baten, gegen den gewalttätigen Gottlosen einzuschreiten (Verse 14 und 15), mochten sie sich gefragt haben: Ist der Gottesleugner nicht Gottes Feind und Verächter (Vers 13), der die Strafe längst verdient gehabt hätte? Doch Gott hatte den Höchststand der schlimmen Entwicklung längst verzeichnet (Ps 35,22; Spr 15,3). Er hatte Kenntnis genommen von dem ungerechten Leiden Seiner Getreuen (Vers 14). Auf Gottes aufmerksame Begleitung darf sich der Glaube der Gottesfürchtigen auf allen Wegen verlassen.
Die Leidenden beklagen sich hier nicht, sie verzweifeln auch nicht. Sie lassen in ihren Herzen keine Unzufriedenheit über Gottes Regierungsmaßnahmen betreffs dieser Welt aufkommen. Kein schmähendes Wort über ihre Peiniger ist zu hören, ebenso wenig reden sie von eigener moralischer Überlegenheit. Sie denken auch nicht an Vergeltung des ihnen geschehenen Unrechts. In der Tat sind sie geplagte Unglückliche, die sich in Demut beugen. Sie warten geduldig auf Gottes Rettung und stellen ihre Sache Ihm anheim: „Dir überlässt es der Unglückliche“ (Vers 14). Was sie unterbunden oder zumindest eingeschränkt sehen möchten, ist der mächtig sich ausbreitende Einfluss der Gottlosigkeit, die weitere Zunahme des Unrechts und die Angriffe gegen das Gute und die Herrschaft Gottes (Vers 15; Ps 37,9f.35–40). Sie sind sicher, dass Er den Sieg über jede sich gegen Ihn erhebende Macht erringen und dem „Wunsch der Sanftmütigen“ Gehör schenken wird (Vers 17). Sein Thron ist bereits zum Gericht aufgestellt (Ps 9,8). Der Arme ist nicht vergessen und die Hoffnung der Elenden ist nicht verloren (Ps 9,19). „Und die Sanftmütigen werden ihre Freude in dem HERRN mehren, und die Armen unter den Menschen werden frohlocken in dem Heiligen Israels. Denn der Gewalttätige hat ein Ende, und der Spötter verschwindet; und ausgerottet werden alle, die auf Unheil bedacht sind“ (Jes 29,19f). Dieses Schriftwort ist ein Ausblick auf die noch zukünftige Herrschaft Christi, des Sohnes Gottes, der auf dieser Erde als Erstes ein reinigendes Gericht durchführen wird. Schon die Gottesfürchtigen des Alten Bundes erhofften im Glauben dieses kommende Reich Gottes, in dem kein Unrecht mehr geduldet wird und der Mensch keinen Schrecken mehr verbreiten kann. So erhebt sich der Glaube über die gegenwärtigen üblen Umstände.