Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Psalm 6
Durch schweres Leiden geprüft, sucht hier der Glaubende in seiner Not betend die Gegenwart Gottes auf. Er sieht den Tod vor sich, er seufzt und weint. Er grämt sich, ist bestürzt und fühlt sich körperlich geschwächt und gealtert. Dennoch hält er unbeirrt fest an seinem Glauben und schreibt Gott nichts Ungereimtes zu (Hiob 1,22). Auflehnung wegen der widrigen Umstände oder gar ein Aufbegehren gegen Gott liegen ihm fern. Er beugt sich demütig unter die Fügungen Gottes, denn auch bei gutem Gewissen ist nicht auszuschließen, dass er den Unwillen Gottes durch sündiges Verhalten wachgerufen haben könnte (Vers 2). Er nimmt daher die leidvollen Umstände auf sich und vertraut darauf, dass Gott ihn nicht ohne Rettung dahinwelken lassen wird, und erbittet Seinen gnädigen Beistand (Vers 3). Die Grundlage für sein Vertrauen ist das zwischen ihm und seinem Gott bestehende vertrauensvolle Verhältnis. Auch hat der HERR gesagt: „Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist und der da zittert vor meinem Wort“ (Jes 66,2 und s.a. 57,15). Wenn Er züchtigt, so geschieht es „nach Gebühr“, „mit Maßen“ und „zum Nutzen“ (Jer 10,24; Jes 27,8; Heb 12,10). Es mag schwer werden, Seine Liebe in solchen Fügungen wahrzunehmen. Doch vor allem bleibt wichtig, dass das Verhältnis zu Gott durch solche Überlegungen keinen Schaden leidet. Selbstkritisch muss die Frage gestellt werden: Ist die Züchtigung die Folge einer Abweichung von Gott bzw. einer Sünde? Sollte dies der Fall sein, dann gilt es, das falsche Verhalten zu bekennen und sich zu demütigen. Gott gebraucht ja die Züchtigungen, weil Er in Seiner Liebe wahre Gemeinschaft und das völlige Vertrauen wiederhergestellt sehen möchte. Wenn der Leidgeprüfte keinen Anlass für die Züchtigung finden kann und sich keiner Schuld bewusst ist, wird er im Vertrauen auf Gottes Liebe freimütig um Hilfe bitten (1. Joh 3,20–22), und gute Zuversicht wird ihn stützen, so dass er die Prüfung ertragen kann, denn Seine Liebe verlässt uns nie. David vertraute der Gnade Gottes, deshalb verzweifelte er nicht. Seine Erfahrungen sagten ihm, dass die Erbarmungen Gottes nicht zu Ende sein können; gleichzeitig aber wusste er auch Gottes Heiligkeit richtig einzuschätzen. Seine Erlebnisse dienten dazu, dass er im Erkennen Gottes Fortschritte machte, und dies war zu größtem Nutzen. Eines bleibt für uns alle stets sicher: „Ich bin der HERR, der dich heilt“ (2. Mo 15,26b).
Ist unsere Seele bestürzt, dann leidet auch der Körper mit und wir brauchen Hilfe. Es liegt im Ermessen des Allmächtigen, zu heilen und zu retten (Vers 3); doch Er wartet auf unseren Hilferuf. Unser Glaube soll angefacht werden, unser Ausharren soll erprobt werden. Bei alledem möchte Er durch unser Vertrauen geehrt werden. Er kennt das Maß unseres Durchhaltevermögens, und Er weiß, dass anhaltende körperliche Not zunehmend zur Not der Seele werden kann. Angstvoll fragt sich der Geprüfte: Wann hat die Versuchung ein Ende und wie lange kann ich sie noch ertragen? (Vers 4; 1. Kor 10,13). Auch der Herr Jesus fragte: „Bis wann soll ich bei euch sein? Bis wann soll ich euch ertragen?“ (Mt 17,17). Als Mensch empfand Er die drückende Last schwerer Jahre und so mancher übler Tage (Mt 6,34b). Mehr noch als David besaß Er ein empfindsames Herz. Er kannte die Anzahl der Tage, die bis hin zum Kreuz noch vor Ihm lagen. „Ich habe aber eine Taufe, womit ich getauft werden muss, und wie bin ich beengt, bis sie vollbracht ist“ (Lk 12,50). Unter diesem Druck brachte Er „in den Tagen seines Fleisches sowohl Bitten als Flehen... mit starkem Schreien und Tränen“ vor Gott und wurde auf herrliche Weise erhört (Heb 5,7).
Der Psalmdichter äußert in Vers 5 den Wunsch, Gott möge ihn um Seiner Güte willen befreien, ähnlich wie Er „die Gefangenschaft Hiobs wendete“ (Hiob 42,10; vgl. Jer 17,14). Auch die Psalm 80,15 und 90,15 erbitten eine solche Kehrtwendung. Ebenso sicher wie Mose und Asaph, die Dichter der angeführten Psalmen, wusste auch David, dass Gott seine Geschicke lenkte und dass Er gütig und mächtig ist zu helfen. „Gott ist uns ein Gott der Rettungen, und bei dem HERRN, dem Herrn, stehen die Ausgänge vom Tod“ (Ps 68,21). Wie die Dinge lagen, schienen die Tage Davids zu dem Zeitpunkt seines Gebets gezählt zu sein (Verse 5 und 6; vgl. Hiob 10,1–7 und 16,22). Da blieb ihm nur die Zuflucht zu Gottes Gnade. Denn Er ist es, der die Zahl unserer Lebenstage festsetzt (Ps 31,16 und Ps 90,3.7). Kein Mensch kann gegenüber dem Gebieter über Tod und Leben, dem Richter über die Sünde, einen Anspruch auf Leben geltend machen, denn alle sind dem Tod verfallen. Andererseits kann man nach dem Tod Versäumtes nicht mehr nachholen (Vers 6; Ps 30,10 und Ps 115,17.18; Jes 38,18). Doch der gnädige, allmächtige Gott vermag den Glaubenden aufzuerwecken und ihn zu einem ewigen Anbeter zu machen, und dies hat Er für die Ihm Vertrauenden vorgesehen (Ps 86,12.13; 103,4; 116,9). Das schließt die Errettung des Gottesfürchtigen aus dem Tod mit ein. Die hier angeführten Stellen aus verschiedenen Psalmen klingen wie ein Ruf nach Auferstehung, aber diese wird erst im Neuen Testament ausdrücklich als feste Hoffnung aller Gläubigen offenbart. Davids Glaube blickte schon damals nicht in den Scheol hinab, in den Abgrund und die Finsternis, sondern schaute nach oben ins Licht. Er sah es als größte und schönste Aufgabe und als den eigentlichen Inhalt seines Daseins an, Gott zu ehren und Ihn zu loben. Doch der Kummer im Herzen warf ihn zurück in die harte Gegenwart und darunter seufzte und weinte er (Vers 7). Durch die äußerst harten Lebensumstände war er körperlich ermattet und seelisch zerschlagen; dies war an seinen Augen abzulesen (Vers 8; Ps 31,10; Hiob 17,7). Zu der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern kam das innere Ringen, das ihm die Nachtruhe raubte.
Der Dichter des Psalms schien in aussichtsloser Lage zu sein. Die verfügbaren Mittel und Kräfte reichten nicht aus, um sich von den Frevlern zu befreien, deren Handwerk die Sünde war. Ebenso wenig konnte er sich von seinen quälenden Gedanken freimachen. In dieser Not erlebte er, dass der treue Gott sich immer des Gottesfürchtigen annimmt, der Ihn um Hilfe bittet. Einst sagte Gott dem sterbenskranken Hiskia: „Ich habe dein Gebet gehört, ich habe deine Tränen gesehen“ (Jes 38,5). So erfuhr es nun auch David (Verse 9 und 10). Sein Gott erwies sich als sein Bergungsort und sein Schutzschild, denn er hatte auf Ihn vertraut. Er kannte seinen Beschützer und Befreier nicht mehr nur aus Erzählungen, denn nun hatte er selbst Seine Gegenwart und Sein Eingreifen im praktischen Fall erfahren. Die Übeltäter, seine Feinde, würden beschämt das Weite suchen müssen, da der heilige Gott auf Seiten Davids stand und den Beweis dafür nicht schuldig blieb (Ps 119,114–119); das war Davids feste Zuversicht. Die Gegner, deren Ungerechtigkeit Gott missfiel, hatten an Davids Unglück Gefallen gehabt. Gott aber hatte an Davids Gottesfurcht Gefallen und erhörte ihn um seiner Frömmigkeit willen (Ps 40,12–17). Gott urteilt immer gerecht, Er beurteilt jeden nach seinen Werken (Röm 2,6–11). Das Gericht Gottes verfolgt unter anderem das Ziel, den Unterschied klar herauszustellen zwischen dem, der Ihm glaubt und auf Seine Güte vertraut, und dem, der Ihn und Seine Gnade ablehnt.