Die Psalmen
Eine Auslegung für die Praxis
Einführung
Die Bücher der Psalmen beginnen mit den Worten „Glückselig der MANN“, und sie schließen ab mit der Aufforderung: „Lobt den HERRN“! Seit jeher nehmen die Psalmen im Kanon des Wortes Gottes einen besonders geschätzten Platz ein, sowohl für die Gottesfürchtigen des Alten Testaments als auch für die Gläubigen im Christentum. Dadurch, dass viele Schriftstellen aus den Psalmen im Neuen Testament angeführt werden, erfahren die Psalmen ihre eigene Bestätigung als Gottes Wort. Ihre fortbestehende Aussagekraft wird durch die Zitate im Neuen Testament hervorgehoben. Die Berechtigung der Reihenfolge der Psalmen wird in der Apostelgeschichte 13,33, durch die Zahlenangabe „in dem zweiten Psalm“ verdeutlicht. Namentlich genannt werden die Psalmen außerdem in Lukas 20,42 und 24,44. Vielfach haben bestimmte Erlebnisse zum Dichten eines Psalms Anlass gegeben. Zwei Beispiele finden sich in 2. Samuel 22 und in 1. Chronika 16.
Die Psalmen geben die Gedanken und Empfindungen glaubender Seelen wieder, die in den vielfältigen Umständen des Lebens im Einklang mit Gott leben möchten, auch in willigem Gehorsam Ihm gegenüber und in der Einsicht, auf Seine Gnade angewiesen zu sein. Die Psalmen enthalten viele Anmerkungen zu der Frage, wie man in der Gemeinschaft mit Gott jede Notlage und jede Anfechtung im persönlichen Glauben durchstehen kann. Der einzelne Gläubige wird durch Gottes Fügungen und durch selbst Erlebtes die Nähe des Herrn erfahren und Seiner Güte begegnen. Aus diesen Glaubenserfahrungen geht Lob und Dank zur Ehre Gottes hervor, und für den Gottesfürchtigen ergibt sich daraus wahres Glück und Kraft für seine Seele. Dies gilt für die Gottesfürchtigen Israels in vergangenen Zeiten in gleichem Maß wie für die Gläubigen in der jetzigen Zeit des Christentums. Ein Christ denkt und empfindet in vieler Hinsicht bei seinen täglichen Erlebnissen, bei seinem Umgang mit Gott und besonders beim Loben und Danken nicht anders als die Gottesfürchtigen zur Zeit der Psalmdichter.
Die Beziehungen der Psalmen zu den übrigen Teilen der ganzen Heiligen Schrift sind zahlreicher als die der übrigen Schriften des Alten Testaments. Dies zeigt sich in der großen Zahl der Zitate aus den Psalmen im Neuen Testament. Auch untereinander stehen die Psalmen in vielfältiger Verbindung. Verschiedentlich ergänzen sich mehrere aufeinander folgende Psalmen zu Gruppen mit gleichartiger Zielsetzung. Auffällig ist indessen, dass vom Beginn des vierten Buches der Psalmen an kaum noch ein Verfasser genannt wird. Die Ausdrucksweise dieses letzten Teils der Psalmen ist entsprechend weniger persönlich gehalten als die der vorangehenden Psalmbücher. Zudem erwecken die Psalm 90 bis 150 überwiegend den Eindruck, dass in ihnen eine einzelne Person spricht, wenn auch des Öfteren stellvertretend für Mitgläubige aus dem Volk Israel.
Es ist versucht worden, die Psalmen einzeln oder gruppenweise einem bestimmten Zeitpunkt oder Ort des Geschehens zuzuordnen. Auch hat man sie nach ihrem Inhalt oder entsprechend ihrer Stimmung und Ausdrucksweise in bestimmte Gattungen eingliedern wollen, wie zum Beispiel Dankpsalmen, Klagepsalmen, Geschichtspsalmen, Weisheitspsalmen, liturgische und belehrende Psalmen. Die Ergebnisse sind zwar von Interesse, können aber auch leicht eine einengende Wirkung haben.
Im Allgemeinen beinhaltet der erste Vers eines Psalms bereits das Ergebnis der nachfolgend geschilderten Entwicklung des Themas.
Es bleibt zu beachten, dass die Reinigung des Gewissens durch das Werk Christi, auch das Wohnen des Heiligen Geistes in und unter den Gläubigen im Alten Testament nicht offenbart ist, ebenso wenig die Erkenntnis Gottes des Vaters durch den Geist Seines Sohnes und die Heilsgewissheit aufgrund der Bekehrung zum wahren Glauben. Auch spricht das Alte Testament nicht davon, dass ein wirklicher Mensch, der Sohn Gottes Christus Jesus, als Vorläufer und Bürge für die Gläubigen den Platz in der Herrlichkeit des Himmels einnimmt und ihnen dort eine Wohnung bereitet (Joh 14,1–3; Eph 1,18 bis 2,8; Heb 12,2).
Ein größerer Teil der Psalmen trägt kurze Überschriften. Häufig vermitteln diese Überschriften Auskünfte über den Dichter und den Gebrauch des Psalms, wobei die Bedeutung der dabei verwendeten hebräischen Ausdrücke nicht immer bekannt ist.
Die Psalmen enthalten viele Belehrungen über das Beten (vergl. Lk 11,1). Sie zeigen, auf welche Weise man Gott in jeder Gemütslage betend aufsuchen kann. Ein in Lauterkeit und Vertrauen vorgetragenes Gebet verwirklicht durch den Glauben das Nahesein Gottes (Heb 11,6). Der betende Gläubige ist überzeugt, dass der ewige Gott seine schwache Stimme hört, seine Gedanken richtig versteht und gerne zum Helfen bereit ist. Jedes aufrichtige Gebet ehrt den ewigen Gott, weil es Ihn als den Allmächtigen und Allgegenwärtigen anerkennt. Dies wird sich in der Regel auch in der Haltung des Betenden ausdrücken, wobei deutlich wird, dass er, innerlich und äußerlich konzentriert, in Demut zu Gott kommt. Es zeigt sich, dass er nicht unwissend ist in Bezug auf die erhabene Person, mit der er es zu tun hat. Manche Psalmen sind ein tiefgreifendes Bekenntnis des Betenden betreffs seiner Ehrfurcht vor Gott. Ohne sich irgendwie ablenken zu lassen, sprechen die Psalmdichter persönlich und direkt zu Gott, dem Schöpfer und Erhalter der Menschen. Sie rechnen im Glauben damit, dass Er Selbst jedes betend geredete Wort ernst nimmt und erhört. Auf alle Weise suchen die Psalmen deutlich zu machen, dass Gott Anteil am menschlichen Ergehen nimmt und dass Er dem Hilfesuchenden gerne mit Rat und Tat entgegenkommt, um ihn zu stützen und innerlich aufzurichten. Gott möchte Menschen haben, die in vertrauensvoller Harmonie in Übereinstimmung mit Ihm leben, wie es auch der vorbildliche Glaubensweg Jesu, Seines Sohnes, auf Erden zeigt.
In keinem anderen Teil der Heiligen Schrift wird vorausschauend das innere Erleben Jesu so weitgehend offengelegt wie in den Ihn prophetisch betreffenden Psalmen. Dort wird der Herr Jesus als Retter und Messias, als zukünftiger Richter der Erde und als Herrscher im kommenden Reich Gottes angekündigt. Geleitet vom Heiligen Geist sagen hierbei die Psalmdichter verschiedentlich Dinge, die nur durch den auf Erden lebenden Christus erfüllt werden konnten. Überdies enthalten solche Psalmen Ankündigungen von Ereignissen, die jetzt noch in der Zukunft liegen, die nur auf Christus zutreffen und erst durch Seine Wiederkehr auf diese Erde Wirklichkeit werden. Einige dieser Stellen zitierte Er selbst während Seines Erdenlebens. Der Heilige Geist hat Bitten, die Jesus Christus als Mensch auf der Erde an Gott richtete, schon in den Psalmen niederschreiben lassen, ebenso Seine Erfahrungen von Verwerfung und Erniedrigung, von furchtbarem Leiden und Einsamkeit. Auch in so manchem Ausdruck des Vertrauens und der Zuversicht, aber auch im Lobpreis der Psalmen, sind der Geist und die Stimme Jesu zu erkennen. Bei einer Gelegenheit brachte Er die Schriftgelehrten als Kenner des Alten Testaments mit einem Ihn betreffenden Zitat aus Psalm 110 zum Schweigen (Mt 22,41–46). Durch Sein Leiden am Kreuz erfüllte Er die Vorhersagen der damit befassten Psalmen in jeder Einzelheit. Entsprechend der Prophezeiung von Psalm 22,23 sagte Er nach Seiner Auferstehung noch am Grab zu Maria: „Geh hin zu meinen Brüdern“. Diesen „Brüdern“, nämlich Seinen Jüngern, erklärte Er wenig später das, was in den Büchern Moses, in den Propheten und Psalmen über Ihn geschrieben steht (Lk 24,25–32). So bestätigte der Herr Jesus die Verlässlichkeit der Heiligen Schrift sowohl durch Sein Reden als auch durch Sein Verhalten und Wirken, und dies wird in der Zukunft noch eine Vollendung erfahren. Denn Er, der jetzt zur Rechten Gottes verherrlichte Herr, wird wiederkommen, um jede Verheißung des Wortes Gottes wahrzumachen.
In den Psalmen lernt der Leser den ewigen Gott in Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, in Seiner Langmut und Barmherzigkeit kennen und erhält Einblick in Gottes Absichten und Wege mit Seinen Geschöpfen. Wir werden dort über manche Gründe für Sein Eingreifen in die vergangene Menschheitsgeschichte und auch in die zukünftige Entwicklung einzelner Menschen und ganzer Völker belehrt. Wie überall in der Heiligen Schrift offenbart Gott in den Psalmen Seine Herrlichkeit in ihren verschiedenen Wesenszügen. Von den Menschen erwartet Er eine verantwortungsbewusste Haltung vor Ihm, ihrem Schöpfer, Erhalter und Richter. Er verlangt Beugung unter Sein Wort und Gehorsam Seinem Willen gegenüber.
Kennzeichnend für die Psalmen ist die auf vielerlei Weise dargelegte Gottesfurcht. In ihrem persönlichen Glauben lassen die Dichter der Psalmen ein ausgeprägtes Bewusstsein von der Nähe Gottes erkennen. Bei Ihm finden sie Gnade und Wahrheit und erfreuen sich der Zuwendungen Seiner Barmherzigkeit. Bei Ihm haben sie eine sichere Zuflucht. Niemals wird Er ihren Glauben enttäuschen. Das gehört zu den ständigen Erfahrungen im Umgang mit ihrem Gott. Sie kennen Ihn als vergebenden Gott, dem Wahrheit im Innern und das aufrichtige Bekenntnis besonders wertvoll sind. Echte Frömmigkeit beantwortet Er stets mit den Zuwendungen Seiner göttlichen Güte. Er lässt sich herab zu dem, der Ihm in Demut naht, und hört auf sein Gebet. Wer sich Seinem Wort und Willen gemäß verhält und Gottes Sache vertritt, darf Seines Segens sicher sein. Wer Gottes Heiligkeit und Gerechtigkeit hochachtet und dies durch seinen Lebenswandel beweist, wird ständige Gemeinschaft mit Ihm genießen. Jeder, der sich ernsthaft mit Gottes Wort befasst, darüber nachsinnt und es befolgt, wird an der Erkenntnis Gottes und an Weisheit zunehmen. Gottes herrliche Größe wird Ihm vermehrt offenbar werden, und das Anschauen der Wesenszüge Gottes wird ihn zu Dank und Anbetung veranlassen.
Die Psalmen befassen sich eingehend mit der Tatsache, dass die Heiligkeit Gottes den Tod des Sünders als Vergeltung für die Sünde verlangt. Gott übersieht nicht eine einzige Ungerechtigkeit. Als oberster Gerichtsherr und Schöpfer des Rechts ist Er der Einzige, der Sünden vergeben und Schuld tilgen kann und sie auf das aufrichtige Bekenntnis hin nicht zurechnet. Einem Menschen Heil und ewiges Leben zu schenken, ist allein Gottes Sache. Er ist sowohl der Richter als auch der Retter. Weiterführend wird im Neuen Testament offenbart, dass der Sohn des Menschen, der gekreuzigte Christus, das allein gültige Sühnopfer für Sünden ist. Der Herr Jesus ist der Heiland. Was Er zur Durchführung des Erlösungswerkes erleiden musste, ist prophetisch vorausschauend vor allem in den Psalm 22 und 69 beschrieben. Andere Psalmen zeigen prophetisch, dass Er der ewige Sohn Gottes ist und dass Er zugleich der Sohn Davids ist, der Retter und König Seines irdischen Volkes Israel. Als solcher wird Er in der Zukunft ein ewiges, vollkommenes Reich zu Verherrlichung Gottes errichten und über die ganze Welt regieren. Diese prophetischen Aussagen werden im Neuen Testament erweitert, vor allem im Buch der Offenbarung, wobei dort ausdrücklich auf sie Bezug genommen wird. Für sich allein betrachtet und ohne die Erläuterungen des Neuen Testaments würden viele prophetische Aussagen der Psalmen kaum zu verstehen sein (1. Pet 1,10–12 und vergl. Lk 20,41–44). Unentbehrlich sind hierzu auch die prophetischen Bücher des Alten Testaments.
Oftmals kommen in den Psalmen persönliche Empfindungen des Dichters zum Ausdruck. Ohne Scheu schüttet der Dichter sein Herz vor seinem Gott aus und berichtet über seine Befürchtungen, oder er spricht freudig von seinem Ruhen in Gott und von seiner Hoffnung auf Gottes Hilfe. Des Öfteren berichten die Dichter von wunderbaren Antworten auf ihr Gebet, die ihnen Anlass zur Danksagung gegeben und sie getröstet haben, und dadurch werden auch heute noch die Leser der Psalmen ermutigt. Durch diese Ausrichtung gewähren die Psalmen für alle erdenklichen Lebenslagen geistlichen Zuspruch, geben neuen Mut und Unterstützung und bewirken Freude. Daher sind sie für den praktischen Glaubensweg überaus nützlich. Sie verfolgen immer das Ziel, den Leser in die Nähe Gottes zu führen und ihm Vertrauen auf Gottes Güte zu vermitteln. Sie möchten zur vermehrten Hingabe an Gott ermuntern. So kommen sie notwendigerweise auch auf das zu sprechen, was die Gemeinschaft mit Ihm hindern und unterbrechen kann. Deshalb werden in vielen Psalmen heilig und unheilig, gerecht und ungerecht, gut und böse, hilfreich und schädlich einander gegenübergestellt. Zudem wird der zu befolgende Wille Gottes aufgezeigt. Auf den gebotenen Gehorsam und dessen Belohnung und auf Bestrafungen für ein widersetzliches Verhalten wird unmissverständlich hingewiesen. Der aufnahmebereite Leser wird überzeugt, dass er es mit göttlicher Wahrheit und ewiger Weisheit zu tun hat, durch die sich Gott in Güte und Heiligkeit helfend den Menschen zuwendet. Ein gläubiger Leser der Psalmen wird oft den Eindruck haben, unter gleichgesinnten Mitgläubigen zu sein, die schon vor ihm den Weg nach Gottes Wort gewählt und eingehalten haben und durch Gottes Gnade die vielfältigen Nöte des irdischen Daseins überwunden haben.