Das Buch des Propheten Jeremia
Kapitel 8
2. Es gibt keine Heilung mehr
Sie weigern sich umzukehren
„In jener Zeit, spricht der HERR, wird man die Gebeine der Könige von Juda und die Gebeine seiner Fürsten und die Gebeine der Priester und die Gebeine der Propheten und die Gebeine der Bewohner von Jerusalem aus ihren Gräbern herausnehmen. Und man wird sie ausbreiten vor der Sonne und vor dem Mond und vor dem ganzen Heer des Himmels, die sie geliebt und denen sie gedient haben und denen sie nachgewandelt sind und die sie gesucht und vor denen sie sich niedergebeugt haben; sie werden weder gesammelt noch begraben werden; zu Dünger auf der Fläche des Erdbodens sollen sie werden. Und der Tod wird dem Leben vorgezogen werden von dem ganzen Rest, der von diesem bösen Geschlecht übrig geblieben ist an allen Orten, wohin ich die Übriggebliebenen verstoßen haben werde, spricht der HERR der Heerscharen. Und sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Fällt man denn und steht nicht wieder auf? Oder wendet man sich ab und kehrt nicht wieder zurück? Warum kehrt sich dieses Volk Jerusalems ab in immerwährender Abkehr? Sie halten fest am Trug, sie weigern sich umzukehren. Ich habe achtgegeben und zugehört: Sie reden, was nicht recht ist; da ist keiner, der seine Bosheit bereut und spricht: Was habe ich getan! Allesamt wenden sie sich zu ihrem Lauf, wie ein in den Kampf stürmendes Pferd. Selbst der Storch am Himmel kennt seine bestimmten Zeiten, und Turteltaube und Schwalbe und Kranich halten die Zeit ihres Kommens ein; aber mein Volk kennt das Recht des HERRN nicht.“ (Jer 8,1–7)
Nachdem der HERR aufs Neue die schrecklichen Gerichte angekündigt hat, die die Könige von Juda, die Fürsten, die Propheten und die Bewohner von Jerusalem erreichen werden, lässt er ihnen noch sagen: „Fällt man denn und steht nicht wieder auf?“ (V. 4). Es ist für das Volk sehr schlimm zum wiederholten Male so tief gesunken zu sein, aber wie viel schlimmer ist es, sich nun zu weigern das zu bereuen und die Aufrufe Gottes, zu ihm umzukehren, zu verachten. Gott achtet auf jedes erste Anzeichen von Reue: „Ich habe Acht gegeben und zugehört“ (V. 6), bereit, jede Regung der Rückkehr zu fördern, aber vergeblich. Israel hat weniger Einsicht als die Zugvögel, die den Augenblick erkennen können, wo es Zeit wird zum Überwintern wiederzukommen.
Propheten und Priester
„Wie könnt ihr sagen: Wir sind weise, und das Gesetz des HERRN ist bei uns? Ja, siehe, zur Lüge hat es gemacht der Lügengriffel der Schreiber. Die Weisen werden beschämt, bestürzt und gefangen werden; siehe, das Wort des HERRN haben sie verschmäht, und welcherlei Weisheit haben sie? Darum werde ich ihre Frauen anderen geben, ihre Felder anderen Besitzern. Denn vom Kleinsten bis zum Größten sind sie allesamt der Gewinnsucht ergeben; vom Propheten bis zum Priester üben sie allesamt Falschheit, und sie heilen die Wunde der Tochter meines Volkes leichthin und sprechen: „Frieden, Frieden!“, und da ist doch kein Frieden. Sie werden beschämt werden, weil sie Gräuel verübt haben. Ja, sie schämen sich keineswegs, ja, Beschämung kennen sie nicht. Darum werden sie fallen unter den Fallenden; zur Zeit ihrer Heimsuchung werden sie straucheln, spricht der HERR. Wegraffen werde ich sie, spricht der HERR. Keine Trauben am Weinstock und keine Feigen am Feigenbaum, und das Blatt ist verwelkt: So will ich ihnen solche bestellen, die sie verheeren werden.“ (Jer 8,8–13)
Die Verantwortung der Propheten und der Priester, die direkter mit dem Wort Gottes in Verbindung stehen, ist besonders groß. Die Verse 10 und 11 wiederholen die Beschuldigung, die schon in Kapitel 6,13.14 gegen sie vorgebracht worden ist. Je mehr Belehrung man von Gott empfängt, umso mehr ist man verantwortlich, im Gehorsam ihm gegenüber zu handeln. Wenn jedoch Falschheit und schändlicher Gewinn die Frömmigkeit ersetzen und das Herz gleichgültig gegenüber den Schmerzen des Volkes Gottes machen, so wird das Gericht ohne Barmherzigkeit kommen.
„Sie heilen die Wunde … leichthin“ (V. 11) und verlangen den Frieden, den Gott nur geben kann, wenn wahre Buße vorhanden gewesen ist. Ihre angebliche Weisheit wird zunichte gemacht werden und sie werden fallen, um ausgerottet zu werden wie solche, die keinen Verstand haben. Wenn Gott die Wunde zugefügt hat, ist es nichts als Torheit zu versuchen, eine künstliche Heilung mit den Hilfsmitteln der menschlichen Weisheit herbeizuführen.
Wozu bleiben wir sitzen?
„Wozu bleiben wir sitzen? Versammelt euch, und lasst uns in die festen Städte ziehen und dort umkommen, denn der HERR, unser Gott, hat uns zum Untergang bestimmt und uns Giftwasser zu trinken gegeben, weil wir gegen den HERRN gesündigt haben. Man hofft auf Frieden, und da ist nichts Gutes; auf die Zeit der Heilung, und siehe da, Schrecken. Von Dan her wird das Schnauben seiner Pferde gehört; vom Schall des Wieherns seiner starken Pferde erzittert das ganze Land. Und sie kommen und verzehren das Land und seine Fülle, die Stadt und ihre Bewohner. Denn siehe, ich sende unter euch Schlangen, Vipern, gegen die es keine Beschwörung gibt; und sie werden euch beißen, spricht der HERR.“ (Jer 8,14–17)
In dem Abschnitt, der mit dieser Frage beginnt, scheinen einige die Teilnahmslosigkeit abschütteln und vor Gott Ruhe bewahren zu wollen sowie zu erkennen, dass sie gegen den HERRN gesündigt haben. Aber wenn die Ankündigung des Gerichtes Furcht hervorruft und den Wunsch, in den „festen Städten“ Zuflucht zu suchen, ist das Gewissen nicht tiefgehend berührt worden. Wir finden im Wort Gottes einige Beispiele von Männern, die durch die Worte „Ich habe gesündigt“ versucht haben, den Folgen zu entgehen, ohne dass das Herz vor Gott aufrichtig gewesen wäre sich wirklich zu demütigen (wie etwa der Pharao oder der König Saul: 2. Mo 10,16; 1. Sam 15,24). Zu bekennen, dass man gesündigt hat, ist dann ein Fallstrick für einen Menschen, wenn er nicht so weit geht, tatsächlich das Böse einzusehen und es aufzugeben.
Der Schmerz des Propheten
„O meine Erquickung im Kummer! Mein Herz ist krank in mir. Siehe, die Stimme des Geschreis der Tochter meines Volkes kommt aus fernem Land: „Ist der HERR nicht in Zion, oder ist ihr König nicht darin?“ Warum haben sie mich gereizt durch ihre geschnitzten Bilder, durch Nichtigkeiten der Fremde? „Vorüber ist die Ernte, die Obstlese ist zu Ende, und wir sind nicht gerettet!“ Ich bin zerschlagen wegen der Zerschmetterung der Tochter meines Volkes; ich gehe trauernd umher, Entsetzen hat mich ergriffen. Ist kein Balsam in Gilead, oder kein Arzt dort? Denn warum ist der Tochter meines Volkes kein Verband angelegt worden? O dass mein Haupt Wasser wäre und mein Auge ein Tränenquell, so wollte ich die Erschlagenen der Tochter meines Volkes Tag und Nacht beweinen!“ (Jer 8,18–23)
Jeremia ist mit dem Volk Israel zutiefst verbunden, besonders mit Zion in Jerusalem, „der Tochter meines Volkes“ (V. 22). Die große „Zerschmetterung“ (V. 21), die diejenigen heimsuchen wird, die er liebte, erfüllt ihn mit Trauer und Entsetzen. Könnte er irgendeinen Trost finden können, während er schon die Stimme der Gefangenen aus einem fernen Land hört? Aber ist sie nicht die Stadt des großen Königs (Ps 48,3)? Soll nicht der HERR selber darin regieren (Ps 24,10)? Diese Zusicherung ist es, in der er in seiner Bestürzung einen Grund findet entgegen aller Hoffnung dennoch zu hoffen. Wie ist es möglich gewesen, dass Zion die gelegene Zeit hat verstreichen lassen, zu dem umzukehren, der in Kap. 30,17 sagt: „Ich will dir einen Verband anlegen und dich von deinen Schlägen heilen“ (30,17)?
Jeremia bringt hier seine Empfindungen zum Ausdruck, die an die Liebe Christi angesichts des verstockten Unglaubens Jerusalems erinnern, als er es besuchen kam: „Jerusalem, Jerusalem… Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Mt 23,37).