Einführende Vorträge zur Offenbarung

Kapitel 11

Der Engel setzt seine Rede fort: „Stehe auf und miss den Tempel Gottes und den Altar und die darin anbeten. Und den Hof, der außerhalb des Tempels ist, wirf hinaus und miss ihn nicht; denn er ist den Nationen gegeben worden“ (V. 1.2). Jerusalem tritt in den Vordergrund. Es ist jetzt der Mittelpunkt, obwohl das Tier hier wüten mag. „Und ich werde meinen zwei Zeugen Kraft geben1, und sie werden 1260 Tage weissagen, mit Sacktuch bekleidet“ (V. 3). Ihre Aufgabe gilt für eine verhältnismäßig kurze Zeit – für dreieinhalb Jahre. „Diese sind die zwei Ölbäume und die zwei Leuchter, die vor dem Herrn der Erde stehen“ (V. 4). Es sind zwei Zeugen. Das bedeutet nicht, dass das Zeugnis tatsächlich, geschichtlich gesehen, auf zwei Einzelpersonen beschränkt wird. Sie sprechen von dem kleinsten angemessenen Zeugnis dem Gesetz entsprechend. Aus ihnen buchstäblich zwei Personen zu machen, scheint mir eine fehlerhafte Art zu sein, die Prophetie und insbesondere die Apokalypse auszulegen; denn sie ist in hohem Maß symbolisch wie auch das Buch Daniel in einem gewissen Grad. Wenn wir diese Wahrheit praktisch vergessen, stürzen wir uns in Wolken von Irrtum und Widerspruch.

So finden wir gelegentlich zur Veranschaulichung der „Offenbarung“ Bezugnahmen auf Jesaja, Jeremia und andere Propheten. Wir müssen uns indessen daran erinnern, dass diese Prophetien ihrem Aufbau nach nicht sinnbildlich sind. Daher darf die Denkweise, wie sie auf die Bücher und die Schreibweise von Jeremia oder Jesaja gegründet ist (Hesekiel ist teilweise symbolisch, teilweise bildlich), nicht für das Buch Daniel oder die Apokalypse entscheidend sein. In letzteren finden wir Symbole, welche ihre eigene Bedeutung haben. Folglich bedeutet „zwei“ normalerweise im Sinnbild ein ausreichendes Zeugnis – genug, aber nicht mehr als genug. „Aus zweier oder dreier Zeugen Mund wird jede Sache bestätigt“ (2. Kor 13,1). Nach dem jüdischen Gesetz konnte ein Gerichtsfall nicht aufgrund eines einzigen Zeugen entschieden werden; zum rechtsgültigen Beweis und Urteil mussten es wenigstens zwei Zeugen sein.

Der Herr zeigt uns, dass Er in jenen Tagen ein angemessenes Zeugnis erwecken wird. Aus wie vielen Personen das Zeugnis bestehen wird, ist eine andere Sache. Dazu habe ich wenig oder nichts zu sagen. Man kann diesbezüglich kaum mehr Schlussfolgerungen ziehen als hinsichtlich der vierundzwanzig verherrlichten Ältesten. Wer möchte aus jener Stelle ableiten, dass es nur so viele verherrlichte Personen gibt? Warum sollten wir hier denken, dass es nur zwei Menschen sind, die Zeugnis ablegen? – Wie diese Angelegenheit auch immer sein mag – diejenigen, die als Zeugnis erweckt worden sind, weissagen nur eine begrenzte Zeit lang. „Und wenn jemand sie beschädigen will, so geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde; und wenn jemand sie beschädigen will, so muss er also getötet werden“ (V. 5).

Ich frage: Ist das eigentlich das Zeugnis des Evangeliums? Schützt der Herr auf diese Weise solche Menschen, die das Evangelium seiner Gnade predigen? Kam jemals Feuer aus dem Mund eines Evangelisten hervor? Verzehrte jemals ein Prediger seine Feinde mit Feuer? Fielen auf diesem Grundsatz hin Ananias und Sapphira tot zu Boden? Ist das die Weise des Evangeliums? – Offensichtlich befinden wir uns hier in einem ganz anderen Stimmungsfeld. Hier steht ein vollkommen anderer Zustand vor uns als der, welcher während der Zeit der Kirche herrscht, obwohl auch in ihr die Sünde in gewissen Fällen die Todesstrafe brachte. Ich führe keine weiteren Beweise an, weil ich denke, dass genug gegeben wurden.

„Diese haben die Gewalt, den Himmel zu verschließen, auf dass während der Tage ihrer Weissagung kein Regen falle“ (V. 6). Das heißt, sie zeigen Ähnlichkeit mit Elia. „Sie haben Gewalt über die Wasser, sie in Blut zu verwandeln.“ In dieser Hinsicht gleichen sie Mose. Das bedeutet nicht, dass es sich um Mose und Elia persönlich handelt. Doch der Charakter ihrer Zeugnisse ist gleich; und die Strafen sind von solcher Art, wie Gott sie in den Tagen dieser beiden geehrten Diener Gottes in alter Zeit gegeben hatte.

„Und wenn sie ihr Zeugnis vollendet haben werden, so wird das Tier, das aus dem Abgrund heraufsteigt, Krieg mit ihnen führen, und wird sie überwinden und sie töten“ (V. 7). Sie werden trotz des Tieres bewahrt, bis ihr Werk ausgeführt ist. Aber unmittelbar nach Abschluss ihres Zeugnisses, darf das Tier sie überwinden. Genauso war es auch beim Herrn. Gegen Ihn wurde in seinem Dienst der äußerste Druck ausgeübt. Auch ihre, wie wir sagen können, Stunde war noch nicht gekommen, so wie unser Herr es von sich gesagt hat. Die Feinde waren schon lange bis zum Äußersten bereit, die beiden Zeugen zu vernichten, aber irgendwie konnte es nicht geschehen, weil der Herr sie schützte, bis sie ihre Mission erfüllt hatten. Das erkennen wir einerseits in dem Charakter der Gnade, die den Herrn Jesus erfüllte und grundsätzlich zu Ihm gehörte. Andererseits begegnen wir diesem Grundsatz auch in der irdischen, auf dem Boden der Vergeltung stehenden Handlungsweise des Alten Testaments. Der Geist Gottes wird die [in unserem Kapitel geschilderten; Übs.] Gläubigen für sein Zeugnis zubereiten. Das ist kein Wunder; denn tatsächlich kehrt Gott wieder zu dem zurück, was Er damals verheißen und bisher nicht erfüllt hat. Die Erfüllung soll jetzt erfolgen. Seine Absicht ist nicht allein, Menschen für seine himmlische Herrlichkeit zu sammeln. Er will auch auf der Erde die Juden und Nichtjuden an ihren unterschiedlichen Plätzen regieren. Dabei befindet sich Israel in der größeren Nähe zu Ihm. Gott benötigt genauso ein irdisches Volk wie eine Familie im Himmel. Wenn die himmlischen Erlösten verwandelt worden sind, beginnt Er sich mit den irdischen zu beschäftigen. Niemals will Er sie vermischen. Das würde nur zur größten Verwirrung führen.

„Und ihr Leichnam wird auf der Straße der großen Stadt liegen, welche geistlicher weise Sodom und Ägypten heißt, wo auch ihr Herr gekreuzigt wurde“ (V. 8). Das ist Jerusalem, welches geistlicher weise als „Sodom“ und „Ägypten“ bezeichnet wird wegen der Gottlosigkeit des Volkes und seines Fürsten. Es enthält nicht weniger Greuel als Sodom. In ihr befindet sich alle Finsternis und sittliche Knechtschaft Ägyptens. Dennoch handelt es sich in Wirklichkeit um den Ort, wo ihr Herr gekreuzigt wurde, nämlich Jerusalem. So werden also die Zeugen zu Fall gebracht; und die Menschen zeigen in unterschiedlichem Ausmaß ihre Genugtuung. „Und viele aus den Völkern und Stämmen und Sprachen und Nationen sehen ihren Leichnam drei Tage und einen halben, und erlauben nicht, ihre Leichname ins Grab zu legen. Und die auf der Erde wohnen freuen sich über sie und frohlocken und werden einander Geschenke senden, weil diese, die zwei Propheten, die quälten, welche auf der Erde wohnen“ (V. 9.10). Aber nach diesen dreieinhalb Tagen erweckt die Macht Gottes jene erschlagenen Zeugen wieder auf; und sie steigen in der Wolke hinauf in den Himmel, wobei ihre Feinde sie beobachten. „Und in jener Stunde geschah ein großes Erdbeben, und der zehnte Teil der Stadt fiel, und 7000 Menschennamen kamen in dem Erdbeben um; und die übrigen wurden voll Furcht und gaben dem Gott des Himmels Ehre. Das zweite Wehe ist vorüber; siehe, das dritte Wehe kommt bald“ (V. 13.14).

Zuletzt sehen wir die siebte Posaune. Das ist wichtig, um den Aufbau dieses Buches zu verstehen. Die siebte Posaune führt uns hinab bis zum Ende, und zwar in einer allgemeinen Weise. Das ist eigentlich klar, obwohl es häufig übersehen wird. „Und der siebente Engel posaunte: und es geschahen laute Stimmen in dem Himmel, welche sprachen: Das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus ist gekommen“ (V. 15). Etwas genauer übersetzt müsste es eigentlich heißen: „Das Welt–Königreich unseres Herrn und seines Christus ist gekommen“, wenn unsere Zunge eine solche Wortverbindung gestattet. Es geht nicht einfach um Macht im Allgemeinen, die im Himmel übertragen wurde, sondern: „Das Reich der Welt unseres Herrn und seines Christus ist gekommen, und er wird herrschen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Und die vierundzwanzig Ältesten, die vor Gott auf ihren Thronen sitzen, fielen auf ihre Angesichter und beteten Gott an und sprachen: Wir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der da ist und der da war, dass du deine große Macht angenommen und die Herrschaft angetreten hast! Und die Nationen sind zornig geworden, und dein Zorn ist gekommen und die Zeit der Toten, gerichtet zu werden, und den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten, und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten, die Kleinen und die Großen, und die zu verderben, die die Erde verderben“ (V. 15–18).

Wir bemerken hier, dass vorausgesetzt wird, dass das Ende des Zeitalters herangekommen ist. Jetzt hören wir nicht erschreckte Könige und Völker, die so sprechen [wie in Off 6; Übs.], sondern die Stimme derjenigen, die im Himmel Bescheid wissen. Außerdem handelt es sich um „die Zeit der Toten, um gerichtet zu werden. Hier erkennen wir nicht Erlöste, die in den Himmel aufgenommen werden, sondern eine spätere Zeit, um „den Lohn zu geben deinen Knechten, den Propheten, und den Heiligen und denen, die deinen Namen fürchten“. Kein Wort wird von ihrer Wegnahme in den Himmel gesagt, sondern nur von einer Belohnung an sie. Vor dem öffentlichen Erscheinen des Herrn Jesus Christus gibt es keine Austeilung von Lohn. Die Wegnahme der verwandelten Gläubigen von diesem Schauplatz ist eine ganz andere Richtung der Wahrheit. Der Lohn wird niemandem versagt, der den Namen des Herrn fürchtet – sei er klein oder groß. Zudem wird Er „die verderben, die die Erde verderben“.

Das ist das eigentliche Ende von Kapitel 11. Der nächste Vers 19 ist, richtig gesehen, der Anfang einer neuen Serie [von Visionen; Übs.]. Darüber habe ich nicht den geringsten Zweifel, obwohl er in unseren Bibeln an das Ende dieses Kapitels gestellt worden ist. Folglich werde ich ihn heute Abend nicht mehr betrachten.

Fußnoten

  • 1 Das Wort beinhaltet möglicherweise wie in Offenbarung 8,3 „Wirksamkeit“ oder „Macht“. So sahen es die Übersetzer in dem einen Text, wenn auch nicht in dem anderen (W. K.); (vgl. „King-James-Bible“ und „Luther-Bibel“ bis 1960 und ab 1984!; Übs).
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