Vorträge zum Matthäusevangelium

Kapitel 18

In Kapitel 16 lasen wir von der Offenbarung des Vaters über die Person des Herrn an Simon Petrus, welche mit zwei Gegenständen besonders verbunden wurde. Einer der beiden war völlig neu, denn er wurde zum ersten Mal vorgestellt. Der andere war das wohlbekannte Reich der Himmel. Im vorliegenden Kapitel sehen wir diese wieder nebeneinander gestellt, natürlich ohne sie zu vermengen oder gleichzusetzen. Wir werden aufgefordert, sowohl das Reich als auch die Kirche (Versammlung) in ihren praktischen Auswirkungen zu sehen. Wie wir hörten, wollte der Herr die Versammlung auf den Felsen des Bekenntnisses von Seiner Person bauen. „Auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen“ (Matthäus 16,18). Danach versprach Er, die Schlüssel des Reiches der Himmel dem Petrus zu geben. Auch unser augenblickliches Thema steht, wie ich denke, mit dem unmittelbar Vorausgehenden in Verbindung. Der Herr hatte gezeigt, welche praktischen Grundsätze Ihn leiteten, nämlich das Bewußtsein von Seiner Herrlichkeit und Seiner unumschränkten Herrschergewalt über alles, was Er erschaffen hatte; denn Er war der Herr des Himmels und der Erde. Trotzdem beharrte Er nicht auf Seinen Vorrechten und bezahlte das Steuergeld. Nach dem Rechtstitel waren die Söhne frei. Er war der Herr des Tempels; daher konnten keine Ansprüche an Ihn bestehen. Dennoch sagte Er: „Auf daß wir ihnen aber kein Ärgernis geben. . .“

Daran erkennen wir eindeutig, daß die Gnade auf ihre Rechte verzichtet. Auf jeden Fall zur gegenwärtigen Zeit beansprucht und verwirklicht sie diese noch nicht. Im vollen Bewußtsein des Besitzes aller Herrlichkeit kann sie sich in dieser bösen Welt allem beugen. Wir müssen jedoch sorgfältig beachten, daß die Gnade jede verständige Seele lehrt, daß wir niemals Gottes Rechte aufgeben dürfen, sondern nur unsere eigenen. Wir sollen hart wie ein Kieselstein sein, wenn es um Gott geht. Die Gnade verzichtet nie auf wahre Heiligkeit sowie auf die Rechte und den Willen Gottes. Tatsächlich ist es allein die Gnade, die, soweit es den Menschen betrifft, eine Seele kräftigt, die Dinge Gottes wertzuschätzen, zu verteidigen und in ihnen zu leben. Auch Gott handelt nach dem Grundsatz der Gnade, anfangend beim Evangelium. „Denn das dem Gesetz Unmögliche, weil es durch das Fleisch kraftlos war, tat Gott, indem er, seinen eigenen Sohn in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde und für die Sünde sendend, die Sünde im Fleisch verurteilte.“ Danach folgt sofort die praktische Seite: „Auf daß das Recht des Gesetzes erfüllt würde in uns, die nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist wandeln“ (Römer 8,3–4). Das, was das Gesetz forderte, aber niemals bewirkte, wird durch die Kraft der Gnade erfüllt, welche auf das Herz des Menschen einwirkt.

Christus stellt weniger Forderungen, als daß Er Kraft mitteilt, und zwar aus Seiner Güte heraus. Zudem besteht die Gnade nicht nur in der Sündenvergebung, sondern auch in der Darreichung von Kraft, um das zu sein und zu tun, was der menschlichen Natur gänzlich widerstrebt und sie übersteigt. Das lag außerhalb der Reichweite des Gesetzes. Es wandte sich an den Menschen, wie er war, setzte seine Sündigkeit, seine böse Lust und seine Leidenschaften voraus und verbot sie. Was konnte es mehr tun? Es beanspruchte das Herz des Menschen. Das war jedoch das Letzte, was er geben wollte oder konnte. Er vermochte seinen Leib zur Verbrennung hinzugeben und alle seine Güter zur Verteilung an die Armen, doch niemals sein Herz, um Gott zu lieben. (vergl. 1. Korinther 13!). Ich spreche natürlich vom Menschen als solchen. Falls wir hingegen einen Christen betrachten – was macht ihn zum Christen? Nicht das Gesetz, welches seit Anbeginn der Welt nie einen Christen hervorgebracht hat und es auch gar nicht sollte! Es verdammt den Menschen, weil er ein Sünder ist und Gott nicht gehorchen will, doch stellt es keineswegs die bei einem Christen erwarteten Kennzeichen heraus. Es forderte nicht vom Menschen, auf seine Rechte zu verzichten und zum Leiden bereit zu sein. Beides gilt für einen Christen, der berufen ist, weit über die Forderung des Gesetzes hinaus zu gehen. Wenn er es nicht tut, wandelt er nicht als Christ. So versagt das Gesetz in beiderlei Hinsicht. Einen gottlosen Mann kann es nicht erretten; und einem gottesfürchtigen Menschen stellt es nie den vollen Charakter jener Heiligkeit vor, die Christus auferlegt. Was hat Gott also dem Christen gegeben? Wenn er nicht unter dem Gesetz steht, worunter dann? Er steht unter Christus, unter Gnade, und zwar unter Christus als der Fülle von Gnade und Wahrheit.

Das wird in unserem Kapitel vorgestellt; und es ist ein schöner Gesichtspunkt, mit dem wir uns jetzt beschäftigen wollen. Wir sehen, daß die Gnade des Evangeliums ein Muster des Geistes ist, welcher die Kirche (Versammlung) und ihre Glieder in allen Dingen, die ausschließlich uns betreffen, bewegen soll. Darin liegt oft eine große praktische Schwierigkeit, welche die Menschen nicht verstehen. Während wir berufen sind, in nichts anderem als Gnade hinsichtlich unserer Beziehungen zu Gott zu wandeln, ist es ein Mißbrauch derselben, wenn wir annehmen, wir sollten nun das Böse erlauben oder ihm gegenüber gleichgültig sein. Im Gegenteil vermittelt die Gnade, während sie dem Menschen in seinem Ruin begegnet und ihm trotz seiner Sünden vergibt, eine Kraft, die er vorher nicht besaß. Sie offenbart nämlich Christus, stärkt die Seele, verleiht neues Leben und wirkt an diesem Leben, um den Gläubigen im Gehorsam sowie auch in der Freude Christi voran zu bringen. Unser Herr zeigt, daß dieser Gesichtspunkt alles beherrschen sollte. Doch zuerst wird die geistliche Einstellung aufgezeigt, die uns geziemt.

„In jener Stunde traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist denn der Größte im Reich der Himmel?“ (V. 1). Das bot unserem Herrn eine Gelegenheit, die Gesinnung zu beschreiben, die dem Reich der Himmel angemessen ist. „Als Jesus ein Kindlein herzugerufen hatte, stellte er es in ihre Mitte und sprach: Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kindlein, so werdet ihr nicht in das Reich der Himmel eingehen“ (V. 2–3). Genau das wird in einer Seele bewirkt, wenn sie sich bekehrt. Ein neues Leben wird mitgeteilt, nämlich Christus. Es findet demnach viel mehr als nur ein völliger Wechsel statt. Letzterer würde in Bezug auf die Wahrheit hinsichtlich eines Christen bei weitem zu kurz greifen. Natürlich ist der Christ ein verwandelter Mensch; doch dieser Wechsel ist das äußere Zeichen eines viel tieferen Vorgangs. Der Christ ist von neuem geboren. Er besitzt ein Leben, das er vorher nicht hatte. Damit meine ich nicht einfach, daß er auf eine neue Weise lebt, sondern daß ihm ein neues Leben mitgeteilt wurde, welches er als Mensch von Natur nicht besaß. Auf diesem Weg wird er ein kleines Kind. Danach muß dieses neue Leben gepflegt und gekräftigt werden. Auch unser natürliches Leben als Mensch wächst heran, wenn es nicht durch verschiedene Umstände erstickt oder behindert wird. Das gilt auch für das geistliche Leben, obwohl es ewig währt.

Unser Herr stellt hier die charakteristischen moralischen Gesichtszüge vor, die dem Reich der Himmel geziemen, und zwar im Gegensatz zu jüdischen Vorstellungen von Größe. Die Jünger dachten immer noch an das Reich der Himmel entsprechend gewisser alttestamentlicher Beschreibungen desselben. Als David das Königreich erhielt, wurden seine Gefolgsleute, die sich vorher als treu erwiesen hatten, entsprechend ihrer früheren Verdienste geehrt. Wir lesen von den drei Obersten, danach von den dreißig Helden, usw. (2. Samuel 23). Die Stellung eines jeden wurde festgesetzt nach ihrem Verhalten in der Zeit der Erprobung. Mit ähnlichen Gedanken kamen die Jünger jetzt zum Herrn. Sie waren voll davon, was sie getan und erlitten hatten. Später wurde Petrus dafür zurechtgewiesen. Dieselbe Gesinnung brach immer wieder hervor, sogar beim letzten Mahl des Herrn.

Der Herr macht hier offenbar, daß Er in Seinen Jüngern eine Gesinnung liebt, die nichts von sich hält. Sie sollen nicht ihr Ich pflegen, sondern in einem Geist der Demut, der Abhängigkeit und des Vertrauens wandeln, der nicht an sich selbst denkt. Solche Empfindungen sind typisch für kleine Kinder. Sie mögen enttäuscht werden; doch normalerweise schauen sie zu ihren Eltern auf und denken, daß letzteren niemand gleich sei. Solange ein Kind nicht verdorben wurde, bleibt es bei dieser Überzeugung. Auch in einem geistlichen Kind ist diese Selbstvergessenheit gerade richtig. Darum stellt das kleine Kind das fortwährende Muster von wahrer Größe im Reich der Himmel dar. Dies zeigte sich in vollkommener Weise bei unserem Herrn. Welch ein Wunder, daß Er, Der alles wußte und alle Gewalt und Macht besaß, den Platz eines kleinen Kindes einnehmen konnte – und es auch tat! Wir dürfen daher sicher sein, daß die Niedriggesinntheit eines Kindes in keinster Weise unvereinbar ist mit einer Person, die tiefgründig über die Dinge Gottes belehrt ist. Diese Demut besteht nicht in Phrasen oder äußeren Formen, sondern in der Wirklichkeit einer Sanftmut, welche nicht auf sich selbst vertraut, sondern auf den lebendigen Gott. Eine solche Gesinnung zeigt die Rücksichtnahme, die Gott gegen alle Menschen rundum ausgeübt haben möchte. Vollkommene Demut war genauso ein Kennzeichen unseres Herrn Jesus wie das Bewußtsein Seiner Herrlichkeit. Beide können durchaus zusammen gehen; und wir besitzen keine rechte christliche Demut ohne dieses Bewußtsein der Herrlichkeit. Der Herr stellt hier vor uns, daß wir als Kinder Gottes demütig zu sein haben.

„Wer irgend sich selbst erniedrigen wird, wie dieses Kindlein, dieser ist der Größte im Reich der Himmel“ (V. 4). Es geht nicht nur darum, daß wir als aus Gott geboren und in die Familie Gottes eingeführt zu kleinen Kindern wurden, sondern vor allem um das praktische Werk der Selbsterniedrigung. Unmittelbar danach wird beschrieben, wie wir anderen gegenüber empfinden sollen. „Wer irgend ein solches Kindlein aufnehmen wird in meinem Namen, nimmt mich auf“ (V. 5). Wie demütig ein Christ auch immer sein mag, so sollte er doch betrachtet werden in all der Herrlichkeit Christi, welche untrennbar mit seiner Aufnahme im Namen Christi verbunden ist. Ein Christ ist eine Person, die ihre Rechte nicht verteidigt, noch in irgendeiner Form ihre Ehre sucht. Sie beugt sich willig und macht jedem anderen Menschen Platz. Dennoch ist sie sich der Herrlichkeit bewußt, die auf ihr ruht. Doch leider gibt es auch das traurige Gegenteil. „Wer aber irgend eines dieser Kleinen, die an mich glauben, ärgern wird. . .“ Wer ist damit gemeint? Es handelt sich um einen Menschen, der sich nicht fürchtet, das Vertrauen dieser Kleinen auf Gott zu erschüttern, und einen Stolperstein in ihren Weg legt. Es geht jetzt nicht um Worte, die in treuer Liebe zu Seelen gesagt werden und an denen die Menschen vielleicht Anstoß nehmen. Hier wird jedoch von einem großen Übel gesprochen, welches das Vertrauen der Kleinen auf Gott zu erschüttern vermag. „Wer aber irgend eines dieser Kleinen, die an mich glauben, ärgern wird, dem wäre nütze, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde“ (V. 6). Solche Ärgernisse kommen in der Welt ständig vor. Darum sagt der Herr: „Wehe der Welt der Ärgernisse wegen! Denn es ist notwendig, daß Ärgernisse kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen das Ärgernis kommt!“ (V. 7). Was soll man da tun? Der Herr zeigt zwei Wege, wie ich mich vor diesen Ärgernissen hüten kann. Erstens – ich muß bei mir selbst beginnen. Das ist die wichtigste Vorsichtsmaßnahme, um andere nicht zu „ärgern“. „Wenn aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir“ (V. 8). Sei es im Dienst oder Wandel – wenn Hand oder Fuß Ursache zum Straucheln werden (d. h. etwas, wodurch der böse Feind bei mir einen Vorteil gegen Gott gewinnt), dann soll ich sofort entschlossen gegen das Böse vorgehen. „Es ist dir besser, lahm oder als Krüppel in das Leben einzugehen, als mit zwei Händen oder mit zwei Füßen in das ewige Feuer geworfen zu werden.“

Der Herr stellt immer das volle Endergebnis des Bösen vor die Seele. Für das Reich der Himmel setzt Er voraus, daß es dort sowohl echte als auch unechte Bekenner gibt. Darum spricht Er ganz allgemein. Er verkündet keineswegs: „Falls du wirklich zum Reich gehörst, hast du nichts zu fürchten.“ Er betrachtet das Reich der Himmel; und in dasselbe gehen so manche Menschen ein. Einige davon mögen aus Gott geboren sein, andere nicht. Der Herr stellt ihnen ernstlich vor, daß jemand, der der Sünde gleichgültig gegenüber steht, überhaupt nicht aus Gott geboren ist. Unmöglich kann eine Seele aus dem Heiligen Geist geboren sein und gewohnheitsmäßig und bedenkenlos tun, was Ihn betrübt. Daher stellt Er Seinen Zuhörern vor, daß solche ohne Entkommen in das ewige Feuer geworfen werden. Das kann für niemand gelten, der aus Gott geboren ist. Da es jedoch im Reich der Himmel sowohl ein falsches als auch ein echtes Bekenntnis geben kann, ist es für den Gläubigen von großer Bedeutung, daß er in keinem seiner Glieder Sünde zuläßt. „Und wenn dein Auge dich ärgert, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, einäugig in das Leben einzugehen, als mit zwei Augen in die Hölle des Feuers geworfen zu werden“ (V. 9). Wie hoch der Preis auch sein mag – Gott ist kein harter Herr. Niemand ist so treu und voll Liebe wie Er; und doch ist es dieser Gott, Der uns durch den Herrn Jesus Seine Gedanken vorstellt. Er schärft uns den einzigen Weg ein, wie wir mit einer Versuchung zur Sünde umzugehen haben (vergl. Epheser 5,5–6!).

Jedes geistliche Hindernis für unsere eigene Seele ist auch eine fruchtbare Quelle des Schadens für andere und muß deshalb zuerst weggeräumt werden. Daher sollen wir mit Selbstgericht beginnen. Doch wir sehen als zweites die Verachtung jener Kleinen, die Gott angehören. „Sehet zu“, sagt unser Herr, „daß ihr nicht eines dieser Kleinen verachtet; denn ich sage euch, daß ihre Engel in den Himmeln allezeit das Angesicht meines Vaters schauen, der in den Himmeln ist. Denn der Sohn des Menschen ist gekommen, das Verlorene zu erretten“ (V. 10 – 11). Welche reiche Gnade! Sie ist hier um so auffälliger, weil unser Herr offensichtlich diese Worte in einem sehr weiten Sinn gebraucht, indem Er ein wirkliches kleines Kind sowie eines der Kleinen, die an Ihn glauben, zusammenfaßt. Ich denke, dieses Kapitel sollte uns viel Zuversicht hinsichtlich der Kleinen geben. Er begründet Seine Worte nicht damit, daß Kinder unschuldig seien, wie wir Menschen so häufig sagen. Im Gegenteil, der Sohn des Menschen ist gekommen, um das Verlorene zu erretten. Das setzt die Beschmutzung durch Sünde voraus. Aber der Sohn des Menschen kam, um ihr zu begegnen. So dürfen wir also nicht nur für unsere eigenen Seelen unser Vertrauen auf den Herrn setzen, sondern auch für die kleinen Kinder.

Unser Herr geht jedoch noch weiter. „Was dünkt euch? Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte, und eines von ihnen sich verirrte, läßt er nicht die neunundneunzig auf den Bergen und geht hin und sucht das irrende? Und wenn es geschieht, daß er es findet, wahrlich, ich sage euch, er freut sich mehr über dieses, als über die neunundneunzig, die nicht verirrt sind. Also ist es nicht der Wille eures Vaters, der in den Himmeln ist, daß eines dieser Kleinen verloren gehe“ (V. 12–14). Zweifellos dürfen wir alle Erretteten in diesen Grundsatz einschließen; und das bestätigt auch Lukas 15. In diesem Kapitel des Lukasevangeliums wird ein ähnliches Gleichnis auf jeden Sünder angewandt. Aber hier bringt unser Herr es in den Zusammenhang mit dem Vorhergehenden, nämlich mit den richtigen Gefühlen gegen jene, die zum Reich der Himmel gehören. Am Anfang stellt Er ein kleines Kind in die Mitte und verfolgt dann den Gesichtspunkt bezüglich der Kleinen durch diesen Teil Seiner Predigt weiter. Er schließt mit dem Gedanken, daß Seine eigene Mission der Beweis von der Anteilnahme ist, die der Vater an den Kleinen nimmt.

Das ist jedoch nicht alles. Diese Wahrheit wendet der Herr jetzt auf unser praktisches Verhalten an. Angenommen, dein Bruder tut dir Unrecht, etwas, das vielleicht schwer zu ertragen ist – ein böses Wort oder eine unfreundliche Handlung. Du empfindest es tief als ein echtes, persönliches Vergehen gegen dich. Er tat es mit Absicht; und es ist natürlich eine große Sünde. Niemand weiß davon als nur er und du. Was sollst du tun? Sofort wird der obige große Grundsatz auf diesen Fall angewandt. Als du verloren und weit von Gott entfernt warst – was geschah mit dir? Wartete Gott, bis du deine Sünde wegräumtest? Dann wäre nie etwas geschehen. Gott sandte Seinen eigenen Sohn, um dich zu suchen und zu erretten. „Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und zu erretten, was verloren ist“ (Lukas 19,10). Nach diesem Grundsatz sollst du vorgehen, und zwar nicht nur, weil Gott so handelte. Du gehörst Gott; du bist ein Kind Gottes. Dein Bruder hat dir Unrecht getan. Gehe du zu ihm und versuche, ihn zurecht zu bringen! Der Herr Jesus verpflichtet jetzt Seine Jünger, die Liebe tätig werden zu lassen. Sie sollen in der Kraft göttlicher Liebe solche zurecht bringen, die sich von Gott entfernt haben. Er spricht nicht vom Fleisch, welches das Unrecht fühlt und sich darüber ärgert. So hätte auch ein Jude unter dem Gesetz empfunden. Aber jetzt geht es um Gnade; und die Gnade hüllt sich nicht in ihre eigene Würde und wartet, bis der Schuldige kommt, sich demütigt und das Unrecht bekennt. Das Gesetz brachte dem Schuldigen Strafe. Wenn ich irgend etwas mit dem Gesetz zu tun habe, bin ich ein verlorener Mann.

Doch ein Anderer ist auf den Schauplatz getreten – nicht das Gesetz, sondern der Sohn des Menschen, der Heiland der Verlorenen. Allerdings ist das nicht alles. Er sagt: „Ich will, daß du nach demselben Grundsatz wandelst wie Ich und als ein Gefäß derselben Liebe. So wie du von Mir dein Leben empfangen hast, so wünsche Ich, daß dein Leben durch Gnade gekennzeichnet sei, welche dem nachgeht, der gegen Gott gesündigt hat – Gnade, um den Mann zu suchen, der sich verirrt hat.“ Das ist für uns sehr schwer, es sei denn, unsere Seele steht unmittelbar in der Liebe Gottes und erfreut sich dessen, was Gott für sie ist. Was fühlt Gott bezüglich Seines Kindes, das Unrecht getan hat? Er möchte, daß es wieder zurecht kommt. Wenn ein Kind sich nahe genug beim Vater befindet, sodaß es Sein Herz kennt, dann geht es aus, um Seinen Willen zu tun. Auch wenn ihm Unrecht zugefügt worden ist, denkt es nicht daran. Sein Bruder ist ins Böse abgerutscht; und es trauert über ihn. Ein echtes Herzensverlangen wünscht die Zurechtbringung des Abgeirrten. Dabei soll nicht das eigene Ich gerechtfertigt, sondern die Seele meines Bruders für den Herrn wiederhergestellt werden.

„Wenn aber dein Bruder wider dich sündigt,“ sagt der Heiland, „so gehe hin, überführe ihn zwischen dir und ihm allein“ (V. 15). Der Herr will nicht, daß andere von der Sache erfahren. Es geht nicht um eine Sünde, von der schon viele wissen, sondern um eine persönliche Übertretung, welche nur ihr beide kennt. Gehe also zu ihm und zeige ihm seine Sünde zwischen dir und ihm allein! Das widerspricht natürlich völlig unserem Fleisch, welches entweder fordert, daß der Schuldige zuerst komme und sich demütige, oder nach weltlichen Gesichtspunkten handelt, indem es sich um den Menschen nicht kümmert, sondern ihn vom Schlechten zum Schlimmeren fortschreiten läßt. Die Liebe sucht das Gute sogar für denjenigen, der ihr noch so großes Unrecht getan hat. „Wenn er auf dich hört, so hast du deinen Bruder gewonnen.“ Die Liebe verlangt danach, den Bruder zu gewinnen. Das gilt für jeden, der Christus versteht und mit Ihm fühlt. Für die Liebe ist der andere nicht ein Übertreter, sondern ein Bruder. Dieser Gedanke steht vor dem Herzen. „So hast du deinen Bruder gewonnen.“

„Wenn er aber nicht hört, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit aus zweier oder dreier Zeugen Mund jede Sache bestätigt werde“ (V. 16). Ist es möglich, daß er den Zweien oder Dreien widersteht, die zu ihm als Zeugen der Liebe Christi kommen? Er hat Christus abgewiesen, als Er durch den einen sprach. Kann er Christus auch zurückweisen, wenn Er durch mehrere spricht? Wieder geht man ihm nach. Wird er widerstehen? Ach, es kann sein, daß er so handelt. „Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Versammlung“ (V. 17). Der Ausdruck „Versammlung“ spricht hier von der örtlichen Versammlung Gottes an dem Ort, in dem alle diese Brüder wohnen. „Wenn er aber nicht auf sie hören wird, so sage es der Versammlung; wenn er aber auch auf die Versammlung nicht hören wird, so sei er dir wie der Heide und der Zöllner.“

Wir lesen hier nicht von „einer“ Kirche (oder Versammlung), wie die Menschen es gewöhnlich ausdrücken. Eine solche kennt das Wort Gottes nicht, sondern nur die Versammlung Gottes. Die Bibel erkennt den Ausdruck „Versammlungen“ in der Mehrzahl nur an, wenn von Seiner Versammlung in mehreren Städten oder an vergleichbaren Orten gesprochen wird. Folglich sind alle Bezeichnungen der Menschen, die durch ein Abweichen von Gottes Gedanken eingeführt sind, der Bibel völlig fremd. „Eine Versammlung“ getrennt und unabhängig von anderen gibt es nicht, außer im Willen des Menschen. Jeder Christ ist verpflichtet, sich nicht nur von solchen Namen zu distanzieren, sondern auch von dem zugrunde liegenden Prinzip; denn Gott erwartet Wirklichkeit, und wir sind verpflichtet, nach der Wahrheit Gottes zu handeln. Sein Wille ist, daß wir nicht zu einer Versammlung (Kirche) dieser Welt oder einer freiwilligen Vereinigung nach eigenen Vorstellungen gehören.

Für einen Christen ist nichts so einfach, als wie ein Christ zu handeln. Ausschließlich die Befriedigung des Fleisches führt vom Weg Gottes ab. Offensichtlich setzt unser Abschnitt eine bekannte Versammlung voraus, zu der die genannten Personen gehören. Sie ist die Versammlung Gottes, die einzige Versammlung, die wir an unserem Wohnort anerkennen sollen. Das Unrecht der schuldigen Person soll ihr also mitgeteilt werden. Die Angelegenheit war mit Ernst untersucht und dem Gewissen vorgestellt worden. Jetzt muß die Versammlung ihr Urteil fällen. Diese warnt jenen Mann und bittet ihn ernstlich. Er weigert sich jedoch zu hören. Die Folge ist dann: „So sei er dir wie der Heide und der Zöllner.“ Was für ein feierlicher Ausgang! Ein Mensch, der im vorletzten Vers noch „Bruder“ genannt wurde, soll jetzt für mich wie ein Heide oder Zöllner sein! Wir dürfen keineswegs annehmen, daß der Mann ein Trinker oder Dieb war. Aber er offenbarte eine völlige Verhärtung in Eigenwillen und Selbstrechtfertigung. Diese mögen aus kleinsten Ursachen entstanden sein. Solch ein unbeugsamer Stolz bezüglich seiner selbst und seines Versagens veranlaßt den Herrn zu fordern, daß er „dir“ wie ein Heide oder Zöllner sei. Das bedeutet: Ich kann ihn in seinem unbußfertigen Zustand nicht mehr als Christ anerkennen.

Fälle von Trunksucht und anderen schweren Sünden (wie in 1. Korinther 5) verlangen keine solche Art des Verfahrens. Wenn die Schuld einer Person für niemanden zweifelhaft ist, hat die Kirche (Versammlung) eine eindeutige Pflicht. Der Sünder muß hinausgetan werden. Seine Tat braucht nicht von vielen Zeugen gesehen worden zu sein; dazu besteht keine unbedingte Notwendigkeit. Es gibt in diesem Fall auch keinen Grund, daß zuerst einer und dann zwei oder drei zu ihm gehen. Diese Handlungsweise geziemt sich, wenn die sündige Tat niemand sonst bekannt ist als nur demjenigen, dem sie zugefügt wurde. Unser Herr zeigt hier, wie aus einem kleinen Funken ein großes Feuer entstehen kann. Das Ende dieses persönlichen Unrechts führt zu der leidvollen Überzeugung, daß der Mann nicht eine Spur christlichen Lebens in seinem tatsächlichen Zustand offenbart. „So sei er dir wie der Heide und der Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein.“ Das ist keine menschliche Übereinkunft. Der Beschluß erhält seine Wirkungskraft dadurch, daß er im Namen des Herrn geschieht (siehe 1. Korinther 5,4!). „Was irgend ihr auf der Erde binden werdet, wird im Himmel gebunden sein, und was irgend ihr auf der Erde lösen werdet, wird im Himmel gelöst sein. Wiederum sage ich euch: Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen werden über irgend eine Sache, um welche sie auch bitten mögen, so wird sie ihnen werden von meinem Vater, der in den Himmeln ist. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte“ (V. 18 – 20). Handelt es sich um Zucht oder um eine Bitte an Gott – der Herr legt den großen Grundsatz nieder, daß, wo zwei oder drei in Seinem Namen versammelt sind, Er in der Mitte ist. Nichts könnte den Schwachen mehr ermutigen. Ich bin überzeugt, daß der Herr den gegenwärtigen Ruin der Kirche im Auge hatte, in dem es wirklich nur noch wenige geben mag, die sich richtig versammeln. Keine Gruppe von Heiligen ist auf diese Weise versammelt, wenn sie sich nicht im Gehorsam gegen das Wort Gottes und nichts anderem zusammenfinden. Ihr Zusammenkommen ist gegründet auf den Willen des Herrn Jesus Christus und verläuft ihm entsprechend. Eine Sekte mag aus gottesfürchtigen Leuten bestehen und bibeltreue Predigt bringen; doch diese Voraussetzungen machen sie nicht zu einer Versammlung Gottes. Sie muß auf der Grundlage des Wortes Gottes und in Unterwürfigkeit unter den Herrn durch die Kraft des Heiligen Geistes stehen, um Versammlung Gottes zu sein.

Jemand mag jetzt fragen: „Willst du damit sagen, daß es Gläubige gibt, die sich auf diesem Boden befinden?“ Darauf kann ich nur antworten: „Was ist mit jenen Christen, die sich völlig auf das Wort Gottes stützen und die unbedingte Gegenwart des Heiligen Geistes in der Versammlung auf der Erde anerkennen? Folgen sie einer Täuschung, indem sie sehr viele Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, um so versammelt zu sein? Ist ihre Handlungsweise nicht töricht, es sei denn, sie sind überzeugt, daß ihr Verhalten den Gedanken Gottes entspricht? Hältst du die Angaben im Wort Gottes über die Zusammenkünfte zur Anbetung oder zur gemeinsamen Belehrung für weniger bedeutungsvoll als die anderen Anweisungen in der Bibel?“ Wenn wir uns nicht durch menschliche Regeln einschränken, besitzen wir keine anderen Vorschriften als das Wort Gottes und uneingeschränkte Freiheit, dieses auszuleben. Doch während wir so vertrauensvoll reden – sollten wir auf der anderen Seite nicht den Platz tiefster Demütigung einnehmen? Wenn Glieder des Leibes Christi da und dort verstreut sind, geziemt uns ausschließlich Demütigung, und zwar nicht nur wegen der Handlungsweise der anderen Christen, sondern auch wegen unserer eigenen. Denn was sind wir für Christus und Seine Versammlung gewesen? Es wäre ungeziemend und falsch, wenn wir uns als die Kirche oder Versammlung bezeichnen wollten. Aber wenn nur zwei oder drei im Namen Christi versammelt sind, sollten sie dann nicht dieselbe Segnung empfangen, als wären die zwölf Apostel unter ihnen? Durch Unglaube und Schwachheit ist die Kirche als Ganzes auf der Erde zerbrochen und zerstreut. Falls hingegen inmitten dieser ganzen Verwirrung zwei oder drei den Glauben haben, nach dem Willen des Herrn zu handeln, dann bleibt für sie das Wort bestehen: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte.“ Alles ist mit dieser herrlichen Wahrheit verflochten. Die Gegenwart Christi gibt ihren Handlungen Wirkungskraft. Wenn die Kirche (Versammlung) zertrümmert ist, dann besteht die Aufgabe jener, die es empfinden, darin, sich vom erkannten Bösen zu trennen. „Lernet Gutes tun, trachtet nach Recht“ (Jesaja 1,17). Wenn alles auseinander fällt, sollen wir zu den ersten Grundsätzen zurückkehren. Das ist die Pflicht eines jeden Christen. Niemals soll er etwas, das er als falsch erkannt hat, fortsetzen. Er ist schon ein Antinomier1, wenn er bewußt das kleinste Übel tut. Falls Menschen meinen, sie dürften in Hinsicht auf den Gottesdienst sündigen, dann betrügen sie sich selbst. „Gott läßt sich nicht spotten!“ (Galater 6,7).

Das Kapitel schließt mit einem weiteren Thema. Petrus sagt zu unserem Herrn: „Wie oft soll ich meinem Bruder, der wider mich sündigt, vergeben? bis siebenmal?“ (V. 21). Wir wurden belehrt, wie wir einem uns persönlich zugefügten Unrecht begegnen sollen. Petrus erhebt eine andere Frage. Angenommen, mein Bruder sündigt immer wieder gegen mich – wie oft soll ich ihm vergeben? Die Antwort lautet: „Nicht sage ich dir, bis siebenmal, sondern bis siebenzig mal sieben“ (V. 22). Im Reich der Himmel – nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Richtschnur des verworfenen Christus – ist die Vergebung unbegrenzt. Wie wunderbar, wenn wir daran denken, daß die Heiligkeit – die höhere Heiligkeit, welche das Christentum offenbart – gleichzeitig mit der größtmöglichen Liebe zusammengehen soll! Das finden wir hier. „Nicht sage ich dir, bis siebenmal [das war Petrus’ Vorstellung von der größten Gnade], sondern bis siebenzig mal sieben.“ Unser Herr besteht darauf, daß die Vergebung in Wirklichkeit keine Grenze kennt. Sie strömt unablässig. Doch denke daran: Die Sünde wird gegen dich begangen; die Person tut dir Unrecht! Wir sollen keine Sünde vergeben, die gegen den Herrn begangen wurde, bevor der Herr sie vergeben hat; und der Herr vergibt erst nach einem Sündenbekenntnis. Ich spreche jetzt nicht von der Gnade, die einem Menschen in seinem unbekehrten Zustand begegnet. Hier geht es um einen Bruder. Wenn ein Mensch bekehrt ist, hat er täglich seine Sünden zu bekennen. Welch elender Zustand der Seele, auf dem täglichen Pfad zu sündigen, ohne es vor Gott zu bringen! Aus unseren Versen sollen wir jedoch etwas anderes lernen, nämlich daß auf die Frage, wie oft wir persönlich zugefügtes Unrecht vergeben sollen, die Antwort lautet: „Bis siebenzig mal sieben.“ Gott wird in Seiner vollkommenen Liebe nie überfordert. Doch sogar ein Mensch auf der Erde ist berufen, nach diesem wahrhaft göttlichen Muster zu vergeben.

„Deswegen ist das Reich der Himmel einem Könige gleich geworden, der mit seinen Knechten abrechnen wollte“ (V. 23). Als Beispiel werden zwei Knechte vor uns gestellt. Der König erließ die Schuld einem von ihnen, der ihm sehr viel schuldete, nämlich zehntausend Talente. Das war eine Summe, die der Knecht praktisch niemals hätte bezahlen können. Darum schenkte der König sie ihm. Der Knecht verließ, nachdem die Schuld getilgt war, den König und traf einen Mitknecht, der ihm hundert Denare schuldete. Das war wirklich ein geringfügiger Betrag im Vergleich zu dem, der ihm gerade erlassen worden war. Trotzdem ergriff er seinen Mitknecht bei der Kehle und sagte: „Bezahle, wenn du etwas schuldig bist“ (V. 28). Der König erfuhr durch die Betrübnis der Mitknechte von dieser Handlung und forderte den Schuldigen vor sich. Was soll uns dies lehren? Es ist ein Gleichnis vom Reich der Himmel und berücksichtigt den Zustand der Dinge auf der Erde, wie er nach dem Willen Gottes besteht. Wir dürfen diesen Grundsatz auf uns selbst anwenden, doch er lehrt uns noch mehr. Wenn wir ein größeres Gesichtsfeld ins Auge fassen, sehen wir in dem Knecht, der die zehntausend Talente schuldet den Juden. Er war von Gott besonders bevorrechtigt und hatte dennoch jene enorme Schuld auf sich geladen, die er niemals bezahlen konnte. Als die Juden ihre Schuld vollgemacht hatten, indem sie den Messias töteten, wurde ihnen eine Botschaft der Vergebung gesandt. „So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden ausgetilgt werden.“ (Apostelgeschichte 3,19). Der Heilige Geist schickte den Juden nachdrücklich eine Botschaft der Buße. Sie brauchten nur Buße zu tun; und ihre Sünden würden ausgelöscht sein. Gott wollte ihnen dann den Messias zurücksenden und „Zeiten der Erquickung“ einführen. Der Heilige Geist beantwortete damit das Gebet unseres Herrn am Kreuz, sodaß Petrus berechtigt war, zu ihnen von Vergebung zu sprechen. „Brüder“, sagte er, „ich weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleichwie auch eure Obersten“ (Apostelgeschichte 3,17), denn der Herr hatte am Kreuz gebetet: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun?“ (Lukas 23,34). So hatte also der Knecht die Botschaft der Vergebung selbst gehört, nahm sie indessen nicht von Herzen an. Statt dessen ging er hinaus und warf seinen Mitknecht für eine vergleichsweise sehr kleine Schuld ins Gefängnis. In dieser Weise handelten die Juden gegen die Nationen. Nachdem sie die Botschaft der Barmherzigkeit für sich selbst verworfen hatten, folgten sie dem Apostel Paulus, wohin immer er ging, um Haß gegen ihn anzufachen. Als der Apostel ihnen sagte, daß er zu den Nationen gesandt worden sei, schrieen sie: „Hinweg von der Erde mit einem solchen!“ (Apostelgeschichte 22,22). Das Würgen des Mitknechts im Gleichnis entspricht dem Haß des Juden gegen den Nichtjuden. So kam alle Schuld, die Gott ihnen vergeben hatte, wieder auf sie zurück. Der Herr sprach zu seinem Knecht: „Böser Knecht! jene ganze Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmt haben, wie auch ich mich deiner erbarmt habe? Und sein Herr wurde zornig und überlieferte ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt habe, was er ihm schuldig war“ (V. 32 – 34).

Zweifellos dürfen wir diese Verse auf eine Einzelperson beziehen, die das Evangelium hört und nicht darauf antwortet. Der Grundsatz gilt auch für jeden bloßen Bekenner des Evangeliums in diesen Tagen, der sich wie ein Weltmensch verhält. Wenn wir das Gleichnis allerdings auf einen umfassenderen, die Haushaltungen berücksichtigenden Boden stellen, müssen wir die Handlungsweise Gottes mit den Juden und Nichtjuden beachten. Die Heiden hatten die Juden tatsächlich häßlich behandelt. Doch was war dies im Vergleich zur Schuld, die Gott letzteren vergeben hatte!? Darum wurde der Jude ins Gefängnis geworfen; und er wird nicht daraus entlassen, bis er alles bezahlt hat. Der Tag eilt heran, an dem der Herr zu Jerusalem sagen wird, daß es aus Seiner Hand Zwiefältiges empfangen habe für alle seine Sünden (Jesaja 40,2). Jehova wird in Seiner Gnade ausrechnen, daß der Leiden Jerusalems mehr als genug seien, und das Blut Christi auf sie anwenden, welches die zehntausend Talente und noch viel mehr aufwiegt. Doch das ungläubige Geschlecht Israels befindet sich im Gefängnis, ohne jemals wieder herauszukommen. Allein der Überrest wird durch die Gnade Gottes freigelassen und vom Herrn zu einer starken Nation gemacht.

Für uns ist dieser erhabene Grundsatz der Vergebung von großem Segen, an den wir uns viel erinnern sollten, insbesondere wenn uns Unrecht geschieht. Mögen wir dann sofort fest auf das blicken, was unser Gott und Vater für uns getan hat! Falls wir angesichts einer solchen Gnade bei den uns zugefügten Nichtigkeiten immer noch hart bleiben, sollten wir daran denken, wie der Herr hier richtet. Manchmal geht ein Mensch eine Zeitlang gut voran. Wenn allerdings kein Leben aus Gott vorhanden ist, vermag ein geringfügiger Umstand seinen wahren Herzenszustand ans Licht zu bringen. Dann wendet er sich von Christus ab und beweist damit, daß in seiner Seele keine Spur von Gnade wohnt. Wo jedoch Leben ist und ein Herz für Christus die Stelle des eigenen Ichs einnimmt, wird diese Warnung Gottes beachtet.

Der Herr möge dafür Sorge tragen, daß Seine Worte für uns nicht vergeblich sind, damit wir uns immer an die überströmende Gnade gegen unsere Seelen erinnern und an das, was Gott von uns erwartet!

Fußnoten

  • 1 Antinomismus = grundsätzliche Gegnerschaft gegen Gesetz und Gesetzlichkeit. Hier: persönliche Ablehnung der Anordnungen Gottes. Kelly spielt wohl auf den Antinomismusvorwurf an, der die sog. „Brüder“ im 19. Jahrhundert aus christlichen Kreisen traf, weil sie die biblische Lehre hinsichtlich des Gesetzes, wie sie im Römerbrief geschildert wird, kompromißlos übernahmen. Der größte Teil der bibeltreuen Christenheit ist bis heute überzeugt, daß das Gesetz, d. h. die Zehn Gebote, als Lebensregel für den Christen von uneingeschränkter Bedeutung sei. (Übs.).
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