Das Buch des Propheten Jeremia

Kapitel 40

Die Verirrung der Hinterbliebenen im Land

Jeremia wird bei den Hinterbliebenen des Volkes gelassen

Die Wahl Jeremias

„Das Wort, das vonseiten des HERRN an Jeremia erging, nachdem Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, ihn von Rama entlassen hatte, als er ihn holen ließ und er mit Ketten gebunden war inmitten aller Weggeführten von Jerusalem und Juda, die nach Babel weggeführt wurden. Und der Oberste der Leibwache ließ Jeremia holen und sprach zu ihm: Der HERR, dein Gott, hat dieses Unglück über diesen Ort geredet; und der HERR hat es kommen lassen und hat getan, wie er geredet hatte; denn ihr habt gegen den HERRN gesündigt und auf seine Stimme nicht gehört, und so ist euch dieses geschehen. Und nun siehe, ich löse dich heute von den Ketten, die an deinen Händen sind; wenn es gut ist in deinen Augen, mit mir nach Babel zu kommen, so komm, und ich werde mein Auge auf dich richten; wenn es aber übel ist in deinen Augen, mit mir nach Babel zu kommen, so lass es. Siehe, das ganze Land ist vor dir; wohin es gut und wohin es recht ist in deinen Augen zu gehen, dahin geh. Und da er sich noch nicht entschließen konnte, sprach er: So kehre zurück zu Gedalja, dem Sohn Achikams, des Sohnes Schaphans, den der König von Babel über die Städte Judas bestellt hat, und wohne bei ihm inmitten des Volkes; oder wohin irgend es recht ist in deinen Augen zu gehen, dahin geh. Und der Oberste der Leibwache gab ihm Wegzehrung und ein Geschenk und entließ ihn. Und Jeremia kam zu Gedalja, dem Sohn Achikams, nach Mizpa; und er wohnte bei ihm inmitten des Volkes, das im Land übrig geblieben war.“ (Jer 40,1–6)

Man ist überrascht, Jeremia hier mitten unter den Gefangenen zu finden, obwohl weiter oben klargestellt wird, dass die Chaldäer ihm die Freiheit gegeben haben (Jer 39,14). Es könnte sein, dass er aus Versehen wieder gefangen genommen wurde (dann würde es sich um eine erneute Prüfung für Jeremia handeln, die von Gott gewollt war). Oder es war so, dass er sich den Gefangenen freiwillig angeschlossen hat. In jedem Fall gehört er, mit Ketten gebunden, zu diesem düsteren Zug, der Richtung Rama zieht. Dort wird er freigelassen. 1

Nebusaradan teilt ihm zunächst mit: „Ihr habt gegen den HERRN gesündigt und auf seine Stimme nicht gehört, und so ist euch dieses geschehen“. Es ist überraschend, solche Worte aus dem Mund eines Ungläubigen zu hören, aber sie sind wahr. Übrigens achteten die Assyrer auf die religiösen Überzeugungen der Völker, die sie bekämpften und bedienten sich ihrer, um so der klassischen Waffen die psychologischen beizugesellen (2. Kön 18,22.32–35). Aber der Oberste der Leibwache, welcher bezüglich Jeremia wohlwollende Anweisungen erhalten hatte, legt ihm, im Alter von etwa 60 Jahren, eine wichtige Entscheidung vor:

  • Entweder nach Babel zu kommen, wo ihn ein unbeschwertes Leben erwarten und wo er vielleicht Daniel treffen werde,

  • oder nicht dorthin zu gehen und sich dahinzuwenden, wo es ihm gut und richtig erschien.

Wenn er nach Babel ginge, würde er sich der Gunst des Königs erfreuen; bliebe er bei dem ungehorsamen Volk, würde er wahrscheinlich abgelehnt werden.

„Und da er sich noch nicht entschließen konnte, sprach Nebusaradan zu ihm: So kehre zurück zu Gedalja ... und wohne bei ihm in der Mitte des Volkes; oder wohin irgend es recht ist in deinen Augen zu gehen, dahin geh.“ Er gibt ihm Vorrat und ein Geschenk und entlässt ihn schließlich (V. 5). So kommt Jeremia zu Gedalja und wohnt bei ihm „inmitten des Volkes, das im Land übrig geblieben war“ (V. 6), dem Volk, das er liebt!

Er erteilt uns somit eine Lektion der Abhängigkeit und der Liebe (1. Mo 13,9). Er will da sein, wohin Gott ihn für seinen Dienst stellen will. Der Prunk von Babel zieht ihn nicht im Geringsten an. Er findet seinen Platz dort, wo er mit den Niedrigen verbunden ist (Röm 12,16).

Die Handlungen Gedaljas und Ismaels

„Und als alle Heerobersten, die auf dem freien Feld waren, sie und ihre Männer, hörten, dass der König von Babel Gedalja, den Sohn Achikams, über das Land bestellt hatte und dass er ihm Männer und Frauen und Kinder und von den Geringen des Landes anvertraut hatte, von denen, die nicht nach Babel weggeführt worden waren, da kamen sie zu Gedalja nach Mizpa: nämlich Ismael, der Sohn Nethanjas, und Jochanan und Jonathan, die Söhne Kareachs, und Seraja, der Sohn Tanchumets, und die Söhne Ophais, des Netophatiters, und Jesanja, der Sohn eines Maakatiters, sie und ihre Männer. Und Gedalja, der Sohn Achikams, des Sohnes Schaphans, schwor ihnen und ihren Männern und sprach: Fürchtet euch nicht, den Chaldäern zu dienen; bleibt im Land und dient dem König von Babel, so wird es euch gut gehen. Und ich, siehe, ich bleibe in Mizpa, um vor den Chaldäern zu stehen, die zu uns kommen werden. Ihr aber, sammelt Wein und Obst und Öl ein und tut sie in eure Gefäße und wohnt in euren Städten, die ihr in Besitz genommen habt. Und auch alle Juden, die in Moab und unter den Kindern Ammon und in Edom und die in allen diesen Ländern waren, hörten, dass der König von Babel einen Überrest in Juda gelassen und dass er Gedalja, den Sohn Achikams, des Sohnes Schaphans, über sie bestellt hatte. Und alle Juden kehrten aus allen Orten zurück, wohin sie vertrieben worden waren, und sie kamen in das Land Juda zu Gedalja nach Mizpa. Und sie sammelten sehr viel Wein und Obst ein. Und Jochanan, der Sohn Kareachs, und alle Heerobersten, die auf dem freien Feld gewesen waren, kamen zu Gedalja nach Mizpa, und sie sprachen zu ihm: Weißt du auch, dass Baalis, der König der Kinder Ammon, Ismael, den Sohn Nethanjas, gesandt hat, um dich zu ermorden? Aber Gedalja, der Sohn Achikams, glaubte ihnen nicht. Und Jochanan, der Sohn Kareachs, sprach heimlich zu Gedalja in Mizpa und sagte: Lass mich doch hingehen und Ismael, den Sohn Nethanjas, erschlagen, und niemand wird es wissen; warum soll er dich ermorden, dass alle Juden, die sich zu dir versammelt haben, zerstreut werden und der Überrest von Juda umkomme? Aber Gedalja, der Sohn Achikams, sprach zu Jochanan, dem Sohn Kareachs: Tu diese Sache nicht, denn du redest eine Lüge über Ismael.“ (Jer 40,7–16)

Gedalja, welcher der Oberste von denen war, die sich den Babyloniern ergeben hatten, ist von dem siegreichen König über das Land bestellt worden. Das war seitens der Chaldäer eine geschickte politische Wahl. Sie dachten, dass die Juden beruhigt wären, wenn sie die Verwaltung ihrer Provinz einem von ihnen anvertraut sähen.

Als die Heerobersten, die auf dem freien Feld waren, das erfahren, treffen sie sich in Mizpa und werden dort von Gedalja ermahnt, sich den Chaldäern gegenüber loyal zu zeigen. Er sagt ihnen: „bleibt im Land und dient dem König von Babel, so wird es euch gut gehen“ (V. 9). Dann ermutigt er sie, den Wein, die Sommerfrüchte und das Öl einzusammeln, welche der HERR in seiner Gnade im Überfluss gegeben hat (V. 10.12). Wie die Ameisen in Sprüche 30,25 ist es ein „Volk ohne Kraft“, das aber von dem HERRN gesegnet ist.

Aber als Jochanan und die Heerobersten kommen, warnen sie Gedalja, dass Baalis, der König der Kinder Ammon (dieses alten Feindes Israels) Ismael geschickt hat, um ihn zu ermorden. Es ist schwierig mit Gewissheit die Gründe für den Komplott von Baalis und Ismael, den Jochanan Gedalja enthüllt, anzugeben: Neid seitens Ismael, der zu der königlichen Linie von David gehörte und die Absicht hatte zu regieren? Ambitionen seitens Baalis, dem König der Kinder Ammon, der dachte, sich Ismaels zu bedienen, um das Land zu annektieren?

Jochanan versucht Gedalja zu überzeugen, dass der Überrest Judas mit seinem Obersten umkommen würde. Er bittet ihn um die Erlaubnis, Ismael heimlich zu erschlagen, aber Gedalja stellt sich ihm entrüstet entgegen. Indem er sich weigert, einen Mord unter dem Vorwand zu begehen, einen anderen zu verhindern, handelt er mit großer Aufrichtigkeit. Aber gleichzeitig mangelt es ihm an Vorsicht (Mt 10,16), indem er sich bezüglich Ismaels nicht an die Wachen hält. Wir dürfen das Böse nicht voraussetzen (1. Kor 13,5), aber Wachsamkeit ist immer notwendig, wenn sich „die reißenden Wölfe“ „im Schafspelz“ zeigen (Mt 7,15; Apg 20,28.29).

Fußnoten

  • 1 Wie es häufig in diesem Buch ist, kann es sein, dass der Bericht des 40. Kapitels nicht der chronologischen Reihenfolge folgt und auf die bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnten Ereignisse zurückkommt. Es ist jedenfalls eindeutig, dass Jeremia von Nebusaradan in dem Gefängnishof in Jerusalem ergriffen wird (Jer 39,14) und auch auf dem Weg nach Rama aus dem Zug der Weggeführten auf der Straße nach Babel weggeholt wird (Jer 40,1).
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