Betrachtung über 1.Thessalonicher (Synopsis)

Kapitel 1

Betrachtung über 1.Thessalonicher (Synopsis)

Nur in den beiden Briefen an die Thessalonicher wird von einer Versammlung gesagt, dass sie „in Gott, dem Vater“, sei, das will sagen, sie war in dieses Verhältnis eingepflanzt, indem sie ihr sittliches Bestehen, die Art ihres Seins, darin hatte. Das Leben der Versammlung entfaltet sich in der Gemeinschaft, die aus diesem Verhältnis hervorging. Der Geist der Sohnschaft kennzeichnete dieses Leben. Mit der herzlichen Zuneigung eines kleinen Kindes kannten die Thessalonicher den Vater. So sagt Johannes, wenn er von den Kindern in Christus redet: „Ich schreibe euch, weil ihr den Vater erkannt habt.“ Es ist die erste Einführung in die Stellung der Freiheit, in die Christus uns versetzt hat – einer Freiheit vor Gott und in Gemeinschaft mit Ihm. Köstliche Stellung, als Kinder verbunden zu sein mit Ihm, der wie ein Vater liebt, mit all der Freiheit und zärtlichen Zuneigung dieses Verhältnisses, und zwar nach göttlicher Vollkommenheit! Denn es handelt sich hier nicht darum, die Erfahrungen Christi als Mensch hienieden auf die Bedürfnisse anzuwenden, in denen Er sie machte (so köstlich diese Gnade auch ist), sondern darum, dass wir eingeführt sind in den unvermischten Genuss des Lichtes und der göttlichen Gefühle, die sich in dem Charakter des Vaters offenbaren. Es handelt sich um unsere zärtliche und vertrauliche, aber auch lautere Gemeinschaft mit Dem, dessen Liebe die Quelle aller Segnungen ist. Auch zweifle ich nicht daran, dass, da die Thessalonicher unmittelbar aus dem Heidentum kamen, Paulus auf ihre Kenntnis des einen wahren Gottes, des Vaters, im Gegensatz zu ihren Götzen, hinweist.

Indem der Apostel (wie es seine Gewohnheit war) das zum Ausdruck bringt, was er hinsichtlich der Thessalonicher fühlte, in welchem Licht sie seinem Herzen und Gemüt erschienen, spricht er weder von Gaben, wie bei den Korinthern, noch von der großen Tatsache der Erhebung des Herrn und aller Heiligen in die himmlischen Örter, wie bei den Ephesern und selbst bei den Kolossern (indem er für die letzteren das hinzufügt, was ihr Zustand erforderte); noch spricht er von der brüderlichen Zuneigung und Gemeinschaft der Liebe, welche die Philipper in ihrer Verbindung mit ihm an den Tag gelegt hatten, noch endlich von einem Glauben, wie er bei den Römern, die er noch nicht gesehen hatte, ohne seine Wirksamkeit vorhanden war, und in dessen Gemeinschaft er sich zu erquicken hoffte, indem er ihm das hinzuzufügen gedachte, was er vermöge seiner reichen Gaben ihnen mitteilen konnte.

In dem ersten Brief an die Thessalonicher finden wir das Leben des Christen selbst in seinen ersten, frischen Eindrücken, in seinen inneren Eigenschaften, wie es sich durch die Kraft des Heiligen Geistes auf der Erde offenbarte – das Leben Gottes hienieden in den Thessalonichern, deren Paulus in seinen Gebeten mit so großer Befriedigung und Freude gedenkt. Drei Haupt-Grundsätze bilden, wie der Apostel den Korinthern sagt (1. Kor 13), das Fundament und bleiben für immer die Grundlage dieses Lebens: Glaube, Hoffnung und Liebe. Nun, diese drei waren die mächtigen und göttlichen Triebfedern des Lebens der Thessalonicher. Dieses Leben war nicht bloß eine Gewohnheit; es entsprang in seiner Tätigkeit nach außen hin der unmittelbaren Gemeinschaft mit seiner Quelle. Die Tätigkeit wurde erweckt und unterhalten durch das göttliche Leben und dadurch, dass das Auge unverrückt auf den Gegenstand des Glaubens gerichtet blieb. In der Versammlung zu Thessalonich gab es Werk und Bemühung und Ausharren. Alle diese Dinge waren nach Offenbarung 2  auch in Ephesus vorhanden. Aber hier in Thessalonich war es ein Werk des Glaubens, eine Bemühung, die durch Liebe hervorgebracht, und ein Ausharren, das durch Hoffnung genährt wurde. Glaube, Hoffnung und Liebe sind, wie wir gesehen haben, die Quellen des Christentums in dieser Welt. Das Werk, die Bemühung und das Ausharren dauerten in Ephesus fort, aber sie hörten auf, durch diese großen und mächtigen Grundsätze gekennzeichnet zu werden. Die Gewohnheit blieb, aber die Gemeinschaft fehlte. Die Gläubigen dort hatten ihre erste Liebe verlassen. Der erste Brief an die Thessalonicher ist der Ausdruck der lebendigen Kraft, in der die Versammlung gepflanzt wurde, Ephesus (in Off 2) dagegen der Ausdruck ihres ersten Abweichens von diesem Zustand.

Möge unser Werk ein Werk des Glaubens sein, der seine Kraft ja sein Bestehen aus unserer Gemeinschaft mit Gott, unserem Vater, schöpft! Möge es jeden Augenblick die Frucht der Verwirklichung dessen sein, was unsichtbar ist, die Frucht des Lebens, das in der Gewissheit, der unumstößlichen Gewissheit des Wortes lebt! Möge es so das Gepräge der Gnade und der Wahrheit tragen, die durch Jesus Christus geworden sind, und ein Zeugnis davon sein! Möge unsere Bemühung im Dienst aus der Liebe hervorgehen und nicht bloß verrichtet werden als eine Pflicht und Schuldigkeit, obwohl sie das ist, wenn wir anders wissen, dass der Dienst uns von Gott zugewiesen ist! Möge das Ausharren, dessen wir bedürfen, um diese Wüste zu durchschreiten, nicht bloß als eine Notwendigkeit gefühlt werden, weil dieser Weg nun einmal vor uns liegt, sondern ein Ausharren sein, das durch die Hoffnung aufrecht gehalten wird, die sich an unser gläubiges Schauen auf Jesum knüpft und die auf Ihn wartet!

Diese drei Grundsätze: Glaube, Hoffnung und Liebe, bilden unseren Charakter als Christen 1; aber dieser Charakter kann und sollte nicht in uns gebildet werden, ohne dass jene drei ihre bestimmten Gegenstände haben. Deshalb stellt der Geist diese Gegenstände hier vor uns. Sie haben einen zwiefachen Charakter: Einerseits ruht das Herz durch Glauben in Jesus, wartet auf Ihn, rechnet auf Ihn und schließt sich Ihm an in seinem Wandel. Er selbst hat hienieden gewandelt, Er vertritt uns im Himmel; Er wacht über uns als der gute Hirte, Er liebt die Seinigen, Er nährt und pflegt sie; unser Glaube und unsere Hoffnung behalten Ihn immer im Auge. Andererseits ist das Gewissen vor Gott, unserem Vater, aber nicht im Geist der Furcht; da ist keine Ungewissheit hinsichtlich unseres Verhältnisses. Wir sind die Kinder eines Vaters, der uns vollkommen liebt; aber wir stehen vor Gott. Sein Licht hat Autorität und Macht in dem Gewissen; wir wandeln in dem Bewusstsein, dass sein Auge auf uns gerichtet ist – freilich in Liebe, aber auf uns gerichtet. Und das Licht macht alles offenbar. Es richtet alles, was die liebliche und friedliche Verwirklichung der Gegenwart Gottes, unsere Gemeinschaft mit Jesus, unser Vertrauen auf Ihn und die Innigkeit des Verkehrs zwischen unseren Seelen und dem Herrn irgendwie schwächen könnte. Diese beiden Grundsätze sind von großer Wichtigkeit für einen dauerhaften Frieden, für das Wachstum unserer Seelen. Ohne sie erschlafft die Seele. Der eine dieser Grundsätze hält das Vertrauen aufrecht, der andere bewahrt uns im Licht mit einem guten Gewissen. Ohne den letzten verliert der Glaube (um nicht mehr zu sagen) seine Lebendigkeit; ohne den ersten wird das Gewissen gesetzlich, und wir verlieren die Kraft, das Licht und die Inbrunst des geistlichen Lebens.

Der Apostel erinnert die Thessalonicher auch an das Mittel, das von Gott angewandt worden war, um diesen gesegneten Zustand hervorzubringen, nämlich das Evangelium, das Wort, welches der Seele in Kraft und in großer Gewissheit gebracht worden war durch den Heiligen Geist. Das Wort hatte Kraft in ihrem Herzen; es kam zu ihm als das Wort Gottes. Der Geist selbst offenbarte sich in ihm, indem Er das Bewusstsein von seiner Gegenwart hervorbrachte; und die Folge davon war die volle Gewissheit der Wahrheit in ihrer ganzen Kraft, in ihrer ganzen Wirklichkeit. Das Leben des Apostels, sein ganzes Verhalten bestätigte das Zeugnis, das er brachte, ja, es bildete einen Teil des Zeugnisses. Demzufolge (und dies ist immer der Fall) entsprach die Frucht seiner Arbeit in ihrem Charakter dem, der gearbeitet hatte: das Christentum der Thessalonicher glich demjenigen des Paulus. Es glich dem Wandel des Herrn selbst, dem Paulus so treu nachfolgte. Es war „in vieler Drangsal“ – denn der Feind konnte ein so klares Zeugnis nicht ertragen, und Gott gewährte einem solchen Zeugnis diese Gnade – und „mit Freude des Heiligen Geistes“. Köstliches Zeugnis für die im Herzen wirkende Kraft des Geistes! Wenn es so ist, dann wird alles ein Zeugnis für andere. Die Menschen sehen, dass es in den Christen eine Kraft gibt, von der sie nichts kennen, Beweggründe, von denen sie keine Erfahrung haben, eine Freude, über die sie spotten mögen, die sie aber nicht besitzen, ein Betragen, das sie straft, und das sie bewundern, obwohl sie es nicht nachahmen, eine Geduld endlich, welche die Ohnmacht des Feindes im Kampf gegen eine Kraft, die alles erträgt, ans Licht stellt und die trotz aller jener feindlichen Anstrengungen mit Freude verbunden ist. Die Menschen müssen sagen: Was soll man mit Leuten machen, die sich töten lassen, ohne dass ihre Freude vermindert wird, ja, die dabei sogar noch freudiger werden? Lassen wir sie in Ruhe, so sind sie über alle unsere Beweggründe erhaben; bedrängen wir sie, so sind ihre Seelen trotz aller unserer Angriffe mit vollkommener Freude erfüllt. Durch Marter werden sie nicht besiegt, indem sie in diesen nur einen Anlass finden, ein noch kräftigeres Zeugnis von der Tatsache abzulegen, dass die Christen außer dem Bereich unserer Macht stehen. Herrscht Ruhe von außen, so ist das ganze Leben ein Zeugnis: Der Tod, selbst unter Folterqualen, ist es noch mehr. – So ist der Christ, bei dem das Christentum in seiner wahren Kraft, in seinem regelrechten Zustand, Gott gemäß, vorhanden ist: Das Wort (des Evangeliums) und die Gegenwart des Heiligen Geistes werden im Leben dargestellt in einer Gott entfremdeten Welt.

So war es bei den Thessalonichern; und die Welt wurde, gegen ihren Willen, ein weiterer Zeuge für die Kraft des Evangeliums. Ein Vorbild für die Gläubigen anderer Orte, waren die Thessalonicher ein Gegenstand der Gespräche und Unterhaltungen für die Welt, die nicht müde wurde, von dieser so neuen und wunderbaren Erscheinung zu reden – von Leuten, die alles aufgegeben hatten, was das Herz des Menschen beherrschte, alles, dem es ergeben war, und die einen einigen, lebendigen und wahren Gott anbeteten, dem übrigens das natürliche Gewissen Zeugnis gab. Die Götter der Heiden waren die Götter der Leidenschaften und nicht des Gewissens. Und das gab der Stellung der Christen und ihrer Religion eine lebendige Wirklichkeit, eine Tatsächlichkeit. Sie erwarteten den Sohn Gottes aus den Himmeln.

Glücklich, fürwahr, waren diese Christen, deren Wandel und ganze Erscheinung die Welt selbst zu einer Zeugin für die Wahrheit machten, die in ihrem Bekenntnis so bestimmt, in ihrem Leben so fest waren, das ein Apostel nicht nötig hatte, von dem zu reden, was er gepredigt hatte und was er unter ihnen gewesen war. Die Welt sprach davon für ihn und für sie.

Ich lasse einige wenige Worte über das Zeugnis selbst folgen, das, so einfach es sein mag, von großer Wichtigkeit ist und Grundsätze von großer sittlicher Tiefe enthält. Es bildet die Grundlage des ganzen Lebens sowie all der christlichen Gefühle, die in diesem Brief zutage treten. Außerdem enthält dieser nur eine besondere Offenbarung über die Umstände (und deren Reihenfolge) bei der Ankunft Christi, um die Seinigen zu sich zu rufen, sowie über den Unterschied zwischen jenem Ereignis und dem Tag des Herrn, an dem Er erscheinen wird, um die Welt zu richten, obwohl dies letztere auf das erstere folgt. Die Worte, mit denen der Apostel das durch den treuen Wandel der Thessalonicher abgelegte Zeugnis schildert, enthalten drei Hauptgegenstände:

  1. Die Gläubigen hatten die Götzenbilder verlassen, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen;
  2. sie erwarteten seinen Sohn, den Er aus den Toten auferweckt hatte, aus den Himmeln;
  3. der Sohn war ein sicherer Schutz vor dem kommenden Zorn.

Eine bedeutungsvolle Tatsache, einfach, aber von unermesslicher Wichtigkeit, kennzeichnet das Christentum. Es gibt uns nämlich einen bestimmten Gegenstand, und dieser Gegenstand ist nichts Geringeres als Gott selbst. Die menschliche Natur mag die Torheit dessen, was falsch ist, wohl einsehen: wir verachten Götzen und geschnitzte Bilder. Aber wir können nicht über uns selbst hinausgehen, wir können uns selbst nichts offenbaren. Einer der berühmtesten Männer des Altertums hat gesagt, dass alles gut gehen würde, wenn die Menschen nur der Natur folgten (es ist offenbar, dass der Mensch sich nicht über sie erheben kann); und er würde tatsächlich recht haben, wenn der Mensch nicht gefallen wäre. Aber von dem Menschen zu fordern, dass er der Natur folgen solle, ist ein Beweis, dass er gefallen ist, dass er sich unter den regelrechten Zustand dieser Natur erniedrigt hat. Er folgt ihr nicht in einem Wandel, der ihrer Beschaffenheit angemessen ist. Alles ist in Unordnung. Der Eigenwille reißt ihn mit sich fort und wirkt in seinen Leidenschaften. Der Mensch hat Gott verlassen und hat die Kraft und den Anziehungspunkt verloren, der ihn und alles in seiner Natur an seinem Platz erhalten würde. Der Mensch kann sich selbst nicht wiederherstellen, er kann sich selbst nicht leiten; denn, getrennt von Gott, ist nur Eigenwille da, der ihn leitet. Es gibt viele Gegenstände, die dem Wirken der Leidenschaften und des eigenen Willens Gelegenheit geben; allein es gibt keinen Gegenstand, der als Mittelpunkt, dem Menschen eine regelmäßige, beständige und dauernde sittliche Stellung in Beziehung zu diesem Gegenstand geben könnte, so dass sein Charakter dessen Gepräge trüge und dessen Wert entspräche. Der Mensch muss entweder einen Mittelpunkt haben, der imstande ist, ihn als geistbegabtes Wesen zu bilden, indem er ihn anzieht und seine Gefühle so in Anspruch nimmt, dass dieser Gegenstand sich in ihm abspiegelt, oder er muss im Eigenwillen handeln, und dann ist er der Spielball seiner Leidenschaften, oder als notwendige Folge der Sklave eines jeden Gegenstandes, der von seinem Willen Besitz nimmt. Ein Geschöpf, ein geistbegabtes Wesen, kann nicht bestehen, ohne einen Gegenstand zu haben. Nur Gott kann Sich selbst genügen.

Das Gleichgewicht, das in dem Fehlen des Bewusstseins von gut und böse vorhanden war, ist verloren gegangen. Der Mensch wandelt nicht mehr als ein Mensch, in dessen Gedanken es nichts gibt, was außerhalb seines regelrechten Zustandes liegt, außerhalb dessen, was er einst besaß; damals hatte er keinen Willen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, er hatte einen Willen, der nichts anderes wünschte, als was er besaß, der aber dankbar sich alles dessen erfreute, was bereits seiner Natur angemessen war, und besonders der Gesellschaft eines ihm gleichen Wesens, einer Hilfe, die seine eigene Natur besaß und die seinem Herzen entsprach – indem er zugleich Gott für alles dankte.

Jetzt will der Mensch. Weil er das, was den Bereich seines Genusses bildete, verloren hat, gibt es in ihm eine Tätigkeit, die sucht, die unfähig geworden ist zu ruhen, ohne nach etwas Weitergehendem zu streben – eine Tätigkeit, die schon als Wille sich in einen Bereich versetzt hat, den sie nicht ausfüllt, in dem ihr die Einsicht mangelt, um alles zu erfassen, was da ist, sowie die Kraft, um gerade das, was sie wünscht, zu verwirklichen. Der Mensch und alles, was einst sein eigen war, genügt ihm nicht mehr zum Genuss. Er bedarf noch eines Gegenstandes. Dieser Gegenstand wird entweder über oder unter dem Menschen stehen. Steht er unter ihm, so erniedrigt der Mensch sich unter sich selbst, und diese Erniedrigung ist in der Tat eingetreten. Er lebt sogar nicht mehr der Natur entsprechend (wie jener Mann wollte, dessen Ausspruch ich vorhin angeführt habe), ein Zustand, den der Apostel im Anfang des Römerbriefes mit allen Gräueln wahrheitsgemäß beschrieben hat. Steht dieser Gegenstand über ihm und unter Gott, so gibt es noch nichts, um seine Natur zu beherrschen, nichts, was ihn in sittlicher Hinsicht an seinen Platz stellt. Ein gutes Wesen könnte nicht den Platz zwischen ihm und Gott einnehmen, um Gott davon auszuschließen. Erlangt aber ein böses Wesen den Platz, so wird dieses dem Menschen zu einem Gott, der den wahren Gott ausschließt und den Menschen in seiner höchsten Beziehung erniedrigt, und das ist die schlimmste aller Erniedrigungen. Auch das hat stattgefunden. Weil nun diese bösen Wesen bloß Geschöpfe sind, so können sie den Menschen nur beherrschen durch das, was besteht, und durch das, was auf ihn wirkt, d. h. sie sind die Götter seiner Leidenschaften. Sie erniedrigen die Vorstellung von der Gottheit; sie erniedrigen das praktische Leben der Menschheit zu einer Sklaverei der Leidenschaften (die niemals befriedigt werden und die Böses ersinnen, wenn sie durch das, was ihnen natürlich ist, übersättigt sind), und so bleiben sie ohne Hilfsmittel. Das war in Wirklichkeit der Zustand des Menschen unter dem Heidentum.

Der Mensch, und vor allem der Mensch, der die Erkenntnis des Guten und Bösen hat, sollte Gott zu seinem Gegenstand haben, und zwar zu einem Gegenstand, der in seinem Herzen mit Freuden aufgenommen, und gegen den seine Liebe ausgeübt werden kann; anders ist er verloren. Das Evangelium (das Christentum) hat ihm diesen Gegenstand gegeben. Gott, der alle Dinge erfüllt, der die Quelle und der Mittelpunkt aller Segnung, alles Guten ist – Gott, der ganz Liebe ist, der alle Macht besitzt, der alles in seiner Erkenntnis umfasst, weil alles (ausgenommen die Abtrünnigkeit von Ihm) nur die Frucht seines Herzens und Willens ist – Gott hat sich in Christus dem Menschen offenbart, damit sein Herz, mit vollkommenem Vertrauen auf seine Güte, sich mit Ihm beschäftige, Ihn kenne, seine Gegenwart genieße und seinen Charakter widerspiegele.

Die Sünde und das Elend des Menschen haben nur Anlass gegeben zu einer unendlich vollkommeneren Offenbarung dessen, was Gott ist, und der Vollkommenheit seiner Natur in Liebe, in Weisheit und in Macht. Doch wir betrachten hier nur die Tatsache, dass Er Sich selbst dem Menschen zu einem Gegenstand gegeben hat. Doch wenn auch das Elend des Menschen nur Gelegenheit gegeben hat zu einer um so bewunderungswürdigeren Offenbarung Gottes, musste Gott selbst doch einen Gegenstand haben, der seiner würdig war, um den Mittelpunkt seiner Ratschlüsse zu bilden und um sein ganzes Herz offenbaren zu können. Dieser Gegenstand ist die Herrlichkeit seines Sohnes – es ist sein Sohn selbst. Ein Wesen von einer niedrigeren Natur hätte das nicht für Ihn sein können, obwohl Gott sich in seiner Gnade an einem solchen Wesen verherrlichen kann. Der Gegenstand der Liebe und die Liebe, die hinsichtlich dieses Gegenstandes tätig ist, müssen notwendigerweise einander entsprechen. So hat Gott seine unumschränkte und unermessliche Gnade hinsichtlich dessen offenbart, was am elendsten, unwürdigsten und hilfsbedürftigsten war; aber die ganze Majestät seines Wesens, die ganze Herrlichkeit seiner Natur hat Er in Verbindung mit einem Gegenstand entfaltet, in dem Er seine ganze Wonne finden und alles, was Er in der Herrlichkeit seiner Natur ist, an den Tag legen konnte. Aber dieser Gegenstand der Wonne Gottes, des Vaters, hat als Mensch – wunderbare Wahrheit in den ewigen Ratschlüssen Gottes – Seinen Platz genommen in dieser herrlichen Offenbarung, durch die Gott sich Seinen Geschöpfen bekannt macht. Gott hat den Menschen hierzu verordnet und zubereitet. So kennt das durch den Geist unterwiesene Herz Gott als offenbart in dieser unermesslichen Gnade, in der Liebe, die von dem Thron Gottes herniedersteigt zu dem Verderben und dem Elend des Sünders. In Christus befindet er sich in der Erkenntnis und in dem Genuss der Liebe, die Gott zu Christus, dem Gegenstand seiner ewigen Wonne, hat, zu Ihm, der würdig ist, dies zu sein – in dem Genuss der Mitteilungen, durch die Er von dieser Liebe Zeugnis gibt (Joh 17,7+8), und schließlich hat er teil an der Herrlichkeit, die der öffentliche Beweis dieser Liebe vor dem Weltall ist. Dieser letzte Teil unserer unaussprechlichen Segnung ist der Gegenstand der Mitteilungen Christi am Schluss des Evangeliums Johannes (Joh 14; Joh 16 und besonders Joh 17) 2

Sobald ein Sünder bekehrt wird und dem Evangelium glaubt und (um seinen neuen Stand vollständig darzustellen, muss ich das hinzufügen) versiegelt ist mit dem Heiligen Geist – von diesem Augenblick an ist er (da ja der hochgelobte Herr die Erlösung bewirkt hat) dem Grundsatz seines Lebens nach in diese Stellung, in dieses Verhältnis zu Gott eingeführt. Er ist vielleicht nur ein Kind; aber der Vater, den er kennt, die Liebe, die sein Teil geworden ist, der Heiland, zu dem er aufschaut, sind dieselben, die er genießen wird, wenn er einmal erkennen wird, wie er erkannt ist. Er ist ein Christ; er ist von den Götzenbildern zu Gott bekehrt, um den Sohn Gottes aus den Himmeln zu erwarten. Beachten wir, dass es sich hier nicht um die Macht handelt, die bekehrt, noch um die Quelle des Lebens; davon reden andere Stellen klar und deutlich. Hier ist die Rede von dem Charakter des Lebens, wie es sich offenbart, und dieser hängt von den Gegenständen desselben ab. Das Leben äußert seine Tätigkeit und entfaltet sich in Verbindung mit seinen Gegenständen und wird dadurch charakterisiert. Die Quelle, aus der das Leben fließt, macht es fähig, dieselbe zu genießen; aber ein inneres Leben, das keinen Gegenstand hat, von dem es abhängt, ist nicht das Leben eines Geschöpfes. Ein solches Leben ist das Vorrecht Gottes. Das stellt die Torheit derer ans Licht, die, wie sie sagen, ein subjektives Leben haben möchten, ohne dass es einen bestimmten objektiven Charakter hat; denn dieser subjektive Zustand hängt von dem Gegenstand ab, mit dem es beschäftigt ist. Es ist das charakteristische Kennzeichen Gottes, dass Er die Quelle seiner eigenen Gedanken ist, ohne einen Gegenstand zu haben; dass Er ist und Sich selbst genügt (weil Er die Vollkommenheit und der Mittelpunkt und die Quelle von allem ist) und sich Gegenstände schafft, falls Er solche außer sich haben will. Mit einem Wort, obwohl der Mensch ein Leben von Gott empfängt, das fähig ist, Ihn zu genießen, kann doch sein sittlicher Charakter nicht in ihm gebildet werden ohne einen Gegenstand, der ihm diesen Charakter verleiht.

Nun, Gott hat Sich selbst uns zum Gegenstand gegeben und sich in Christus offenbart. Wenn wir uns mit Gott, so wie Er in Sich selbst ist, beschäftigen (angenommen dass Er sich so offenbart hätte), so ist dieser Gegenstand zu unermesslich. Gott also zu kennen wäre allerdings eine unendliche Freude; aber in dem, was einfach unendlich ist, fehlt etwas für ein Geschöpf, obwohl es sein höchstes Vorrecht ist, sich des Unendlichen zu erfreuen. Einerseits ist diese Freude für den Menschen notwendig, damit er an seinem Platz sei und Gott den Seinigen in Bezug auf ihn habe; und andererseits ist sie das, was ihn so wunderbar erhöht. Es muss so sein; auch ist sie das uns gegebene, und zwar in einer unschätzbaren, innigen Vertraulichkeit uns gegebene Vorrecht, denn wir sind Kinder, und wir bleiben in Gott, und Gott in uns; aber bei alledem liegt in dem Gedanken an Gott allein etwas Niederdrückendes für das Herz. Wir lesen von „einem über die Maßen überschwänglichen, ewigen Gewicht 3 von Herrlichkeit“. Es kann nichts anderes sein: Seine Majestät, seine Autorität über das Gewissen müssen aufrecht gehalten werden, wenn wir an Ihn als Gott denken. Das Herz – Gott hat es so gebildet – muss einen Gegenstand haben, der seine Gefühle nicht erniedrigt, der aber zugleich den Charakter eines Gefährten und Freundes hat, oder zu dem es wenigstens in diesem Charakter Zugang hat.

Nun, das ist es, was wir in Christus, unserem teuren Heiland, besitzen. Er ist ein Gegenstand, der uns nahe ist; Er schämt sich nicht, uns Brüder zu nennen. Er hat uns Freunde genannt: alles, was Er von seinem Vater gehört hat, hat Er uns kundgetan. Werden denn durch Ihn unsere Augen von Gott abgelenkt? Im Gegenteil; in Ihm ist Gott offenbart, in Ihm wird sogar Gott von den Engeln gesehen. Er offenbart uns, indem Er im Schoß des Vaters ist, seinen Gott und Vater in diesem lieblichen Verhältnis, und so, wie Er selbst Ihn kennt. Und nicht allein das, sondern Er ist in dem Vater und der Vater in Ihm, so dass der, der Ihn gesehen, den Vater gesehen hat. Er offenbart uns Gott, anstatt uns von Ihm abzulenken. In Gnade hat Er Ihn schon offenbart, und wir warten auf die Offenbarung der Herrlichkeit in Ihm. Schon auf der Erde priesen auch die Engel, von dem Augenblick seiner Geburt an, das Wohlgefallen Gottes an den Menschen; denn der Gegenstand seiner ewigen Wonne war ein Mensch geworden. Und nun hat Er das Werk vollbracht, das die Einführung anderer, die Einführung von Sündern mit Ihm in den Genuss dieser Gunst Gottes ermöglicht. Einst Feinde, „sind wir nun mit Gott versöhnt durch den Tod seines Sohnes“. Gott hat uns mit Sich selbst versöhnt. Indem wir nun durch den Glauben Gott kennen, „bekehren wir uns von den Götzenbildern, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn aus den Himmeln zu erwarten“. Der lebendige und wahre Gott ist der Gegenstand unseres freudigen Dienstes. Sein Sohn, den wir kennen und der uns kennt, der uns da haben will, wo Er selbst ist, der uns mit seiner eigenen Herrlichkeit und seine Herrlichkeit mit uns vereinigt hat – Er, der für immer ein verherrlichter Mensch und der Erstgeborene unter vielen Brüdern ist, ist der Gegenstand unserer Erwartung. Wir erwarten Ihn aus den Himmeln, denn dort sind unsere Hoffnungen, dort ist die Stätte unserer Freude. Wir haben die Unendlichkeit eines Gottes der Liebe, die innige Vertraulichkeit und die Herrlichkeit Dessen, der an allen unseren Schwachheiten teilgenommen und, ohne Sünde, alle unsere Sünden getragen hat. Welch ein Teil besitzen wir!

Es gibt aber noch eine andere Seite der Wahrheit. Geschöpfe sind verantwortlich; und wie groß Gottes Liebe und Geduld auch sein mögen, Er kann doch weder das Böse noch die Verachtung seiner Autorität zulassen; wenn Er es täte, würde alles in Verwirrung und Elend enden. Gott selbst würde seinen Platz verlieren. Es gibt ein Gericht; es gibt einen kommenden Zorn. Wir waren verantwortlich; wir haben gefehlt. Wie können wir nun Gott und den Sohn in der vorhin angeführten Weise genießen? Hier kommt die dritte Wahrheit, von welcher der Apostel spricht, zur Anwendung: „der uns errettet von dem kommenden Zorn“. Das Werk Christi hat uns vollkommen vor diesem Zorn in Sicherheit gebracht; Er nahm unseren Platz der Verantwortlichkeit auf dem Kreuz ein, um die Sünde durch sein Opfer für uns hinweg zu tun.

Das sind also die drei großen Elemente des christlichen Lebens: wir dienen dem lebendigen und wahren Gott, indem wir unsere äußeren und inneren Götzen verlassen haben; wir erwarten Jesum, um mit Ihm in die Herrlichkeit einzugehen, denn diese Erkenntnis, die wir von Gott haben, lässt uns fühlen, was diese Welt ist, und wir kennen Jesum; was endlich unsere Sünden und unser Gewissen betrifft, so sind wir vollkommen gereinigt, wir fürchten nichts. Das Leben und der Wandel der Thessalonicher waren ein Zeugnis für diese Wahrheiten.

Fußnoten

  • 1 Sie werden in den Schriften Pauli öfter gefunden als man meint; so in 1. Thes 5,8 und in Kol 1,4.5. In 2. Thes 1,3 haben wir Glauben und Liebe, aber hinsichtlich der Hoffnung bedurften die Gläubigen der Aufklärung.
  • 2 Vergleiche Spr 8,30.31 und Lk 2,14, wo wir lesen: „an den Menschen ein Wohlgefallen“. Es ist schön zu sehen, wie die Engel dies ohne Eifersucht feierlich verkündigen. Die in Gnade nach unten gerichtete Liebe ist groß, entsprechend dem Elend und der Unwürdigkeit ihres Gegenstandes; die als Zuneigung der Seele nach oben gerichtete Liebe entspricht der Würdigkeit ihres Gegenstandes; beides sehen wir in Christus in Eph 5,2. In beiden Beziehungen ist in Christus das eigene ich gänzlich aufgegeben. Er gab, nicht suchte, Sich selbst. Das Gesetz nimmt das eigene Ich als Maßstab gegenüber dem Nächsten und setzt voraus, dass dieser auf demselben Boden stehe. Da gibt es keine nach unten gerichtete Liebe.
  • 3 Gewicht und Herrlichkeit sind ein und dasselbe Wort im Hebräischen: Cabod.
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