Botschafter des Heils in Christo 1886
Gibt es einen Gnadenstuhl für den Gläubigen?
Man begegnet unter den Gläubigen nicht selten dem Gedanken, als ob der Gnadenstuhl die Zufluchtsstädte der Kinder Gottes inmitten ihrer Prüfungen und Schwierigkeiten bilde. Aber ist dieser Gedanke richtig und der Schrift entsprechend? Nur zweimal, so viel wir wissen, kommt jener Ausdruck im Neuen Testament vor, nämlich in Römer 3,25 und in Hebräer 9,5. In der letzten Stelle wird der Gnadenstuhl (oder Versöhnungsdeckel) jedoch nur als ein Teil der heiligen Ausrüstung des Allerheiligsten erwähnt, weshalb nur die erste der beiden Stellen hier in Betracht kommen kann. Werfen wir daher einen Blick auf die Worte des Apostels in Römer 3. Der Zusammenhang zeigt uns sofort, dass es sich hier nicht um den Gläubigen, sondern um den Sünder handelt. „Alle haben gesündigt“, sagt der Apostel, „und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes und werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade, durch die Erlösung, die in Christus Jesus ist; welchen Gott dargestellt hat zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben an sein Blut, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit wegen des Hingehenlassens der vorher geschehenen Sünden unter der Nachsicht Gottes; zur Erweisung seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit, dass Er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist.“ Das will sagen: Nachdem alle gesündigt haben und hoffnungslos verloren sind – der Apostel hat vorher bewiesen, dass aus Gesetzes Werken kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt werden kann – rechtfertigt Gott den Sünder jetzt umsonst und freiwillig auf Grund des vollbrachten Werkes Christi. So wie es im Alten Bunde einen Gnadenstuhl im Heiligtum gab, auf welchem Sühnung getan wurde für die Sünde des Volkes, so ist jetzt Christus von Gott gleichsam als Gnadenstuhl vor den Sünder hingestellt; er ist nicht mehr verborgen hinter dem Vorhang, sondern der Zugang ist einem jeden Sünder frei geöffnet. Das Blut der Versöhnung ist auf dem Gnadenstuhl vor dem Angesicht Gottes; und wenn jetzt ein Sünder im Glauben naht, indem er dem Zeugnis Gottes über die Wirksamkeit des Blutes Christi Vertrauen schenkt, so ist Gott nur gerecht, wenn Er ihn rechtfertigt. Es ist hier also ohne Zweifel der Sünder, welcher dem Gnadenstuhl naht, und der, wenn er so naht, zur Verherrlichung der überströmenden Gnade Gottes die Entdeckung macht, dass durch den Wert des Blutes, welches dort gleichsam vor den Augen Gottes gesprengt ist, alle seine Sünden für immer hinweggetan sind. Und wir erinnern den Leser daran, dass dies die einzige Stelle ist, welche von dem Gnadenstuhl als einem Ort des Hinzunahens redet.
Indes möchte eingewandt werden: Das Gesagte ist völlig wahr; aber es ist doch auch eine Tatsache, dass Aaron jedes Jahr an dem großen Versöhnungstag in das Allerheiligste hineinging, um Sühnung zu tun. Rechtfertigt das nicht unseren Gebrauch jenes Ausdrucks? – Nein, gewiss nicht; denn warum musste Aaron immer wieder vor dem Gnadenstuhl erscheinen und immer von neuem, das Blut sprengen? Weil es, wie uns Hebräer 10 belehrt, unmöglich war, dass Stier– und Bocksblut Sünden hinwegnehmen konnten. Insoweit also Christus „durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht hat, die geheiligt werden“, ist das Bedürfnis nach einem Gnadenstuhl nicht mehr vorhanden. Der Gnadenstuhl ist für den Sünder. Was aber bleibt für den Gläubigen? Der Thron der Gnade! Zu diesem sollen wir allezeit nahen mit Gebet und Flehen und Danksagung. „Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zu dem Thron der Gnade, auf dass wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe“ (Heb 5,16).