Botschafter des Heils in Christo 1886
Geheimnisse unter der Sonne
Es gibt Geheimnisse unter der Sonne, die schon manchen in Verwirrung gebracht oder gar zum Murren veranlasst haben. Da ist ein Gerechter, der in seiner Gerechtigkeit umkommt, nicht selten auf eine schreckliche Weise, während ein Gottloser bis ins hohe Alter hinein in Gesundheit und Wohlergehen lebt. Eine gottesfürchtige Mutter wird plötzlich aus einem großen Familienkreise herausgerissen, während ein einsamer Greis, der sich selbst und anderen zur Last ist, leben bleibt. Dem Gottlosen geht es gut; seine Unternehmungen gelingen; er vermehrt sein Vermögen und lebt in Ruhe und äußerem Glück, während der Gerechte oft in Armut und Kummer, in Krankheit und Elend seine Tage dahinschleppt. Wahrlich, wenn wir daran denken, ohne unser Auge nach oben zu richten, dann verstehen wir die Klage Asafs: „Fürwahr, vergebens habe ich mein Herz gereinigt und in Unschuld gewaschen meine Hände!“ (Ps 73) Doch er hatte geurteilt wie ein unvernünftiges Tier. Er hatte nur auf die Dinge unter der Sonne gesehen, anstatt seinen Blick nach oben und auf die Zukunft zu richten. Sobald er das tat, waren die Stürme in seinem Innern gestillt, und er war zufrieden mit seinem Los.
Wir lesen in Psalm 77: „Gottes Weg ist im Meer, und seine Pfade in großen Wassern, und seine Fußstapfen sind nicht bekannt.“ Das Wie und Warum dessen, was auf Erden geschieht, teilt Er uns nicht mit. Warum uns dieses und jenes trifft, was uns Leid und Kummer bereitet, wird uns höchst selten hienieden kundgetan. Der Herr „gibt über all sein Tun keine Antwort“ (Hiob 33,13). Es ist heute noch nicht die Zeit für die Auflösung von Rätseln und Geheimnissen. Diese Zeit wird kommen und zwar bald kommen, wenn wir eingehen werden in das vollkommene Licht des Vaterhauses droben. Dann werden wir erkennen, wie wir erkannt sind.
In dem soeben angeführten Psalm lesen wir aber auch: „Gott! Dein Weg ist im Heiligtum; wer ist ein großer Gott, wie Gott?“ Gott weiß, weshalb und zu welchem Zweck Er alles tut. Er kennt das Ende eines jeden Weges von Anfang an. Es geschieht nichts ohne den Willen und die Zulassung des Herrn, und Er lässt aus dem Bösen Gutes hervorkommen. Über das Wie und Wann können wir uns allerdings keine Rechenschaft geben; das ist Ihm allein bekannt. Aber sicher ist es, dass alle Dinge denen zum Guten mitwirken müssen, die nach Gottes Vorsatz berufen sind; und ebenso sicher ist es, dass jede Glaubensprobe einmal, in der Offenbarung Jesu Christi, zum Lob, zur Herrlichkeit und Ehre Gottes beitragen wird (1. Pet 1,7). Sicher ist es, dass „das Pressen der Milch Butter gibt“ (Spr 30,33), und dass die Züchtigung uns seiner Heiligkeit teilhaftig macht. Wer daher des Herrn Weg kennen will, muss in das Heiligtum gehen. Nicht unter, sondern über der Sonne ist die Auflösung der Rätsel. Sobald Asaf „in die Heiligtümer Gottes hineinging“, war er geheilt von seiner Niedergeschlagenheit und seinem Neid, und er konnte Gott loben und preisen. Denn in diesen Heiligtümern lernte er, dass die Gottlosen, mögen sie es auch noch so gut haben unter der Sonne, einmal ein Ende mit Schrecken nehmen werden; während die Gerechten, was auch ihr Los und Ende hienieden sein mag. „nachher in Herrlichkeit aufgenommen werden.“
Wie treffend und schön wird uns das Ende des Gerechten und des Gottlosen in der Geschichte des reichen Mannes und des armen Lazarus vorgestellt! Der Reiche, der jeden Tag fröhlich und in Pracht gelebt hatte, schlug seine Augen auf in der Qual; während Lazarus, der hienieden nichts als Leiden, Elend und Kummer gefunden hatte, von den Engeln getragen wurde in Abrahams Schoß. Dies ist, abgesehen von den Ausnahmen, die es ja gewiss gießt, die allgemeine Regel hienieden: die Gottlosen haben Glück und Wohlergehen, die Gerechten Kummer und Not. Aber das Ende wird für die Gerechten herrlich und für die Gottlosen schrecklich sein. Der Prediger, der uns lehrt: „Ein Geschick trifft den Gerechten und den Gesetzlosen, den Guten und den Reinen und den Unreinen, ... den Guten wie den Sünder“, sagt auch: „die Gerechten und die Weisen und ihre Werke sind in der Hand Gottes“ (Pred 9,1–2). Herrlicher Trost! Was auch geschehen mag, wie groß das Ölend der Gerechten und wie schmerzlich ihr Ende auch hienieden sein mag – keine Umstände vermögen die Liebe Gottes zu verändern; sie stehen mit ihren Werken in der Hand Gottes, und ihr Ende droben wird sicher ein herrliches und seliges sein.