Botschafter des Heils in Christo 1886

Die Furcht des Herrn

Es ist eine ernste Wahrnehmung, dass Satan zu allen Zeiten gesucht hat, das Werk und Zeugnis Gottes auf Erden zu schwächen und zu verderben; und besonders begegnen wir dieser Wirksamkeit des Bösen in der Geschichte der christlichen Kirche von Beginn ihres Bestehens an. Als in Jerusalem die Gläubigen ein Herz und eine Seele waren und alles gemein hatten, da „erfüllte Satan das Herz“ des Hananias und der Saphira, den Heiligen Geist zu belügen und von dem Kaufpreis des Feldes beiseite zu schaffen (Apg 5). Gott griff ein und entfernte beide durch den Tod. Bald auch, nachdem der Herr den guten Samen auf seinen Acker gesät hatte, kam „der Feind“ und säte, während die Menschen schliefen, Unkraut unter den Weizen (Mt 13). Dann, nachdem die Welt und die Kirche durch die List des Feindes eine unheilige Verbindung eingegangen waren, sehen wir, wie sich die Augen der Gläubigen immer mehr verdunkelten und ihre Herzen gegen das Wort Gottes zuletzt ganz gleichgültig wurden. Die Wahrheit von dem vollkommenen, gegenwärtigen Heil in Christus, von der hohen himmlischen Berufung der Gläubigen, von ihrer Einheit mit Christus, von ihrer Stellung in Ihm verschwand unter dem Schutt menschlicher Überlieferungen und der eitlen Lehren des Aberglaubens. Anstatt danach zu fragen, was Gott redete und lehrte, ergab man sich blind dem Aberglauben und wandte sich, von Satan ungehindert, dem eigenen Tun in menschlicher Heiligkeit und gesetzlicher Gerechtigkeit zu.

Da ließ Gott im Zeitalter der Reformation sein Wort aufs Neue kund und offenbar werden, und viele erfuhren an ihren Herzen, dass Gottes Wort weise macht zur Seligkeit. Sie fanden, gerechtfertigt aus Glauben, Frieden mit Gott und priesen die Gnade in Christus. Was geschah aber bald? Damit die Wahrheit von der Rechtfertigung aus Glauben verlästert werde, betörte der Versucher die Herzen der Unachtsamen, dass sie nicht die Treue des Wandels für wichtig hielten, sondern, stolz auf „die reine Lehre“, gleichgültig wurden gegen das praktische Leben, auf welches man vordem äußerlich mehr geachtet, aber dabei sich gegen Gottes Wort und Lehre gleichgültig erwiesen hatte. Manches gottesfürchtige Herz während und nach der Reformationszeit brach über das ungöttliche Leben der Masse der evangelischen Bekenner in bittere Klagen aus.

Nachdem nun Gott in unserem Jahrhundert größere Gnade gegeben und in gewissem Sinn ein noch größeres, wenn auch stilleres Werk getan hat, als im Reformationszeitalter, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir aufs Neue die listigen Anläufe Satans erfahren und neue Gefahren entdecken. Welch eine hohe Gnade, dass Gott so vielen der Seinen wiederum aus seinem Wort gezeigt hat, was seine Ratschlüsse sind, sowohl in Bezug auf die Kirche, als auch auf das kommende Reich: was erstere ist als die Behausung Gottes im Geist und als der Leib Christi, und auch was die Zukunft seines irdischen Volkes ist. Wie gesegnet ist es, dass die Wahrheit von der Einheit der Gläubigen mit dem gestorbenen, aber auch auferstandenen und verherrlichten Christus, dem Bräutigam der Braut, wieder von so vielen Erlösten verstanden und genossen wird! Gewiss gereicht es zum Ruhm Gottes, dass von neuem Tausende von Christen, so wie in den ersten Tagen der Christenheit, sich einfach als Gläubige im Namen Jesu versammeln und, wie in jener Zeit, begehren, „zu verharren in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft, im Brechen des Brotes und in den Gebeten“ (Apg 2,42 und 20,7), indem sie in dem Bewusstsein, frei zu sein von Schuld und Strafe, frei von Sünde, Tod und Gericht, den Vater anbeten durch Jesus Christus im Geist und in der Wahrheit. Auch hat der Herr, „der die Schlüssel Davids hat, der da öffnet und niemand schließt“, diesem schwachen Zeugnisse in unseren Tagen die besondere Gnade verliehen, dass ihm im großen Ganzen der Schutz der Obrigkeit und alle Ruhe von außen zuteilwird.

Aber nun entsteht die Frage, ob wir in dieser Ruhe und Stille, frei von Verfolgung und öffentlicher Bedrückung, in Wahrheit praktisch ein Leben führen „in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit?“ (1. Tim 2,2) Ach, die Überzeugung ernster Herzen ist die, dass hierin viel von uns gefehlt wird. Die Ruhe, welche wir genießen, die uns gegeben worden, damit wir dankbar und fleißig im Wort und Dienst sein sollten, hat uns im Gegenteil vielfach träge und weltförmig gemacht. Wohl ist uns Gott auf schmerzlichem Weg zu Hilfe gekommen und hat durch Druck und Not in der Geschäftswelt hie und da wieder mehr Ernst und Absonderung hervorgerufen; aber die Wirksamkeit des Feindes, welche dahin zielt, das Zeugnis von der himmlischen Berufung und Stellung der Kirche zu verderben und, wenn möglich, hinweg zu tun, macht sich mehr und mehr fühlbar. Das Bewusstsein von unserer ernsten Verantwortlichkeit gegenüber den empfangenen Vorrechten und Segnungen ist bei vielen nur noch schwach vorhanden, ebenso die praktische Dankbarkeit und Erkenntlichkeit. Mit einem Wort, man könnte wohl sagen: die Hauptgefahr für das Zeugnis unserer Tage liegt darin, dass die Furcht des Herrn in der Mitte der Heiligen abnimmt. Der Herr wolle in seiner Gnade eine lautere Gesinnung in allen den seinigen erwecken, dass wir in der Kraft seines Geistes „züchtig und gottselig leben in dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf“ und „Ihm wohlgefällig dienen mit Frömmigkeit und Furcht!“ (Heb 12,28)

Fragen wir denn zunächst: Was ist die Furcht des Herrn? – Der Apostel Johannes schreibt: „Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf dass wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts, dass, gleich wie Er ist, auch wir sind in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe“ (1. Joh 4,17–18). Die Furcht des Herrn, in welcher zu wandeln wir so oft ermahnt werden, ist also nicht jene knechtische Furcht vor „dem Tag des Gerichts“, in welcher leider viele unbefestigte Herzen zur Unehre Gottes und zu ihrem eignen Nachteile zeitlebens befangen bleiben. Wer die Liebe kennt, „die Gott zu uns hat“, wer in der gesegneten Tatsache ruht, dass „Gott seinen Sohn für uns gegeben hat als eine Sühnung für unsere Sünden“ (1. Joh 4,9–10.14.16), in dem ist die Liebe Gottes vollendet; er hat „Freimütigkeit auf den Tag des Gerichts“ und „Freimütigkeit zum Eintritt in das Heiligtum (d. h. in die Gegenwart Gottes) mit wahrhaftigem nicht (zweifelndem, sondern völlig überzeugtem) Herzen, in voller Gewissheit des Glaubens“ (Heb 10,19–22). Der wahre und einsichtsvolle Christ wird in kindlichem Glaubensgehorsam anbetungsvoll anerkennen, dass Gott ihn „begnadigt hat in dem Geliebten“ und ihn schon „hat mitsitzen lassen in den himmlischen Örtern in Christus Jesus“ (Eph 1,6 und 2,6), dass er und mit ihm alle Gläubigen geliebt sind, gleich wie der eingeborene Sohn (Joh 15,9 und 17,23), dass „wir die Gerechtigkeit Gottes“ sind in Christus (2. Kor 5,21), dass „Er, der Herr, unser Leben, ist“ (Kol 3,4), dass, „gleich wie Er ist, auch wir sind in dieser Welt“ (1. Joh 4,17), und dass Er uns dieselbe Herrlichkeit gegeben, die der Vater Ihm gegeben hat (Joh 17,22)! Wo wäre da noch Raum für die Furcht, welche Pein hat? Die Liebe Gottes treibt sie aus.

Anders ist es mit der Furcht des Herrn; man kann wohl sagen, dass diese gerade dann in das Herz einzieht, wenn Gottes Liebe Einkehr hält, und zwar in demselben Maße, wie diese Liebe erkannt und genossen wird. Die natürlichen Menschen in ihrem unbekehrten, Gott entfremdeten Zustand schildert der Apostel also: „Verwüstung und Elend ist auf ihren Wegen, und den Weg des Friedens haben sie nicht erkannt. Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen“ (Röm 3,16–18). Die Furcht des Herrn oder die Furcht Gottes ist die Frucht der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im menschlichen Herzen, und kann sich auch da schon finden, (wie es tatsächlich bei den Gläubigen im alten Bunde der Fall war) wo derselbe noch nicht Wohnung gemacht, aber doch Leben hervorgerufen hat (vgl. Apg 10,1–44). Zuweilen bedeutet die Mitteilung der Furcht Gottes so viel als die Mitteilung des neuen Lebens. So sagt Jehova in Bezug auf die zukünftige Sammlung und Bekehrung des Überrestes aus Israel: „Siehe, ich werde sie aus allen Ländern sammeln, ... und sie sicher wohnen lassen. Und sie werden mir zum Volk, und ich werde ihnen zum Gott sein. Und ich will ihnen ein Herz und einen Weg geben, mich zu fürchten alle Tage, ihnen und ihren Kindern nach ihnen zum Guten. Und ich will einen ewigen Bund mit ihnen machen ... und will meine Furcht in ihr Herz geben, dass sie nicht mehr von mir abweichen usw“ (Jer 32,37–41). Wo also wirklich eine Bekehrung stattgefunden hat in einer Seele, wird sich immer als gesegnete Frucht derselben wahre Gottesfurcht zeigen, ja, dieselbe kann als Maßstab gelten für die Tiefe des Werkes und des Lebens aus Gott in jener Seele. Je oberflächlicher die Bekehrung und je schwächer das Leben, desto mangelhafter ist die Furcht des Herrn; und umgekehrt, je wahrer das Selbstgericht und die Bekehrung, und je tiefer die Erkenntnis Gottes und des eigenen verdorbenen Ichs bei einer Seele ist, desto reichlicher ist hier auch die Furcht des Herrn vorhanden. Die Furcht des Herrn ist die Offenbarung und Äußerung des göttlichen Lebens, wie der Schein und Glanz die Offenbarung des Lichtes und die Wärme diejenige des Feuers ist.

Wenn also in unseren Tagen, leider gewiss vielfach mit Recht, die Klage laut wird, dass unter den jungen Seelen, die bekehrt zu sein bekennen, im Allgemeinen so wenig Gottesfurcht gefunden wird, so beweist das, dass die Bekehrung der Betreffenden, wenn überhaupt echt, nur eine oberflächliche und das Leben ein schwaches ist. Und wer weiß, was das Ende sein wird! Gewiss, nur der wahrhaft Bekehrte kann schließlich eingehen in die ewige Sabbatruhe, und nur der treue Christ kann in dieser Zeit und Welt gewisse, feste Tritte tun zum Ruhm Gottes; er wird nicht hinken auf beiden Seiten. Andererseits ist es auch wahr, dass, wenn wirkliches, ob auch zunächst nur schwaches Leben in einer Seele vorhanden ist, diese, wenn sie anders aufrichtig und treu ist, wachsen wird im göttlichen Leben und eben darum auch in der Erweisung der Kraft Gottes in einem wirklich gottesfürchtigen Wandel. „An den Früchten sollt ihr sie erkennen!“

Fragen wir nunmehr: Worauf gründet sich die Furcht des Herrn? – Die Furcht des Herrn gründet sich, wie wir bereits angedeutet haben, vor allem auf die Erkenntnis Gottes und entspricht dem Charakter, unter welchem die Seele Gott kennt. Abraham war Er als „der Allmächtige“, und dem Volk Israel vornehmlich als „Jehova“ bekannt; dem entsprach auch seine Furcht und Verehrung bei den Gläubigen im alten Bunde. Nie aber hat Gott sein Wesen geändert; Er ist und bleibt stets in sich derselbe. Paulus schreibt darum an die Christen aus den Hebräern, die doch „zum Berg Zion“ gekommen waren: „Deshalb, da wir ein unerschütterliches Reich empfangen, lasst uns die Gnade festhalten, durch welche wir Gott wohlgefällig dienen mit Frömmigkeit und Furcht. ‚Denn auch unser Gott ist ein verzehrendes Feuer.‘“ (Heb 12,28–29)

An dem Charakter der göttlichen Regierung und an den Wegen, in welchen Gott die Seinen zu allen Zeiten, in Übereinstimmung mit sich selbst, nach seiner Heiligkeit führt, richtet und erzieht, ändert auch die gesegnete Tatsache nichts, dass die Christen Gott als Vater kennen und in sich das Zeugnis haben, dass sie seine Kinder sind. Ja, umso völliger sollten wir seinem Wort und Geist Folge leisten, und „in der Furcht Christi“ „dem Vater der Geister unterworfen sein und leben.“ Wie unnatürlich wäre es z. B., wenn das Kind eines Lehrers die Schulordnung deshalb geringachten oder gar übertreten wollte, weil es des Lehrers Kind ist! Würde es nicht doppelter Streiche wertgeachtet werden? Sollte es nicht und wird es nicht umso inniger dem Lehrer anhängen, weil es ihn als Vater besitzt, kennt und genießt, und ihm umso mehr ergeben sein und gesegnet werden? So ermahnt Petrus auch die Gläubigen: „Als Kinder des Gehorsams bildet euch nicht nach den vorigen Lüsten in eurer Unwissenheit, sondern wie der, welcher euch berufen hat, heilig ist, seid auch ihr heilig in allem Wandel; denn es steht geschrieben: Seid heilig, denn ich bin heilig! Und wenn ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk, so wandelt die Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht, indem ihr wisst, dass ihr nicht mit verweslichen Dingen, mit Silber oder Gold, erlöst worden seid von eurem eitlen, von den Vätern überlieferten Wandel, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken“ (1. Pet 1,14–19).

In diesen Worten führt der Apostel den wahren Beweggrund an, der uns leiten soll, die Zeit unserer Fremdlingschaft „in Furcht zu wandeln“; er erinnert daran, wie teuer wir Gott geworden sind, wie viel Er für uns getan hat. Christus, das Lamm Gottes, hat mit seinem eignen Blut uns Gott erkauft und uns Gott gemäß rein und heilig dargestellt. Wie vollkommen muss die Gerechtigkeit und Heiligkeit Gottes, und wie furchtbar die Sünde in seinen Augen sein, wenn nur auf diese Weise „die Reinigung unserer Sünden“ geschehen konnte! Und welch eine Liebe, die solchen Preis für uns erlegt hat! Paulus ermahnt darum auch die Gläubigen in Korinth: „Ihr seid nicht mehr euer selbst. Denn ihr seid um einen Preis erkauft; verherrlicht nun Gott an eurem Leib!“ (1. Kor 6,19–20) Ebenso schreibt er an die Christen in Rom: „Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes (d. h. auf Grund derselben), eure Leiber darzustellen als ein lebendiges Schlachtopfer, heilig, Gott wohlgefällig“ (Röm 12,1). Und an die Epheser schreibt er: „Deshalb seid eingedenk, dass ihr, einst die Nationen im Fleisch, ... zu jener Zeit ohne Christus wart, ... keine Hoffnung habend und ohne Gott in der Welt. Jetzt aber, in Christus Jesus, seid ihr, die ihr einst ferne wärt, durch das Blut des Christus nahe geworden. ... Ich ermahne euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr würdig wandelt der Berufung, womit ihr berufen worden ... einander unterwürfig in der Furcht Christi“ (Eph 2,11–13; 4,1; 5,21).

Leicht ließe sich die Zahl der Stellen vermehren, aus welchen hervorgeht, dass uns der Geist Gottes viel und oft ermahnt, doch auf Grund dessen, was Gott ist, was wir in uns sind, und was Er an uns getan hat, gottesfürchtig und gottselig in dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf zu leben. Möge das Bewusstsein dieses heiligen Willens Gottes uns tief durchdringen!

Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb wir als „Geliebte“ „uns selbst reinigen“ sollen „von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes und die Heiligkeit vollenden sollen in der Furcht Gottes“ (2. Kor 7,1). Der Apostel Johannes schreibt nämlich: „Jeder, der diese Hoffnung zu Ihm hat, reinigt sich selbst, gleich wie Er rein ist“ (1. Joh 3,3). Er weist also hin auf das herrliche Ziel, das vor uns liegt: wir erwarten Jesus, werden Ihn sehen, wie Er ist, werden. Ihm gleich sein! Ja, Gott hat uns „Zuvorbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu sein!“ (Röm 8,29) Und wie bald kann es geschehen, wie bald wird es sein, dass der glückselige Augenblick kommt, wo wir zu Ihm gehen und allezeit bei Ihm sein werden! Können wir, wenn diese Hoffnung unser Herz erfüllt und belebt, ohne die Furcht des Herrn dahingehen und eigene Wege wandeln? Unmöglich! Wir werden dann gewiss begehren, treu erfunden zu werden, uns zu reinigen, wie Er rein ist, uns los zu machen von allem, was Ihm entgegen ist, was nicht Ihm gleicht und entspricht, den wir bald sehen, dem wir bald gleich sein werden in einer ewigen, wolkenlosen Herrlichkeit! Paulus streckte sich aus nach dem, was da vorne ist, und jagte, „das vorgesteckte Ziel anschauend, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus“; und er bittet: „So viele nun vollkommen sind, lasst uns also gesinnt sein ... denn unser Wandel ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus als Heiland erwarten, der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des Leibes seiner Herrlichkeit“ (Phil 3,14–15.20–21). Hienieden, inmitten einer gefahrvollen Welt voll. „Augenlust, Fleischeslust und Hochmut des Lebens“, kann das Leben aus Gott sich in uns, in Anbetracht der genannten verschiedenen Gründe, nicht anders offenbaren als in steter Furcht des Herrn. Wir werden darum ermahnt, „unsere eigene Seligkeit zu bewirken in Furcht und Zittern“, allezeit auf Gott zu hören und zu harren; „denn Er ist es, der da wirkt beides, das Wollen und das Wirken, nach seinem Wohlgefallen“ (Phil 2,12–13).

In diesem Gehorsam und Harren auf den Herrn, in dieser steten Abhängigkeit von Gott, worin sich die Furcht des Herrn erweist, liegt aber ein großer Segen verborgen. „Siehe, das Auge Jehovas ist gerichtet auf die, so Ihn fürchten, auf die, welche auf seine Güte harren. ... In Ihm wird sich freuen unser Herz, weil wir seinem heiligen Namen vertraut haben. Deine Güte, Jehova, sei über uns, gleich wie wir auf dich geharrt haben!“ (Ps 33,18–22) Doch dies führt uns zu unserer letzten Frage:

Was bewirkt die Furcht des Herrn?

Da der Gottesfürchtige sich raten und leiten lässt durch Gottes Wort und Geist, und wie ein gehorsames Kind die nötigen Warnungen und Unterweisungen nicht gleichgültig anhört, so bleibt er zunächst vor vielem Traurigen bewahrt. In den Gefahren und Versuchungen des Lebens, die über ihn kommen, in welchen Tausende unterliegen, blickt er im Bewusstsein und Gefühl dessen, was Gottes Wille ist, auf den Herrn, und dieser flehentliche, vertrauensvolle Blick zerstört den gleisnerischen Schein der Sünde, führt Gottes Kraft herbei, zerreißt die Schlinge des Versuchers, und der Gläubige geht so unverletzt, ja siegreich aus der Prüfung hervor, Gott zum Ruhm. Der Gottesfürchtige hat, wie der Jüngling Joseph und der Knabe Daniel im fernen Land und unter fremdem Volk, Gottes Wort in seinem Herzen verborgen, damit er nicht wider Ihn sündige (Ps 119,11). Er „sitzt im Verborgenen des Höchsten und wird bleiben im Schatten des Allmächtigen.“ Ihm gilt das Wort: „Er wird dich erretten von der Schlinge des Vogelstellers, von der verderblichen Pest. Mit seinen Fittichen wird Er dich decken, und du wirst Zuflucht finden unter seinen Flügeln“ (Ps 91,1–4). Gewiss, „durch die Furcht Jehovas weicht man vom Bösen“ (Spr 16,6), und in der Gegenwart Gottes sind wir einzig und allein sicher und geborgen.

Die Furcht des Herrn bewahrt aber nicht nur vor den Schlingen und Fallen, vor Nebeln und Schmerzen, sie bewirkt auch positiven Segen. „In der Furcht Jehovas ist starkes Vertrauen, und seinen Kindern wird Er eine Zuflucht sein. Die Furcht Jehovas ist eine Quelle des Lebens“ (Spr 14,26–27). Dieses „starke Vertrauen“ und diese „Quelle des Lebens“, die also in der Furcht des Herrn zu finden ist, spendet Kraft und Stärke. „Er gibt dem Müden Kraft, und dem Kraftlosen mehrt er die Stärke. Knaben werden ermüden und ermatten, und Jünglinge dahinfallen; die aber auf Jehova harren, werden die Kraft erneuern“ (Jes 40,29–31).

Ferner verleiht sie Weisheit und Einsicht: „Die Furcht Jehovas ist der Weisheit Anfang; gute Einsicht haben alle, die sie üben“ (Ps 111,10; vgl. auch Spr 1,7; 9,10; Ps 24,12; Hiob 28,28). Und: „das Geheimnis Jehovas ist für die, welche Ihn fürchten“ (Ps 25,14; vgl. Spr 3,32). So gab Gott Joseph und Daniel, wie auch den drei gottesfürchtigen Freunden des letzteren, ein weises, einsichtsvolles Herz; und vor seinem treuen Knechte Abraham konnte Er nicht verbergen, was Er tun wollte (1. Mo 18,17–19). Wo Gott Treue wahrnimmt, der empfangenen Erkenntnis gegenüber, da fügt Er nach den Grundsätzen seines Hauses neue Erkenntnis hinzu; „denn wer da hat, dem wird gegeben werden, auf dass er mehr habe.“ Ein solcher wird nicht „kurzsichtig und blind“ werden in Ermangelung der Treue und Fruchtbarkeit; vielmehr wird er wachsen, und „der Eingang in das ewige Reich wird ihm reichlich dargereicht“ werden. „Er macht seine Berufung und Erwählung fest“, und „er strauchelt niemals.“ Wo aber irgend Erkenntnis gefunden werden sollte, die nicht aus der Furcht des Herrn erwachsen ist und nicht mit ihr zusammengeht, da lässt dieselbe das eigene Herz kalt und leer, dürr und unfruchtbar; ja, sie muss verderblich und verhängnisvoll werden. Denn eine solche Erkenntnis „bläht auf“.

Neben der Kraft und Weisheit und „guten Einsicht“, welche die Furcht des Herrn begleiten, erwächst aus ihr auch Friede und Freude. „Gott ist Licht, und gar keine Finsternis ist in Ihm“ (1. Joh 1,5); und wenn auch das Verhältnis zwischen Ihm und seinem Volk auf seiner Treue beruht, so verlangt dasselbe doch praktische Heiligkeit, und nur in heiligem Wandel kann es genossen werden. Gott segnet nur ein Herz, das in seinen Wegen wandelt und in dem Licht seines Antlitzes einhergeht. Da wo ein unreiner, ungebrochener, oberflächlicher oder irdischer Zustand vorhanden ist, kann Gott dem Herzen nicht „das Seine“, „das Wahrhaftige“ anvertrauen (Lk 16); da ist kein Genuss am Herrn, an seinen Gütern und Segnungen. „Darum fürchtet Jehova“, sagt der Psalmist, „ihr seine Heiligen; denn keinen Mangel haben die, so Ihn fürchten.“ „Denn Jehova, Gott, ist Sonne und Schild; Gnade und Herrlichkeit wird Jehova geben, kein Gutes vorenthalten denen, die in Lauterkeit wandeln“ (Ps 34,9; 84,11). Und wenn der Gläubige also wandelt, so wird er ausrufen müssen vor Gott: „Fülle von Freuden ist vor deinem Angesicht, Lieblichkeiten in deiner Rechten immerdar!“ (Ps 16,11) Er wird auf dem Pfad der Treue und des Vertrauens „sich im Herrn freuen allezeit“, wird „den Frieden Gottes“ in sich, und „den Gott des Friedens“ bei sich haben (Phil 4).

Das Bewusstsein von dem, was Gott ist, was Er an uns getan hat, was wir vor Ihm sind und sein werden, was wir Ihm schulden, sollte darum durch ein stetes Selbstgericht und durch Wachsamkeit im Gebet und Flehen allezeit in uns lebendig sein; denn das ist, wie wir erkannten, die Furcht des Herrn. Für uns Christen kommt dies der Ermahnung des Apostels gleich: „Betrübt nicht den Heiligen Geist Gottes, durch welchen ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung!“ (Eph 4,30) Ist dies der Fall bei uns, so erfahren wir praktisch, dass „das Reich Gottes Gerechtigkeit ist und Friede und Freude im Heiligen Geist“ (Röm 14,17).

Auf diesem Grund ist auch die Verherrlichung und Anbetung Gottes allein möglich. Die wahre Anbetung war und ist stets mit dem lebendigen Bewusstsein der Heiligkeit Gottes verbunden; das finden wir im Lied Moses, der Hannah, der Maria, in den Psalmen und in den Ermahnungen der Apostel (vgl. 2. Mo 15,1.11.13.17; 1. Sam 2,1–2; Lk 1,49.75; Ps 5,7; 22,3 usw.). Von welcher Bedeutung und welchem Segen ist also die Furcht des Herrn! Und wie betrübend darum die ernste Wahrnehmung, dass Satan mit Erfolg bemüht ist, sie in den Herzen der Gläubigen, leider auch bei denen, die einfach im Namen Jesu zusammenkommen, zu schwachen und zu verringern! Dass die Furcht des Herrn tatsächlich unter allen Gläubigen der bekennenden Kirche gering und eine Seltenheit geworden ist, zeigen schon die vielen Spaltungen, die große Zersplitterung unter ihnen, die doch ganz gegen den Willen des Herrn ist; sind sie doch „alle durch einen Geist zu einem Leib getauft.“ Wie schwach ist ferner das Gefühl geworden in Bezug auf die Notwendigkeit der Überwachung der Lehre, so dass sich in selbst viele so genannte orthodoxe Gemeinden und Gemeinschaften grobe Irrlehren eingeschlichen haben! Und wie traurig, wie weltförmig ist zumeist der Wandel! Welch eine Zeit der Zuchtlosigkeit und Unordnung! Wahrlich, unsere Tage gleichen in mancher Hinsicht jenen Zeiten in Israel, von welchen wir im Buch der Richter öfters lesen: „In selbigen Tagen war kein König in Israel; ein jeglicher tat, was recht war in seinen Augen“ (Ri 17,6; 18,1; 19,1; 21,25; vgl. dazu 5. Mo 12,8). Der Gottesfürchtige aber begehrt den offenbarten Willen Gottes zu tun; und in solchen Tagen sollen die, „welche Jehova fürchten, mit einander reden“ (Mal 3,16), einander die Herzen und Hände zu stärken. So schreibt der Apostel Judas für unsere bösen Tage, in welchen so viele „wandeln nach ihren eignen Lüsten“ und „sich selbst weiden ohne Furcht“: „Ihr aber, Geliebte, euch selbst erbauend auf euren Allerheiligsten Glauben, betend in dem Heiligen Geist, erhaltet euch selbst in der Liebe Gottes, erwartend die Barmherzigkeit unseres Herrn Jesus Christus zum ewigen Leben“ (Jud 20–21).

In der Mitte derer aber, die, getrennt vom religiösen Lager, sich einfach im Namen Jesu versammeln, ist ganz besonders das Bewusstsein der Heiligkeit Gottes unerlässlich. Wenn hier die Furcht Christi schwindet, wie tief betrübend, wie verderbenbringend müssen dann die Folgen sein! Gerade für die, welche kein System bilden, keine menschliche Umzäunung haben, muss die Gegenwart des Herrn Schutzmauer und Burgwall sein; denn sie, welche die herrliche Berufung und himmlische Stellung der Kinder Gottes in ihrer Mitte bekennen, bilden in ganz besonderer Weise die Zielscheibe des Feindes. Darum gilt es, „stark zu sein in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke“, „die ganze Waffenrüstung Gottes“ zu tragen, „um bestehen zu können wider die Liften des Teufels“, „wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern.“ Sowohl für den Einzelnen, wie für alle, ist es nötig, alle Wachsamkeit und Treue zu erweisen und einherzugehen in praktischer Gerechtigkeit, „und die Heiligkeit zu vollenden in der Furcht Gottes.“ Wieder auf dem alten Grund der Versammlung Gottes zu stehen und Gott anzubeten, genügt noch nicht. Der Herr ruft durch Jeremia seinem irdischen Volk zu: „Hört das Wort Jehovas, ganz Juda, die ihr durch diese Tore eingeht, Jehova anzubeten. So spricht Jehova der Heerscharen, der Gott Israels: Macht gut eure Wege und eure Handlungen, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort. Und traut nicht auf falsche Worte, wenn sie sprechen: Jehovas Tempel, Jehovas Tempel, Jehovas Tempel ist dies! Sondern wenn ihr gut macht eure Wege und eure Handlungen, wenn ihr recht tut ... und anderen Göttern nicht nachwandelt, euch zum Unglück, so will ich euch wohnen lassen an diesem Ort. ... Siehe, ihr verlässt euch auf falsche Worte, die nichts nütze sind. Wollt ihr stehlen, totschlagen und Ehebruch treiben und falsch schwören und dem Baal räuchern ... und kommen und vor mir stehen und sprechen: Wir sind geborgen, um alle diese Gräuel zu tun? ... Hört auf meine Stimme, so werde ich euch zum Gott sein und ihr werdet mir zum Volk sein, und wandelt in allem Weg, den ich euch gebieten werde, auf dass es euch wohl gehe“ (Jer 7). Ja, die bloße äußere Stellung befriedigt Gott nicht; mehr als der „Tempel Jehovas“ ist „der Jehova des Tempels“; vor Ihm lasst uns stehen und in seiner Furcht einhergehen!

Wie gesegnet ist es, allsonntäglich am Tisch des Herrn zu sein, Ihn zu rühmen und zu erheben! Wie ernst und verderblich aber, wenn dabei ein Wandel ohne wahre Gottesfurcht geführt wird! Man rühmt den Herrn noch mit den Seinen in hohen Worten, singt mit ihnen Lieder herrlichen Inhalts, aber die darin ausgedruckten Gefühle und gerühmte Kostbarkeit werden nicht empfunden; man betet an – es ist ja die zur Anbetung anberaumte Stunde – aber Geist und Herz leiten und drängen nicht dazu. Wie bitter rächt sich ein solcher Widerspruch im Leben! Dürre und Gefühllosigkeit, Verhärtung des Gewissens und Herzens muss für den Einzelnen daraus erwachsen, und eine solche Versammlung wird bald in sich selbst zusammenfallen. Gott lässt sich nicht täuschen. Wie grünt, blüht und gedeiht dagegen das Leben da, wo die Furcht des Herrn zu finden ist! Da spricht der Einzelne nicht, wenn er gefehlt hat oder das Verkehrte tut, und ermahnt wird: „Ich sehe nichts darin!“ oder gar: „Das ist meine Sache!“ Da ist vielmehr Dankbarkeit für brüderliche Ermahnung und Zurechtweisung. Da findet man keine Gefühllosigkeit über die ausgeübte Zucht oder gar Auflehnung wider Gottes Wort und Geist, indem man hingeht und, anstatt sich zu beugen, einen eigenen Tisch aufrichtet. Wo ist da die Furcht des Herrn, wenn solches geschieht, und man dabei noch gar von Segen und Anerkennung des Herrn redet, weil Er in dieser Zeit dazu schweigt und vielleicht auch in seiner unumschränkten Gnade sein Wort noch dort segnet!

Mit welchen Gefühlen werden bald manche vor dem Richterstuhl Christi auf ihre Gesinnung und auf ihr Verhalten hienieden zurückblicken! Dort gibt es keine Täuschung mehr. O, dass wir doch im Licht dieses Richterstuhls, „einander unterwürfig in der Furcht Christi“, unsere Tage vollenden möchten! Möchte doch die aufrichtige Bitte unserer Herzen sein: „Lehre mich, Jehova, deinen Weg, so werde ich wandeln in deiner Wahrheit; einige mein Herz zur Furcht deines Namens“ (Ps 86,11). Dann werden wir glückselig zu preisen sein, werden in zarter Rücksichtnahme auf alles, was den Heiligen frommt und nütze ist, stets „prüfen, was das Vorzüglichere sei“, und begehren, „dass in allem Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus, welchem die Herrlichkeit ist und die Macht in die Zeitalter der Zeitalter. Amen“ (1. Pet 4,11). Wir werden dann auch in diesen Tagen der äußeren Ruhe, aber großer Gefahren, nicht gleichgültig und fruchtleer sein, sondern vielmehr, trotz unserer „kleinen Kraft“, Ähnliches sehen, wie die ersten Christen, von denen wir lesen: „So hatten denn die Versammlungen durch ganz Judäa und Galiläa und Samaria Frieden und wurden erbaut und wandelten in der Furcht des Herrn und wurden vermehrt durch den Trost des Heiligen Geistes“ (Apg 9,31). Der Herr gebe in seiner Gnade, dass der Mahnruf, den Er an die Versammlung zu Philadelphia richtet, tief in unsere Herzen eindringe: „Halte fest, was du hast, auf dass niemand deine Krone nehme!“ (Off 3,11)

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