Botschafter des Heils in Christo 1886
"Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast"
Das Sendschreiben an die Versammlung zu Ephesus zeigt uns den Beginn des Verfalls in der christlichen Kirche (Off 2,1–7). Bis zu welcher Höhe und Ausdehnung dieser Verfall in der gegenwärtigen Zeit gekommen ist, vermag keine Feder zu beschreiben, kein Mund auszusprechen. Die Gesetzlosigkeit tritt von Tag zu Tage gewalttätiger und frecher hervor und wird bald auch die letzte Schranke durchbrochen haben.
Je mehr wir aber, durch den Geist Gottes geleitet, befähigt sind, in die Tiefe dieses Verfalls hineinzuschauen, desto mehr müssen wir staunen über die wunderbare Gnade Gottes, die sich gerade in unseren Tagen, ja, in diesen bösen Tagen, so überreich entfaltet hat und immer noch fortfährt, ihre gesegnete Wirksamkeit zu offenbaren. Wie groß ist nah und fern die Zahl derer, die in jüngster Zeit durch seine Gnade errettet worden sind! Wie viele einst hoffnungslose Sünder, die nichts als Tod und Verdammnis zu erwarten hatten, blicken jetzt voll glückseliger Hoffnung nach oben, wo eine ewige Herrlichkeit für sie bereit liegt!
Und andererseits hat der Herr in unseren Tagen und inmitten der fast zahllosen Parteien wiederum ein klares Zeugnis für die Wahrheit aufgerichtet, und viele Tausende der seinigen erfreuen sich derselben. Sie erfreuen sich seiner herrlichen Ratschlüsse, die Er vor Grundlegung der Welt gefasst und durch die Apostel und Propheten des Neuen Testaments offenbart hat, deren Gegenstand Christus und die Versammlung ist. Sie erwarten den Herrn zu ihrer Aufnahme, um vor dem kommenden Zorn in Sicherheit gebracht zu werden; sie versammeln sich, getrennt von allen Parteien und in Anerkennung der Einheit des Geistes, einfach in dem Namen Jesu, verkündigen seinen Tod und bringen Ihm die Opfer des Lobes dar. Sind sie auch nicht die Versammlung – denn diese umsaht alle wahren Gläubigen, alle Erlösten auf der ganzen Erde, so wie eine örtliche Versammlung alle an jenem Ort wohnenden Glieder Christi einschließt – so kommen sie doch auf dem einfach wahren Boden der Versammlung Gottes zusammen und machen von ihren gesegneten Vorrechten Gebrauch. – Im Blick auf solch reiche Segnungen der Gnade Gottes, und dazu in einer so bösen Zeit, wie die gegenwärtige ist, können unsere Herzen nur mit Dank und Anbetung erfüllt sein.
Der Mensch aber bleibt immer derselbe; zu aller Zeit offenbart er seine Schwäche und seine Undankbarkeit, am Ende wie im Anfang der Geschichte der Kirche auf der Erde. Nach und nach weicht er von dem gesegneten Boden ab, auf welchen die Gnade ihn gestellt hat, und bleibt, im Blick auf die Erfüllung seiner Verantwortlichkeit, immer weiter hinter den ihm verliehenen Segnungen zurück. Ein höchst ernster Gedanke, der wohl geeignet ist, uns tief zu demütigen! Doch welch ein Glück, dass die Gnade Gottes ewiglich währt, und dass nichts uns aus seiner Hand rauben, nichts uns von seiner Liebe, die in Christus Jesus ist, trennen kann!
Lesen wir die Briefe der Apostel an die verschiedenen Versammlungen, so finden wir, dass ihr Inhalt stets dem Zustand einer jeden derselben angepasst ist. So werden in dem Brief an die Epheser der Versammlung in Ephesus die herrlichsten und erhabensten Dinge offenbart, und zwar in einer Fülle, wie dies in keinem der übrigen Briefe der Fall ist. Es werden in dieser Brief die unermesslichen Segnungen der Gnade und Liebe Gottes entfaltet, welche das Teil der Gläubigen bilden. Sie sind von Gott, dem Vater, gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christus; sie sind auserwählt in Ihm vor Grundlegung der Welt und in eine Stellung versetzt, die über alles erhaben ist. Durch Ihn hat sie Gott nach dem Wohlgefallen seines Willens zur Sohnschaft zuvor verordnet, und zwar für sich selbst, für sein Herz, und hat sie begnadigt in dem Geliebten, in welchem sie die Erlösung haben durch sein Blut. Überdies sind sie durch ein inniges und unauflösliches Band mit Christus verbunden. Die Versammlung ist sein Leib, seine Fülle; sie ist seine Miterbin, versiegelt durch den Heiligen Geist, das Unterpfand zur Erlösung des erworbenen Besitzes (Eph 1). Ja, die Versammlung zu Ephesus wurde in die herrlichsten Dinge eingeweiht und in die Erkenntnis des wunderbaren Geheimnisses Gottes eingeführt, in welchem alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen sind. Ein solcher Brief lässt uns mit Recht schließen, dass der allgemeine Zustand jener Versammlung ein geistlicher, und dass Christus selbst der wahre Gegenstand des Herzens sein musste.
Das Sendschreiben in der Offenbarung zeigt uns jedoch die Versammlung zu Ephesus nicht mehr in jenem gesegneten Zustand. Sie war mehr oder weniger davon abgewichen; ja, für das Herz des Herrn war ein unersetzlicher Verlust eingetreten. Nichtsdestoweniger verschloss dieser schmerzliche Verlust sein Auge keineswegs für da? Gute, das noch vorhanden war. Wir sehen sogar, dass sein Blick sich zunächst auf dieses richtet. In dem Apostel Paulus begegnen wir ebenfalls dieser Gesinnung göttlicher Liebe. In seinem Brief an die Versammlung zu Korinth, in deren Mitte so viele Herzen gegen ihn, ihren geistlichen Vater, der sie so innig liebte, erkaltet waren, und in welcher so manche tadelnswerte Dinge vorlagen, spricht er zuerst von den reichen Segnungen und Gaben, welche die Gnade bei ihnen hervorgebracht hatte; dann erst folgen die Ermahnungen. Nur wenn die Liebe Christi in unserem Herzen wohnt und wirksam ist, sind wir fähig, unser Auge, inmitten der vielen Mängel unter den Seinen, über das vorhandene Gute offen zu halten und zuerst auf dieses unseren Blick zu richten; dass sie uns zugleich nie gleichgültig gegen das Böse sein lässt, braucht kaum gesagt zu werden. Wenn wir aber nicht durch seine Liebe geleitet werden, so sehen wir immer das Böse zuerst, und das noch vorhandene Gute oft gar nicht mehr. Möchten wir auch in dieser Beziehung ernstlich über uns wachen! Wir sind sonst unfähig, den Seinen auf eine nützliche Weise zu dienen. Es ist sicher demütigend, wahrzunehmen, wie unter den Kindern Gottes die Fehltritte des Einen oder Anderen oft so leicht und schnell weitererzählt werden, als hätte man ein gewisses Wohlgefallen daran, während von dem Guten wenig oder gar nicht die Rede ist. Möge der Herr unsere Augen offenhalten und durch seine Gnade uns immer mehr befähigen, allezeit in seiner Gesinnung zu wandeln!
Doch betrachten wir das Sendschreiben an die Versammlung zu Ephesus etwas näher. Zunächst hören wir aus dem Mund des Herrn die Worte: „Ich kenne deine Werke und deine Arbeit und dein Ausharren, und dass du die Bösen nicht ertragen kannst; und du hast geprüft, die da sagen, dass sie Apostel seien, und sind es nicht, und hast sie als Lügner erfunden; und hast Ausharren und hast getragen um meines Namens willen und bist nicht müde geworden“ (V 2–3). Äußerlich war also noch alles in guter Ordnung, so dass ein jeder, der das innige Band zwischen Christus und seiner Versammlung nicht kannte, dem Zustand jener Versammlung das beste Zeugnis ausgestellt haben würde. Da waren Werke, Bemühung und Ausharren; das Böse wurde nicht geduldet, die falschen Apostel wurden als Lügner erkannt, und die Gläubigen waren im Ausharren und Tragen, und zwar um des Namens Christi willen, nicht müde geworden. Allein das Auge des Herrn schaute tiefer, und da vermisste es die wahre Quelle, die wahre Triebfeder ihrer Werke, ihrer Arbeit und ihres Ausharrens: der Glaube, die Liebe und die Hoffnung fehlten. Er konnte nicht, wie der Apostel zu den Thessalonichern, sagen: „Unablässig eingedenk eures Werkes des Glaubens und der Bemühung der Liebe und des Ausharrens der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus“ (1. Thes 1,3).
Wenn ein Christ im Glauben wandelt, so nimmt er stets Rücksicht auf den Herrn, dem er alles zu verdanken hat: Errettung, ewiges Leben und ewige Herrlichkeit, und dessen Eigentum er für immer geworden ist. Sein wohlgefälliger Wille ist die Richtschnur seines Pfades und leitet ihn in all seinem Tun. Es besteht ein großer Unterschied zwischen zwei Knechten, von denen der Eine vielleicht das Beste zu tun wünscht, aber nach seinem eignen Gutdünken handelt, während der Andere nur das tut, von dem er sich überzeugt hat, dass es nach dem wohlgefälligen Willen seines Herrn ist; denn nur dann ist ein solcher Knecht völlig befriedigt.
So hat auch alle Arbeit und alle Bemühung nur dann ihren ganzen Wert vor Gott, wenn die Liebe, die Liebe Christi, die Quelle und der Beweggrund derselben ist. Ebenso verleiht die Hoffnung dem Ausharren seinen wahren Charakter, die stete Erwartung auf die Ankunft unseres geliebten Herrn. Doch, wie schon bemerkt, fehlte diese göttliche Grundlage den Werken, der Arbeit und dem Ausharren der Versammlung in Ephesus, und somit fehlte in den Augen Christi das Schönste und Beste darin. Mochten daher auch andere urteilen, dass alles wohlgeordnet sei und sich in einem guten Zustand befinde, mochte auch ein reger Eifer für alles Gute und gegen alles Böse vorhanden sein, und kein Ermüden, keine Nachlässigkeit sich offenbaren, so erblickte der Herr dennoch einen großen Mangel in jener Versammlung; für sein Herz gab es dort einen schmerzlichen und unersetzlichen Verlust. Die Versammlung ist aus Ihm genommen, wie Eva aus Adam genommen wurde; sie bildet einen Teil von Ihm, sie ist sein Leib. Durch die innigsten Bande ist sie mit Ihm verbunden: sie ist seine Braut. Eine Magd verdient alles Lob, wenn sie treu, fleißig, unverdrossen, unermüdlich und sittsam ist. Aber wenn sich auch dieselben Eigenschaften bei einer Braut oder einer Frau finden, so wird dennoch im Herzen des Bräutigams oder des Mannes tiefer Kummer und Schmerz sein, wenn er zu dem allen hinzufügen muss: „Aber ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast“ (V 4); und je wahrer und inniger die Liebe des Bräutigams oder des Mannes ist, desto größer und fühlbarer wird sein Schmerz sein bei dem Gedanken an diesen Verlust. Es ist ein Verlust, der durch nichts ersetzt werden kann.
Wo aber ist eine Liebe, wie die Liebe unseres hochgelobten Herrn zu seiner Versammlung? Sie ist stärker, als der Tod. Für sie gab Er sein teures Leben dahin, für sie vergoss Er sein kostbares Blut. Er nahm ihre große Schuld auf sich und tilgte sie; Er ging für sie in Tod und Gericht und befreite sie aus aller ihrer schrecklichen Sklaverei; Er erwarb für sie das ewige Leben und die ewige Herrlichkeit und verband sie mit sich durch unauflösliche Bande. Jetzt ist Er droben für die Seinen beschäftigt als ein treuer Sachwalter. Er liebt sie zu aller Zeit mit unveränderlicher Liebe; ja, Er ist sogar seit Jahrhunderten mit dem geringsten Dienst unter ihnen beschäftigt, indem Er ihre Füße wäscht, um die durch irgendwelche Sünde unterbrochene praktische Gemeinschaft mit dem Vater und mit Ihm wiederherzustellen; und nie wendet sich sein Auge von ihnen ab. Was muss es also für sein Herz sein, für ein Herz, das mit solch einer unvergleichlichen Liebe liebt, wenn Er, sei es im Blick auf die Versammlung oder auf den Einzelnen der seinigen, klagen muss: „Aber ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast!“ Gewiss, niemand ist fähig, diesen Verlust zu fühlen, wie Er ihn fühlt, niemand fähig, die Tiefe seines Schmerzes zu ergründen.
Was aber mag sein Herz jetzt empfinden, wenn Er auf die große Zersplitterung und auf den höchst traurigen Zustand so vieler der Seinen herniederblickt? Und was hat Er schon gesehen, und was sieht Er täglich, selbst unter denen, die Er durch seine Gnade in diesen letzten, bösen Tagen zur Erkenntnis der Wahrheit – zu dem, was von Anfang war – zurückgeführt hat! Ach, die Antwort auf diese Fragen wird in jedem geistlichen Gemüt, bei jedem Erlösten, der die Wahrheit kennt und Ihn liebt, große Beschämung und tiefe Demütigung wachrufen, und ein solcher wird, wenn auch in ganz geringem Maß, an dem Schmerz seines liebenden Herzens teilnehmen.
Ich möchte nun an jeden gläubigen Leser dieser Zeilen die ernste Frage richten: Gehörst du etwa auch zu denen, über welche der Herr seufzen und klagen muss: „Ich habe wider dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast?“ Oder nimmt Er noch den ersten Platz in deinem Herzen ein? Gehst du in Gemeinschaft mit Christus und in innigem Umgang mit Ihm durch diese Wüste? Ist Er es, für den du lebst, den du auf deinem Weg hienieden zu verherrlichen suchst, und auf den du mit Sehnsucht wartest? Sicher gibt es in unseren bösen, gefahrvollen Tagen so manches Herz, das gegen Ihn kalt und lau geworden und mit dem beschäftigt und erfüllt ist, was diese armselige, verdorbene Welt darbietet, während es nur wenig an Ihn denkt, der uns so unaussprechlich liebt. Es scheint oft, als hätten viele ganz vergessen, dass Er sie durch sein Blut von ihren Sünden gereinigt und durch seinen Tod von der Welt getrennt habe; es scheint, als ob ihre Erkenntnis des Werkes und der Liebe des Herrn zu einem eitlen, leeren Wissen und ihr christliches Leben zu einer kraftlosen Form herabgesunken wäre. Sicher sind ihrer viele, die ebenso gefühllos und gleichgültig an den Ort gehen, wo die Seinen versammelt sind und der Herr in ihrer Mitte ist, als gingen sie an ihre tagtägliche Arbeit, und die deshalb auch ebenso leer und kalt von dort zurückkehren. Da ist kein Bewusstsein, kein Gefühl von seiner herrlichen und gesegneten Gegenwart. Würde sie wirklich erkannt und wertgeschätzt, würde ein jeder mit Gebet und Flehen zu Ihm seinen Platz einnehmen, wie reich gesegnet würde dann zu jeder Zeit das zusammenkommen in seinem Namen sein!
Doch ach! Es gibt sogar viele, die säumig und träge sind im Zusammenkommen, denen dieses selbst eine Last geworden ist, weil sowohl die Person des Herrn, als auch sein köstliches Wort wenig Interesse für sie haben; ja, es gibt sogar solche unter ihnen, die selbst am Tag des Herrn, anstatt sich mit den seinigen zu versammeln und zu erbauen, einen Spaziergang oder etwas dergleichen vorziehen. Was muss aber eine solche Gesinnung, ein solches Verhalten für Ihn sein, dessen Liebe zu den Seinen unergründlich ist und nie erkaltet! Was muss Er inmitten einer Versammlung empfinden, in welcher so viele gefühllose Herzen Ihn umgeben, die kaum an seine Gegenwart denken, in welcher von vielen die Lob– und Dankeslieder gedankenlos abgesungen werden, und in welcher alles weit mehr Gewohnheit und Form, als Wirklichkeit und Leben ist! Und ach! Dahin ist es in unseren Tagen bei so vielen Seelen gekommen, die sich der Wahrheit rühmen und auf dem Boden der Wahrheit, einfach in dem Namen Jesu, zusammenkommen. Wie wird da der Herr verunehrt und der Geist betrübt; und sicher bedarf es einer besonderen Wirksamkeit der Gnade Gottes, um aus einem solch traurigen Zustand befreit zu werden. Wie war es doch so ganz anders im Anfang, als die erste Liebe das Herz erfüllte! Christus allein war der Gegenstand des Lebens, die Freude und Wonne des Herzens; alles andere war wertlos und nichtig geworden.
Es gibt in unseren Tagen aber auch viele Seelen, von denen man eigentlich nicht sagen kann, dass sie die erste Liebe je besessen haben. Ihre Buße war oberflächlich, wenig gründlich, die Erkenntnis ihrer Sünden gering und besonders das Bewusstsein ihres verdorbenen und feindseligen Zustandes vor Gott sehr schwach, weil das Gewissen zu wenig in sein Licht gebracht war. Sie hielten freilich ihre Errettung für eine Notwendigkeit, aber sie erkannten sie weniger als einen Akt der großen Gnade und Liebe Gottes zu dem verlorenen Sünder. Als sie sich ihrer Errettung bewusst wurden, waren sie ohne Zweifel sehr erfreut; allem der Gegenstand dieser Freude war mehr ihre Errettung, als Christus, der das große Werk der Errettung für sie vollbracht hat; sie freuten sich der Gabe und weniger des Gebers. Es war nicht seine Gnade und Liebe, die das Herz so glücklich machte und mit Lob und Dank erfüllte.
Im Blick auf solche Seelen kann man eigentlich nur von der ersten Freude, aber nicht von der ersten Liebe reden. Und ach, wie bald nimmt oft diese Freude im Herzen ab, wie bald verstummt dieser erste Jubel! Bei vielen merkt man schon bald nach der Bekehrung kaum noch, dass irgendeine Veränderung in und mit ihnen vorgegangen ist. Es ist daher immer bedenklich, wenn Arbeiter im Werk des Herrn dem Wirken des Geistes Gottes in Herz und Gewissen mehr oder weniger vorarbeiten, nur auf die Gefühle einwirken und die Seelen zum Glauben an Christus drängen, bevor eine gründliche Buße, die allein der Geist Gottes bewirken kann, vorhanden ist, wie dies leider in unseren Tagen so oft geschieht, und schon so viele traurige Früchte hervorgebracht hat. Paulus sagt, dass er sowohl Juden als Griechen die Buße zu Gott und den Glauben an den Herrn Jesus Christus bezeugt habe (Apg 20,21). Es ist ebenso sehr zum Schaden der Seele, wenn der wahre Wert der Buße zu Gott nicht erkannt und diese daher mehr oder weniger vernachlässigt wird, als wenn dem Glauben an Christus Jesus zur Errettung noch etwas hinzugefügt wird. Beides geschieht leider nur zu oft, und deshalb findet man einerseits so viel Leichtfertigkeit und andererseits so große Ungewissheit unter denen, die sich zu Christus bekennen.
Wenn nun die erste Liebe verlassen ist, oder auch die erste Freude im Herzen abgenommen bat, gibt es dann kein Heilmittel mehr, keine Wiederherstellung der Seele? Gott sei Dank! Es gibt ein Heilmittel, aber auch nur eins. „Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werte; wenn aber nicht, so komme ich dir, und ich werde deinen Leuchter wegtun aus seiner Stelle, wenn du nicht Buße tust“ (V 5).
Wir haben es in diesem Sendschreiben nicht mit der Versammlung als dem Leib. Christi zu tun, sondern mit ihr als dem verantwortlichen Körper auf der Erde. Der wahre Gläubige ist ein Glied des Leibes Christi, und alles ist Gnade; aber solange er hienieden ist, gehört er auch zu diesem verantwortlichen Körper. Doch wie groß ist die Gnade und Liebe des Herrn zu der Versammlung, dass Er sich nicht von ihr, die sich doch so höchst undankbar bewiesen hat, sofort abwendet und sie ihrem gleichgültigen Zustand überlässt! Sicher hat sie sich einer großen Ungerechtigkeit gegen Ihn schuldig gemacht. Sie hat seine unvergleichliche Liebe zu ihr erkannt und geschmeckt; sie weiß, dass Er sein teures Leben für sie hingegeben und sie aus einem schrecklichen und hoffnungslosen Zustand errettet hat, und täglich hat sie neue Beweise seiner Huld und Gnade erfahren; aber trotz allem war sie fähig, kalt und gleichgültig gegen Ihn zu werden, sich von Ihm abzuwenden und an eitlen und nichtigen Dingen Gefallen zu finden. Wie gerecht und wohlverdient wäre ihre Verwerfung, und wie sehr hätte der Herr Ursache, sie ganz dem Verderben preiszugeben! Doch nein; seine Liebe ist nicht geschwächt. Sein Herz, mag es auch noch so sehr betrübt sein, ist bemüht, sie wieder zurückzubringen, das gesegnete Band zwischen Ihm und ihr in der Seele praktisch wiederherzustellen. Doch es gibt dazu, wie gesagt, nur einen Weg, nur ein Mittel, sei es im Blick auf die Versammlung, als solche, oder auf jeden Einzelnen der Seinen, und dieser Weg, dieses Mittel ist die Buße. „Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke“ – jene Werke, die von der Liebe zu Ihm ein so klares und unzweideutiges Zeugnis gaben.
Geliebter Leser, lass uns unsere Gesinnung und unser Verhalten gegen Christus mit aufrichtigem Herzen im Licht Gottes erforschen; und finden wir, dass jene Klage des Herrn über die Versammlung zu Ephesus auch uns trifft, so lass es zu einem lebendigen Bewusstsein in uns werden, wovon wir gefallen sind und was wir verlassen haben. Sicher gibt es im Blick auf das, was wir waren, und was Christus für uns getan hat, was Er für uns ist und ewig sein wird, im Blick auf seine unveränderliche Gnade und Liebe zu uns, keinen größeren Undank, kein größeres Unrecht, als kalt und gleichgültig gegen Ihn zu sein. Und jede Seele, die das im Licht Gottes erkennt, wird sich voll Scham und Schmerz vor Ihm niederwerfen, ihr großes Unrecht bekennen und um Gnade flehen. Ja, ihr Schmerz wird jetzt noch weit größer und ihre Buße weit tiefer sein, als zurzeit, da sie zuerst ihre Zuflucht zu Ihm nahm; denn ihr trauriges Verhalten war nicht eine Folge ihrer Unwissenheit und ihres Unglaubens, sondern vielmehr eine bewusste Gleichgültigkeit. Sie hat seine erkannte und genossene Liebe mit Geringschätzung behandelt und sich mit kaltem Herzen von Ihm abgewandt. Sie ist deshalb strafbarer als je; und dennoch zeigt ihr der Herr in seiner unwandelbaren Liebe einen Weg zur Rückkehr. Findet aber der ernste Mahnruf seiner geduldigen und langmütigen Liebe kein Gehör, so bleibt nur das Gericht übrig: „Wofern du aber nicht Buße tust, komme ich dir und werde deinen Leuchter wegtun aus seiner Stelle.“ Wie beherzigenswert und ernst ist diese Warnung!
Die Versammlung zu Ephesus hat sein Wort nicht zu Herzen genommen und hat aufgehört, ein Leuchter an ihrer Stelle zu sein. Die verantwortliche Kirche auf der Erde hat jenen ernsten Mahnruf nicht beachtet, sie ist tiefer und tiefer gesunken; nur ein kleiner Teil ist übriggeblieben, der bis jetzt noch als Leuchter durch die Gnade des Herrn benutzt wird. Doch wie ist auch selbst dieser Überrest so zersplittert, und wie klein ist seine Kraft! Wie viele gibt es unter ihnen, zu denen gesagt werden kann: Du hast die erste Liebe verlassen, und wie viele, die sie in Wahrheit nie genossen haben! Mögen auch in diesen letzten Tagen viele Tausende zur Wahrheit zurückgekehrt sein und ihren wahren Platz vor Gott eingenommen haben, mögen sie die Einheit des Geistes anerkennen und sich im Namen Jesu versammeln, so gibt es doch auch unter ihnen nicht wenige, deren Herzen gegen Christus erkaltet sind, die nicht seine Ehre, sondern die ihrige suchen, die mehr oder weniger ihren Lüsten dienen und ihre Blicke auf das gerichtet haben, was diese verdorbene Welt ihnen bietet. O mochte doch der Herr in seiner Gnade all den Seinen wahre Einsicht, wahre Buße und wahre Umkehr geben!
Schließlich möchte ich noch auf den 6. Vers in unserem Sendschreiben hinweisen, der uns einen tiefen Blick in das treue und liebende Herz unseres Herrn tun lässt. Ich habe schon ermahnt, dass sein Auge zuerst immer auf das Gute gerichtet ist, sowohl in der Versammlung, als auch bei jeder einzelnen Seele. Das bezeugen uns der 2. und 3. Vers sehr klar. Danach spricht der Herr von dem, was die Versammlung zu Ephesus verlassen hatte – ein überaus schmerzlicher Verlust für sein Herz – und ermahnt sie ernstlich zur Umkehr. Aber dann kommt Er auf etwas zurück, was Er anerkennen kann und mit Freude anerkennt. Mag auch ihre erste Liebe nicht mehr vorhanden und ihr Herz gegen Ihn erkaltet sein, so kann Er doch das nicht übersehen und unerwähnt lassen, worin sie noch mit Ihm eines Sinnes ist. „Aber dieses hast du, dass du die Werke der Nikolaiten hassest, die auch ich hasse“ (V 6).
Wunderbare, anbetungswürdige Liebe! Die geringste Übereinstimmung mit Ihm erkennt Er an, mögen andererseits die Gefühle für Ihn auch noch so matt und schwach geworden sein. Wahrlich, wer einen Blick in diese Liebe tut, wird sich schämen und tief demütigen, wenn er sich bekennen muss, dass sich sein Herz mehr oder weniger von Ihm abgewandt hat, so dass Christus nicht mehr der einzige Gegenstand seines Lebens, seiner Freude und seiner Wonne ist. Dazu beizutragen, diese Gefühle in den Herzen der seinigen wachzurufen, ist der Zweck dieser Zellen. Möge der Herr sie dazu gesegnet sein lassen!