Botschafter des Heils in Christo 1886
"Gott ist offenbart worden im Fleisch"
In den Zeiten des Alten Testaments verbarg sich Gott hinter dem Vorhang, weil die Sünde die Beziehungen zwischen Ihm und dem Menschen abgebrochen hatte. Der Mensch, in seinem Zustand der Sünde, konnte sich Gott nicht nahen. Ein unmittelbarer Tod würde einen jeden getroffen haben, der es gewagt hätte, in das Allerheiligste, hinter den zweiten Vorhang der Stiftshütte, einzudringen. Der Hohepriester allein hatte dort Zugang, aber auch er durfte nur einmal des Jahres hineingehen, und dann nicht ohne Blut, welches er für sich selbst und für die Verirrungen des Volkes darbrachte, wodurch der Heilige Geist dies anzeigte, dass der Weg zum Heiligtum noch nicht offenbart war (vgl. 3. Mo 16; Heb 9). Das Licht, welches zu verschiedenen Zeiten und auf mancherlei Weise mittels der Propheten des alten Bundes leuchtete, diente nur dazu, um den damaligen Gläubigen die Tiefe der Finsternis dieser Welt und die Entfernung, in welcher Gott sich hielt, fühlbarer zu machen. Die Propheten selbst verstanden nur unvollkommen die göttlichen Dinge; es war ihnen offenbart, dass sie nicht für sich selbst, sondern für uns die Dinge bedienten, welche uns jetzt in dem Evangelium völlig offenbart und verkündigt worden sind (1. Pet 1,10–12). Selbst Jesaja, der Erleuchtetste unter ihnen, war gezwungen, auszurufen: „Fürwahr, du bist ein Gott, der sich verborgen hält, der Gott Israels, der Heiland!“ (Jes 45,15) Gott hatte sich genügend offenbart, um Ihn als Heiland zu erkennen, aber nicht genug, dass der Prophet nicht gefühlt hätte, dass Er sich verborgen hielt.
Als der Herr Jesus auf dem Schauplatz erschien, war alles mit einem Schlag verändert. Gott verbarg sich nicht mehr; Er trat gleichsam hinter dem Vorhang hervor und zeigte sich dem Menschen in der Person seines Sohnes, damit ein jeder Ihn erkennen und aus der unermesslichen Wohltat seiner Gegenwart Nutzen ziehen könne. Das Licht kam, um in der Finsternis, in welche die Welt versunken ist, zu leuchten: Gott, in der Person seines Sohnes, war „das wahrhaftige Licht, welches, in die Welt kommend, jeden Menschen erleuchtet“ (Joh 1,9). Das war eine ganz neue Sache auf der Erde, aber sie diente nur dazu, den moralischen Verfall, das ganze Verderben des Menschen klar ans Licht zu stellen. Vor dem Gesetz und später unter dem Gesetz hatten die Wege der Güte Gottes gegenüber dem Menschen schon gezeigt, dass dieser unfähig war, das zu tun, was Gott rechtmäßig von ihm erwarten konnte. Und als am Ende der Zeiten derjenige auf der Erde erschien, in welchem alles Gute wohnt, und der sich als solcher in allen seinen Handlungen und Wegen offenbarte, da diente diese Gegenwart nur dazu, um endgültig die Tatsache festzustellen, dass der Mensch, auch in dem besten Zustand, in welchem er sich als Abkömmling Adams befinden kann, unfähig ist, irgendwie die Güte Gottes zu schätzen. Ja, er hat in der traurigsten Weise den Beweis von dem Gegenteil geliefert, indem er den Herrn der Herrlichkeit, den Fürsten des Lebens, hasste, verfolgte und endlich mit ruchlosen Händen ans Kreuz schlug. Das Kreuz Christi ist der schreckliche, untrügliche Beweis von der Feindschaft der menschlichen Natur, unserer Natur, gegen Gott, wie es zugleich die herrlichste und treffendste Darstellung der Liebe Gottes gegen uns ist.
Ja, geliebter Leser, anerkannt groß, ewig bewunderungswürdig ist das Geheimnis der Gottseligkeit: „Gott ist offenbart worden im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, gesehen von den Engeln“ – gesehen in seinem Wandel auf dieser Erde, als der vollkommen abhängige, gehorsame Mensch, gesehen in seinem Tod am Fluchholz, als der vollkommen Reine und Fleckenlose in sich selbst, aber zur Sünde gemacht für uns, die feindseligen, verdammungswürdigen Sünder. Und nun, kraft dieses für uns vollbrachten Erlösungswerkes, in welchem Er Gott vollkommen verherrlichte, hat der Gott aller Barmherzigkeit Jesus aus den Toten auferweckt und Ihm einen Platz gegeben zu seiner Rechten, dort wo der Glaube Ihn jetzt als den verherrlichten Menschensohn erblickt. Er ist „aufgenommen in Herrlichkeit.“ Und kraft desselben vollbrachten Werkes sind die Gläubigen jetzt fähig gemacht, mit Christus und in Ihm an allen seinen Gütern teil zu haben; in Ihm sind sie gesegnet mit aller geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern; in Ihm stehen sie heilig und tadellos vor Gott in Liebe; in Ihm sind sie zu Kindern Gottes geworden, so annehmlich vor Gott wie Christus selbst; in Ihm sind sie zu Erben der Herrlichkeit gemacht (vgl. Eph 1,3–14). Ja, die Gläubigen sind jetzt schon nicht mehr Bürger dieser Welt, denn „unser Wandel (oder unser Bürgerrecht) ist in den Himmeln, von woher wir auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten der unseren Leib der Niedrigkeit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit des Leibes seiner Herrlichkeit“ (Phil 3,20–21). „Denn der Herr selbst wird mit gebietendem Zuruf, mit der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes herniederkommen vom Himmel, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen; danach werden wir, die Lebenden, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und also werden wir allezeit bei dem Herrn sein“ (1. Thes 4,16–17).
Das sind die herrlichen Vorrechte der Christen, das sind für sie die gesegneten Resultate der wunderbaren Tatsache, dass „Gott offenbart worden ist im Fleisch“, dass das Wort Fleisch ward und unter uns gewohnt hat, voller Gnade und Wahrheit (Joh 1,14). Die Gläubigen sind jetzt ein himmlisches Volk; alle ihre Segnungen sind droben, wo der Christus ist. Da ist ihr Teil, ihre Heimat. Dahin geht ihre Sehnsucht, dass in führt ihr Weg. Sie bilden zusammen einen Leib, den Leib Christi, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt. Er ist das verherrlichte Haupt dieses Leibes. Ein Geist wohnt in ihnen allen, der Geist der Sohnschaft, in welchem sie alle zu einem Leib getauft sind (1. Kor 12,13).
Das ist es, was das Christentum von allem Vorhergegangenen unterscheidet. Die Segnung Adams in Eden war eine irdische, er hat sie verloren durch die Sünde; die Segnung Israels war ebenfalls irdischer Natur: Gott wohnte unter ihnen hienieden, als die Quelle aller Segnungen, und Er stellte sich später ihnen vor als der „Immanuel“, als der „Gott mit uns.“ Aber sie haben Ihn verworfen und getötet, und Gott hat sich zu den Nationen gewandt. Er ist „gepredigt worden unter den Nationen.“ Der Mensch wollte Gott nicht bei sich haben, um auf der Erde gesegnet zu sein, aber Gott wollte in seiner unendlichen Barmherzigkeit und Liebe den Menschen bei sich haben, in seinem eignen Haus, in seiner himmlischen Herrlichkeit. Welch ein Wunder ist diese Barmherzigkeit Gottes! Der Mensch verschloss dem Herrn der Herrlichkeit, als Er auf diese Erde kam, seine Tore, soweit es in seiner Macht stand, aber Gott öffnet diesem selben Menschen die Tore des Himmels.
Unser anbetungswürdiger Herr und Heiland sagte zu den Seinen, ehe Er aus dieser Welt ging: „In dem Haus meines Vaters sind viele Wohnungen; wenn es nicht so wäre, würde ich es euch gesagt haben; denn ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingegangen bin und euch eine Stätte bereitet habe, so komme ich wieder und will euch zu mir nehmen, auf dass, wo ich bin, auch ihr seid“ (Joh 14,2–3).
Geliebter Leser, wirst du einen Platz mit Jesu in dem Himmel haben, einen Platz in den vielen Wohnungen des Vaterhauses? Hast du einen Platz für Ihn in deinem Herzen? Liebst du Ihn, der um deinetwillen arm wurde, der aus der himmlischen Herrlichkeit herniederkam, um dich dahin einzuführen? der sich aller Herrlichkeit entäußerte und es nicht für einen Raub hielt, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte, ja, der an das Kreuz ging und starb, um Gott zu verherrlichen und dich zu Gott zu führen? O, möchtest du doch nicht dieses große Heil verachten, das dir in Christus Jesus angeboten wird! Siehe zu, dass nicht über dich komme, was in den Propheten geschrieben ist: „Seht, ihr Verächter, und verwundert euch und verschwindet!“ (vgl. Apg 13,40–41) Gott wird dereinst Rechenschaft fordern von der Welt, die seinen Geliebten verworfen hat, ja, von einem jeden, der Ihm gleichgültig und verächtlich den Rücken kehrt und in den Ruf einstimmt: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche!“ O, gehe nicht länger auf diesem Weg voran; die Zeit fliegt dahin, und der Tag des Zornes naht mit schnellen Schritten heran. Eile zu Jesu, bekenne Ihm, wie dein Herz bisher nur mit den Dingen dieser Welt, mit Stolz, Selbstsucht und Eigenliebe erfüllt war, wie du kalt und gleichgültig auf den Wegen der Sünde einhergegangen bist und nur die Befriedigung der Wünsche und Begierden des Fleisches gesucht hast. Sage Ihm alles und verbirg Ihm nichts. Er wird sich in Gnaden zu dir neigen, wie Er sich zu so vielen Tausenden geneigt hat. Er wird dir vergeben, dich reinigen und dir alle die herrlichen Dinge schenken, von denen wir oben geredet haben. Ja, Gott gebe in seiner Gnade, dass der Christus auch in deinem Herzen wohne durch den Glauben (Eph 3,17)!