Botschafter des Heils in Christo 1886
Noah - Teil 4/4
Reich ausgestattet, gesegnet und geehrt, unterrichtet und zum Herrscher eingesetzt, und bei alledem in Ruhe und Sicherheit – so wurde Noah in die neue Welt eingeführt. Nichts Böses war ringsumher zu erblicken, kein Feind zu sehen. Eine neue Probe des Menschen unter neuen Umständen begann, und wie bei Adam in Eden, so war auch hier von Gottes Seite nichts unterlassen worden; alles war in Ordnung. Aber wie steht es mit dem Menschen? Wenn Adam vor den Zeiten Noahs fehlte und den Garten verlor, wenn Israel nach ihm fehlte und das Land von Milch und Honig einbüßte, so mag wohl auch zu Noah gesagt werden: „Liebst du mich mehr als diese?“ In Christus und in Ihm allein ist unfehlbare Treue und Stärke. Noah fehlt, wie die Übrigen, und der jungfräuliche Boden der neuen Welt wird wiederum schnell besudelt durch den Fuß des ersten Menschen, der ihn betritt.
„Und Noah fing an, ein Ackerbauer zu werden, und pflanzte einen Weinberg. Und er trank von dem Wein und ward trunken und entblößte sich in seinem Zelt.“
So wurde Noah zu Schanden. Gerade der erste Mensch, der Adam des neuen Systems, beginnt die Geschichte des zweiten Abfalls, so wie sein Vorfahre diejenige des Ersten begonnen hatte; und schnell nimmt das Böse zu. Ham freut sich über die Schande seines Vaters. „Ham, der Vater Kanaans, sah die Blöße seines Vaters und berichtete es seinen beiden Brüdern draußen.“
Das war ein schrecklicher Fortschritt im Bösen; es war nicht nur ein „Übereiltwerden von einem Fehltritt“, sondern ein „Wohlgefallenfinden an der Ungerechtigkeit.“ Das natürlich sittliche Gefühl wendet sich mit Abscheu davon ab. Sem und Japhet „nahmen ein Gewand und legten es beide auf ihre Schultern und gingen rücklings und bedeckten die Blöße ihres Vaters.“ Noah erwacht von seinem Wem. Er, der übereilt worden war, kommt wieder zu sich selbst, wird wiederhergestellt, und die Gnade Gottes gibt ihm einen großen und herrlichen Triumph: der Wiederhergestellte richtet seinen Richter und verurteilt seinen Ankläger. Er sagt: „Verflucht sei Kanaan, ein Knecht der Knechte sei er seinen Brüdern!“ Das war mehr als Wiederherstellung. Selbst das herrliche Wort des Apostels: „Wer wird wider die Auserwählten Gottes Anklage erheben?“ drückt das nicht aus; denn in diesem Wort liegt nur das Verstummen des Anklägers, während hier die Anklage auf den Kläger zurückgeworfen wird. „Freue dich nicht, meine Feindin, über mich. Wenn ich gefallen bin, werde ich wieder aufstehen. ... Und meine Feindin wird es sehen, und Scham wird sie bedecken; ... sie wird zur Zertretung werden wie Kot der Straße“ (Mi 7,8–10).
Doch lasst uns hier einen Augenblick stille stehen, um das reiche und interessante Gemälde zu betrachten, welches der Geist der Prophezeiung vor uns entrollt.
Der Fluch über Kanaan ist nur ein Teil der Prophezeiung Noahs. Noah sah im Geist von der erneuerten Erde in die Zukunft hinaus; er sah die Rückkehr des Verderbens und der Gewalttat vorher, aber auch dass die Gnade Gottes in deren Mitte ein Zeugnis aufrechterhalten würde. Er sah, dass der eine Zweig (Sem) der menschlichen Familie, welche die Erde jetzt wieder bevölkern sollte, ausgezeichnet werden würde durch die Offenbarung und Gegenwart Gottes unter ihnen, der andere (Japhet) durch seinen Erfolg und sein Emporkommen in der Welt – ein Volk, das sich auf der Erde ausbreiten und berühmt werden würde – und der dritte (Ham) durch das beständige und unveränderliche Zeichen der Erniedrigung und Knechtschaft. Seine Prophezeiung betrachtete so zu sagen den Asiaten, den Europäer und den Afrikaner, oder den Hebräer im Osten, bei dem das Heiligtum Gottes sein sollte, den Heiden des Westens, der unter der Hand und Vorsehung Gottes sich weit über seine Grenzen hinaus ausdehnen sollte, und den Sklaven des Südens, der wohl einen Wechsel seiner Herren kennen, aber selbst stets ein Sklave bleiben sollte.
So kurz diese Schilderung der Geschichte der Welt auch sein mag, so ist sie doch durchaus richtig und, soweit sie geht, vollständig und der Absicht des Geistes in Noah entsprechend.
Die drei Prophezeiungen, welche wir in den frühesten Zeiten der menschlichen Geschichte finden, diejenige von Henoch, von Lamech und von Noah, beschäftigen sich also alle mit der Erde und ihrer Geschichte, obgleich sie sich auf verschiedene Zeiten und Teile dieser Geschichte beziehen mögen; und sie geben zusammen ein vollständiges Bild des Ganzen. Wir müssen sie jedoch in dieser Reihenfolge betrachten: Noch, Henoch, Lamech.
Noahs Prophezeiung hat von Alters her ihre Erfüllung gefunden und bestätigt sich heute noch in allen den Veränderungen, welche es in der ernsten und interessanten Geschichte der Welt gibt. Henochs Prophezeiung redet von Gericht und wird ihre volle Erfüllung finden (Jud 1,14), wenn der gegenwärtige Zeitlauf zu Ende geht und der Tag des Herrn kommt, um die Gottlosen „von allen ihren Werken der Gottlosigkeit, die sie gottlos verübt haben“, zu überführen. Lamechs Prophezeiung redet von Ruhe und wird erst dann erfüllt werden (1. Mo 5,29), wenn „der Tag des Herrn“ das Gericht ausgeführt hat, und „die Gegenwart des Herrn“ Wiederherstellung und Erquickung bringen wird.
Es wird uns also in diesen Prophezeiungen die Gegenwart und Zukunft der Weltgeschichte – das Gute und Böse der Gegenwart, sowie das Gericht und die Herrlichkeit der Zukunft – geschildert, und es ist nicht schwer, diese Dinge zu unterscheiden und die Reihenfolge und den Charakter jener frühen patriarchalischen Orakel zu verstehen.
Die Prophezeiung Noahs möchte ich jedoch noch etwas genauer betrachten, da wir uns hier hauptsächlich mit dieser beschäftigen. Sie wurde bei der Entdeckung des Bösen in seinem Sohn Ham ausgesprochen, und bevor wir diese Kapitel verlassen, wird der weitere Verlauf des Bösen bis zu seiner völligen Reife ausführlich beschrieben. Die erste Erscheinung des Bösen in Noah selbst und die vorgeschrittene Form desselben in Ham haben wir bereits betrachtet; sein weiteres Wachstum erblicken wir in der Erbauung Babels, einige hundert Jahre nach der Flut, und zwar in einer wahrhaft erschreckenden Weise.
Beim Beginn der neuen Welt war der Altar Noahs als Zeichen des Glaubens und der Anbetung errichtet worden; aber jetzt werden die Stadt und der Turm erbaut, als Zeichen des Trotzes gegen Gott und der angemaßten Unabhängigkeit des Menschen. Und so verschieden diese beiden Dinge sind, so verschieden ist auch die Antwort des Himmels auf dieselben. Der Altar Noahs rief Worte und Zeichen des Friedens und der Sicherheit hervor; das Geschrei der Stadt und das Erbauen des Turmes rufen das Gericht herab. Verderben hienieden und Rache von oben bezeichnen jetzt die Szene, anstatt, wie damals, Anbetung hienieden und Segen von Gott. Bei Noah ließ Gott das glänzende Zeichen seines Bundes in den Wolken erscheinen, aber jetzt zerstreut Er die Gegenstände seines gerechten Zornes über die ganze Erde.
Doch, das ist noch nicht alles. Der hohe und stolze Turm mag umgestürzt, und die Erbauer mögen zerstreut werden, aber ihre Grundsätze bleiben bestehen. Das Gericht bessert den Menschen nicht. Der ganze Geist des Abfalls, der jene stolze und rebellische Vereinigung beseelt hatte, findet sich sehr bald in vollkommener Tätigkeit und Darstellung in einem einzelnen Menschen vereinigt. Nicht lange nach der Zerstreuung (es mögen ungefähr 30 Jahre sein) pflanzt Nimrod, der Enkel Hams, sein Zeichen gerade an derselben Stelle auf, welche Zeugin des Gerichts Gottes gewesen war. „Der Anfang seines Reiches war Babel“ (Kap 10,10). Er entrollt sein Banner angesichts dessen, dem allein die Rache gehört, und ruft gleichsam: Wo ist der Gott des Gerichts? Er war wie der Tor in Psalm 14: „Der Tor spricht in seinem Herzen: Es ist kein Gott.“ „Er sing an, ein Gewaltiger zu sein auf Erden.“ Er jagte „vor Jehova.“ Gott zum Trotz trachtete er nach weltlicher Macht und Erweiterung seines Reiches. Er fügte Haus zu Haus und Feld zu Feld in dem Streben, allein Herr zu sein. Erek und Akkad und Kalne sind Mutterstädte, und das mächtige Ninive mit Rechobot und Kalach und die große Stadt Resen nur Tochterstädte in dem Reich dieses prahlerischen Abtrünnigen. Er hatte kein Herz für das, was Gott ihm geben konnte; er unternahm es, selbst für sich zu sorgen, sein Glück selbst zu machen, um sich dann auch selbst allen Erfolg und alle Ehre zuschreiben zu können. Und gerade so ist der Mensch der Welt heutzutage. Sein Verstand und sein Fleiß, seine Geschicklichkeit und sein Mut machen ihn zu dem, was er ist, und verschaffen ihm das, wonach er strebt. So war Nimrod, dieser große Abtrünnige, das früheste Vorbild jenes Gesetzlosen, der am Ende der Tage seinen eignen Willen tun und das Maß der Ungerechtigkeit des Menschen voll machen wird.
Wie wichtig ist es für unsere Seelen, alles das zu betrachten und darauf zu achten! Warten wir, Geliebte, auf andere und reinere Dinge, und trachten unsere Herzen nach solchen Genüssen, die Gott gutheißen und Jesus mit uns teilen kann?
Hiermit schließt eigentlich der vorliegende Abschnitt. Die Szenen einer bösen und stolzen Empörung sind an unserem Auge vorübergegangen, und das 11. Kapitel endet mit einem schwachen und entfernten Blick auf die Berufung eines anderen himmlischen und von der Welt getrennten Fremdlings. Aber das ist die Dämmerung eines neuen Tages, der Anbruch eines anderen Abschnittes der Wege Gottes, den wir hier nur in der Entfernung erblicken. Wie schon früher bemerkt, schließt mit dem 11. Kapitel der Zweite Teil des ersten Buches Mose. Derselbe stellt eine vollständige abgeschlossene Handlung dar, die in passender Weise der vorhergehenden folgt und ebenso die folgende einleitet. In diesem Abschnitt ist der Schauplatz der Handlung auf die Erde verlegt (Kap 6–11). Vorher, in Kapitel 1–5, stand die himmlische Familie vor unseren Augen, und ihr Lauf endete mit der Verwandlung Henochs; aber hier ist, wie im Anfang im Garten Eden, die Erde wieder der Hauptgegenstand, und ich möchte, bevor wir schließen, den Inhalt dieses kleinen Bandes noch einmal kurz zusammenfassen.
Die Kapitel 6–8 stellen die Sünde und das Gericht der Erde vor, sowie die Erwählung, den Glauben und die Befreiung der Heiligen.
Das 9. Kapitel zeigt uns die neue Stellung des Menschen in der neuen Welt, wie er in derselben ausgestattet und bereichert wird von dem Gott des Himmels und der Erde, und wie dieser Gott ihn in der Gnade des Bundes sicherstellt und zum Repräsentanten und Vollstrecker der göttlichen Autorität macht.
Die Kapitel 19 und 11 endlich enthüllen vor unseren Blicken große Teile der Geschichte der neuen Welt, den Beginn, den Fortschritt und die Reife des Bösen, wodurch die Erde aufs Neue in einen solchen Zustand gebracht wird, dass der Herr sich zum zweiten Male zurückziehen muss und wieder ein Volk absondert, damit dasselbe, wie die Heiligen vor der Flut, auf der Erde ein Volk von himmlischen Fremdlingen bilde.
Himmel und Erde haben so wiederholt das Geheimnis zum Voraus dargestellt, welches sie in den kommenden Tagen, den Tagen der Herrlichkeit, entfalten werden, wenn „in dem Namen Jesu jedes Knie sich beugen wird, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekennen wird, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes des Vaters“ (Phil 2,10–11).
„Das Land soll nicht für immer verkauft werden“, sagt der Herr, „denn mein ist das Land“ (3. Mo 25,23). Dem Menschen ist eine bestimmte Anzahl von Jahren eingeräumt, während welcher es in seine Macht gestellt ist, die göttliche Ordnung zu stören. Neunundvierzig Jahre durfte in Israel das Land verkauft werden, aber im fünfzigsten Jahre machte Gott sein Recht geltend und stellte alles nach seinen eignen Gedanken wieder her; es gab eine Zeit der Erfrischung und Wiederherstellung, als ob Er selbst gegenwärtig wäre. – Welch eine herrliche und glückselige Hoffnung! „Jehovas ist die Erde und ihre Fülle“, heißt es im Anfang des 24. Psalms; und dann folgt die Frage: „Wer wird steigen auf den Berg Jehovas?“ Das heißt: wer wird die Regierung dieser Erde und ihrer Fülle übernehmen? Die Antwort findet sich in der Aufforderung im 7. Vers: „Erhebt, ihr Tore, eure Häupter, und erhebt euch, ewige Pforten, dass einziehe der König der Herrlichkeit! Wer ist dieser König der Herrlichkeit? – Jehova, stark und mächtig! Jehova, mächtig im Kampf!“ Einem ähnlichen Ausruf begegnen wir in Offenbarung 5. Auf die Frage: „Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen?“ erfolgt die Antwort: „das Lamm, das geschlachtet ist, der Löwe aus dem Stamm Juda.“ Der, der auf dem Thron sitzt, gibt diese Antwort dadurch, dass Er das Buch aus seiner Hand in die Hand des Lammes übergehen lässt. Die vier lebendigen Wesen und die gekrönten Ältesten vereinigen sich mit dieser Antwort in dem neuen Lied, welches mit der Aussicht auf ihre Herrschaft über die Erde endet. Die himmlischen Heerscharen schließen sich ebenfalls dieser Antwort an, indem sie alle Stärke und Ehre und Herrlichkeit dem Lamm darbringen; und alle Kreatur endlich, die im Himmel und auf der Erde, unter der Erde und in den Meeren ist, beeilt sich, in ihrer Ordnung und nach ihrem Maß die nämliche Antwort auszusprechen. Das Recht des Lammes, die Herrschaft auf der Erde zu übernehmen, wird also gerade an dem Platz anerkannt und bestätigt, wo allein alle Herrschaft und Würde rechtmäßig bestätigt werden kann: in der Gegenwart des Thrones im Himmel.
Der hochgeborene Mann ist in ein fernes Land gezogen, um ein Reich für sich selbst zu empfangen. Jesus, der alle Macht von Seiten des Gottes dieser Welt (Mt 4) und von Seiten der Volksmenge (Joh 6) zurückwies, nimmt sie von Gott an, wie Er in Psalm 62 sagt: „Auf Gott beruht mein Heil und meine Herrlichkeit.“ Und zur rechten Zeit wird Er zurückkehren, und die, welche Ihn in den Tagen seiner Verwerfung anerkannt haben, werden mit Ihm glänzen an dem Tag seiner Herrlichkeit; diejenigen, welche Ihm hienieden gedient haben, werden dann einen anderen Platz mit Ihm einnehmen.
Im Blick auf diesen Tag sagt Paulus zu Timotheus: „Ich gebiete dir vor Gott ..., dass du das Gebot unbefleckt, unsträflich bewahrst bis zur Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus, welche zu seiner Zeit zeigen wird der selige und alleinige Machthaber, der König der Könige und Herr der Herren.“ Und in derselben Voraussicht konnte der teure Apostel von sich selbst sagen: „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe den Glauben bewahrt; fortan ist mir beigelegt die Krone der Gerechtigkeit, die der Herr, der gerechte Richter, mir zur Vergeltung geben wird an jenem Tag; nicht allein aber mir, sondern auch allen, die seine Erscheinung liebhaben“ (1. Tim 5,14–15; 2. Tim 4,7–8).
Möge der Herr auch unseren Herzen mehr von diesem Geist des Glaubens und von dieser Kraft der Hoffnung geben!