Botschafter des Heils in Christo 1886
Hebräer 6,4-10
Der Anfang des 6. Kapitels der Brief an die Hebräer hat schon zu mancher Frage, auch wohl schon zu manchem Streit Anlass gegeben, und nicht selten sind aufrichtige, aber in der Wahrheit nicht völlig befestigte Seelen durch jenen Abschnitt beunruhigt und verwirrt worden. Indem sie denselben auf wahrhaft bekehrte Personen, auf lebendige Gläubige anwandten, sind sie an der Gewissheit ihrer Errettung und an der ewigen, unveränderlichen Vollgültigkeit des Werkes Christi irregeworden und dadurch in große Unruhe und Not geraten. Solchen Seelen zu Hilfe zu kommen, ist der Zweck dieser Zeilen.
Zu einem richtigen Verständnis jenes Abschnittes ist es vor allen Dingen notwendig, den Zweck und Charakter des Hebräerbriefes zu kennen, und deshalb möchte ich zunächst, so gut ich es vermag, diesen in kurzen Umrissen zeichnen.
Der Hebräerbrief ist, wie sein Name besagt, an Christen aus den Hebräern, dem irdischen Volk Gottes, gerichtet und zu einer Zeit geschrieben, da dieses Volk, obwohl noch im Land Kanaan, doch nicht mehr als Gottes Volk anerkannt wurde. Nachdem es den eingeborenen Sohn und auch das letzte Zeugnis Gottes, das Zeugnis des Heiligen Geistes durch den Mund des Stephanus (vgl. Apg 7,51), verworfen hatte, brach Gott seine bisherigen Beziehungen zu seinem irdischen Volk, als Volk, ab, (den endgültigen Abbruch dieser Beziehungen, auch äußerlich, sehen wir in der Zerstörung Jerusalems) und wird sie nicht eher wieder anknüpfen, bis Israel durch den Ofen der Trübsal geläutert und zubereitet ist, seinen in Herrlichkeit und Macht wiederkehrenden Messias aufzunehmen. Wohl werden die Gläubigen in diesem Brief als von jeher mit Gott in Verbindung und zu Ihm in Beziehung stehend betrachtet – und das unterscheidet ihn wesentlich von dem Römerbrief, in welchem bewiesen wird, dass alle, ob Sünder ohne Gesetz oder Übertreter des Gesetzes, ohne Unterschied „Kinder des Zornes“ sind, welche „die Herrlichkeit Gottes nicht erreichen“ – aber jede Verbindung mit Israel als Nation ist abgebrochen.
Die Verwerfung Christi machte zugleich dem religiösen System der mosaischen Haushaltung ein Ende. Dasselbe hatte wegen der Schwachheit und Nutzlosigkeit des Gesetzes nichts zur Vollendung bringen können (Heb 7,18–19). Obwohl dieses System von Gott selbst angeordnet war, so bestand es doch tatsächlich nur aus Schatten und Vorbildern auf Christus hin. Diese Schatten nun, so kostbar und wertvoll sie an und für sich waren, mussten ihren Wert verlieren, sobald die Wirklichkeit, d. h. Christus, erschien. Alles, was mit der mosaischen Haushaltung in Verbindung stand, war irdischer Natur. Alles aber, was mit Christus und den Gläubigen der gegenwärtigen Zeit in Verbindung steht, ist himmlisch, entsprechend der himmlischen Stellung, welche Christus nach seinem Tod und seiner Auferstehung eingenommen hat.
Der Schreiber des Hebräerbriefes stellt nun in der ganzen Brief diese beiden religiösen Systeme einander gegenüber: das gesetzliche System und die mit demselben in Verbindung stehenden irdischen Dinge, und das neue System der Segnung und Gnade und den durchaus himmlischen Charakter der auf den Tod und die Auferstehung Christi gegründeten neuen Beziehungen zwischen Gott und den Gläubigen. Er ist bemüht, die gläubigen Juden zu veranlassen, ihre jüdischen Beziehungen aufzugeben und, als Genossen der himmlischen Berufung, ihren hienieden verworfenen, aber jetzt zur Rechten Gottes verherrlichten Messias nach den verschiedenen Seiten seiner Stellung und seines Dienstes zu betrachten. Gott stand im Begriff, das alte religiöse System völlig zu zerstören, und deshalb überredet der Brief die Gläubigen, aus diesem System, mit dem sie immer noch in Verbindung standen (vgl. Apg 21,20), herauszugehen und des Herrn Schmach zu tragen, indem sie ihnen zugleich die neue Grundlage ihrer Beziehungen zu Gott in der Person eines Hohepriesters, der in den Himmeln ist, vorstellt.
Diese Gegenüberstellung der beiden religiösen Systeme finden wir besonders auch im Anfang des 6. Kapitels. Der Schreiber des Briefes ist bemüht, zu zeigen, wie verderblich es wäre, zu den vorigen Dingen, den Elementen und Anfangsgründen (V 1–2), welche einem Zustand der Kindheit, aber nicht dem vollen Manneswuchse entsprachen, zurückzukehren und Christus und die himmlischen Dinge, d. h. die christlichen, ans die herrliche Stellung Christi im Himmel gegründeten Vorrechte, wissentlich und vorsätzlich aufzugeben. Wenn jemand das tat, so gab es keine Hoffnung mehr für ihn; denn es gab kein Mittel mehr, um seine Seele wiederherzustellen und sie zur Buße zu erneuern. Denn ein solcher hatte dadurch, dass er mit dem Christentum in Verbindung trat, das Judentum als völlig nutzlos aufgegeben. Wenn er nun, nachdem er einmal erleuchtet war und die himmlische Gabe geschmeckt hatte usw., auch das Christentum, die neuen, himmlischen Dinge, wieder aufgab, so blieb nichts mehr für ihn übrig. Alle Mittel zu seiner Errettung waren erschöpft. Ja, er kreuzigte den Sohn Gottes sich selbst und gab ihn öffentlich der Schmach preis. Er kehrte wissentlich zu dem Volk und zu dem System zurück, das den Sohn Gottes verworfen und gekreuzigt hatte. Ich sage wissentlich; denn er hatte durch die Annahme der christlichen Lehre anerkannt, dass sein Volk jene Sünde begangen hatte. Die Juden hatten es unwissentlich getan, wie das Gebet des Herrn für sie am Kreuz bezeugt. Er aber tat es jetzt wissentlich und vorsätzlich. Und darum blieb für ihn nichts mehr übrig. Das Feld trug nur Dornen und Disteln.
Es handelt sich in dieser Stelle also nicht um die Frage der persönlichen Errettung und des Besitzens oder Nichtbesitzens des ewigen Lebens, sondern einzig und allein um ein Vergleich des Zustandes und der Vorrechte der Bekenner des Judentums und derjenigen des Christentums, obwohl aus dem Bild, das der inspirierte Schreiber nachher gebraucht, zur Genüge hervorgeht, dass er gar nicht an wirklich bekehrte und errettete Seelen denkt. Das Feld in Vers 8 trägt nicht eine Zeitlang Frucht und dann keine mehr, sondern es bringt ausschließlich Dornen und Disteln hervor. Zudem sagt der Apostel im Blick auf die Gläubigen, an die er schreibt: „Wir aber sind in Bezug auf euch, Geliebte, von besseren und mit der Seligkeit verbundenen Dingen überzeugt, wenn wir auch also reden.“ Mochte der Zustand der gläubigen Hebräer noch so schwach sein, so waren doch Früchte vorhanden gewesen. Sie hatten durch ihre Liebe zu den Brüdern den Beweis geliefert, dass sie Leben besaßen (vgl. 1. Joh 3,14).
Betrachten wir jetzt in Kürze die einzelnen Ausdrücke in Vers 4 und 5. Dieselben bezeichnen, wie schon bemerkt, die Vorrechte, welche die christlichen Bekenner der damaligen Zeit besaßen, und die zum Teil (wenn auch in einem weit geringeren Maße) auch heute noch ein Namenschrist genießen kann, ohne wirklich das Leben zu haben.
1.: „Die einmal erleuchtet waren“, d. h. die erkannt hatten, dass in dem Christentum und in der Lehre von Christus allein Heil und Errettung zu finden war. „Erleuchtet“ (wenn auch nicht in Bezug auf die Dinge, um welche es sich hier handelt) war z. B. auch Bileam. Seine Weissagungen sind ebenso wahr wie diejenigen eines Jesaja, und dennoch wird niemand ihn für einen Gläubigen halten.
2.: „Geschmeckt haben die himmlische Gabe.“ Im Gegensatz zu den früheren irdischen Dingen und einer fleischlichen Religion waren sie jetzt mit den himmlischen Dingen bekannt geworden und hatten sich an deren Schönheit und Kostbarkeit erfreut. Ähnliches finden wir bei Simon dem Zauberer (vgl. Apg 8,13), und doch hatte er „weder Teil noch Los in der Sache.“
3.: „Teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes.“ Dieser Ausdruck macht gewöhnlich die meisten Schwierigkeiten, und doch ganz unnötig. Beachten wir wohl, dass es nicht heißt: „aus dem Geist geboren“, oder gar: „versiegelt mit dem Heiligen Geist.“ – Der Geist Gottes war auf der Erde und in jener ersten Zeit der Kirche in ganz besonderer Weise inmitten der Gläubigen wirksam. Seine Macht gab sich kund in den Wundern des zukünftigen Zeitalters, in Gaben, Sprachen, Heilungen usw. Diese Macht des Heiligen Geistes machte sich nun unbedingt einem jeden fühlbar, der unter die Christen eingeführt wurde, und übte ihren Einfluss selbst auf solche aus, die kein geistliches Leben hatten. Diese allen sichtbare, machtvolle Wirksamkeit des Heiligen Geistes ist heute nicht mehr vorhanden, aber dennoch wirkt auch heute noch der Heilige Geist an den Herzen, ohne deshalb persönlich in ihnen zu wohnen, was von den wahren Gläubigen gesagt wird. Dass der Heilige Geist in einem Menschen wirken kann, ohne Wohnung in ihm gemacht zu haben, beweist die Stellung aller Gläubigen des Alten Testaments. Vor dem Pfingstfest wohnte der Heilige Geist überhaupt nicht persönlich auf Erden. „Er war noch nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht war“ (Joh 7,39; vgl. auch Apg 19,2). Wohl wirkte Er in den Gläubigen, aber Er wohnte nicht in ihnen. Von den Propheten des Alten Testaments sagt Petrus: „Heilige Männer Gottes redeten, getrieben vom Heiligen Geist“ (2. Pet 1,21). Und von Saul lesen wir in 1. Samuel 16,17: „Der Geist Jehovas wich von ihm“; und in Kapitel 19,23: „Der Geist Gottes kam auf ihn.“ Bei alledem aber war er kein Mann nach dem Herzen Gottes.
4.: „Geschmeckt haben das gute Wort Gottes.“ Damit ist nicht gesagt, dass jene Personen mittels des Wortes lebendig gemacht waren. Wohl war das Wort auf das Feld gefallen, und der Regen hatte es bewässert; aber es hatte keinen geeigneten Boden gefunden und deshalb auch keine Frucht zur Reife gebracht. Sie glichen vielmehr jener Klasse von Personen in Matthäus 13, die das Wort mit Freuden aufnehmen, aber keine Wurzel in sich haben. Sie hatten verstanden und geschmeckt, wie köstlich dieses Wort ist, aber es hatte keinen durchgreifenden Einfluss auf ihre Herzen und Gewissen ausgeübt.
5.: „Und die Wunderwerke des zukünftigen Zeitalters.“ Das zukünftige Zeitalter ist das 1000–jährige Reich. Zu Anfang desselben wird Christus in Macht und Herrlichkeit erscheinen und alle Macht des Feindes zerstören. Wir lesen in den Propheten viel von den wunderbaren Dingen, die dann geschehen werden (vgl. z. B. Jes 11; 35; 65; Joh 2,21–32; Off 11,5–6). Satan wird in dem Abgrund gebunden sein und nicht mehr wirken können. Ähnliche Wunder waren nun teilweise schon in der Apostelzeit geschehen. Die Kräfte des kommenden Zeitalters waren zum Voraus wirksam, und die Hebräer hatten die Wunder und Zeichen gesehen, die durch die Hände der Apostel und der ersten Christen geschehen waren. Nun aber konnte jemand Zeuge dieser Wunder gewesen sein, ja, mehr noch, er konnte selbst in jener ersten Zeit Wunder verrichtet haben, ohne wirklich Leben aus Gott zu besitzen. Auch Judas, der Verräter, trieb Teufel aus. Der Herr sagt deshalb zu seinen Jüngern: „Freut euch nicht, dass euch die Geister untertan sind; freut euch aber, dass eure Namen geschrieben sind in den Himmeln“ (Lk 10,19–20). In Matthäus 7,22–23 lesen wir sogar: „Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr! haben wir nicht durch deinen Namen geweissagt und durch deinen Namen Teufel ausgetrieben und durch deinen Namen viele Wunderwerke getan? Und dann werde ich ihnen bekennen: ich habe euch niemals gekannt; weicht von mir, ihr Übeltäter!“
Es handelt sich also, ich wiederhole es, in dieser Stelle durchaus nicht um die Frage der persönlichen Errettung; und deshalb ist es völlig verkehrt, aus derselben folgern zu wollen, dass ein Erretteter, ein Kind Gottes, wieder verloren gehen könnte. Kann ich jemals aufhören, der Sohn meines leiblichen Vaters zu sein? Wie könnte ich denn, wenn ich wirklich ein Kind Gottes bin, von Ihm selbst gezeugt durch das Wort der Wahrheit, jemals aufhören, ein solches zu sein? Vgl. von vielen Stellen, welche die ewige Sicherheit und die Bewahrung des Gläubigen durch Gott verbürgen, nur Johannes 10,27–30; Römer 8,38–39; 1. Petrus 1,4–5.
Möge der Herr in seiner Gnade diese Zeilen zur Beruhigung wirklich aufrichtiger Seelen dienen lassen! Gottes Werk kann nimmermehr zerstört werden. Doch sollte diese gesegnete Tatsache uns je erlauben, in Gleichgültigkeit und Leichtfertigkeit zu wandeln? Gott bewahre uns vor einem solchen Gedanken! Stets ruht die ernsteste Verantwortlichkeit auf uns. Der, welcher uns berufen hat, ist heilig, und so sollten auch wir heilig sein in allem Wandel. Nicht umsonst ermahnt daher der Apostel: „Wenn ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeden Werk, so wandelt die Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht“ (1. Pet 1,14–19).