Botschafter des Heils in Christo 1886

Mephiboseth

Wie lieblich ist die Gnade Gottes, die uns in Christus Jesus geschenkt worden ist, in der kurzen Geschichte Mefi-Boschets vorbildlich dargestellt! In seiner Abkunft von dem gefallenen, ungehorsamen und verworfenen Könige Saul sehen wir unsere Verbindung mit dem ersten Menschen, der da fiel und durch seinen Ungehorsam sein ganzes Geschlecht in Verderben und Verdammnis stürzte. Wie Mefi-Boschet lahm war an seinen beiden Füßen, so sind auch wir tatsächlich hilflos in unserem moralischen, verlorenen Zustand, in welchen wir durch die Sünde gekommen sind. Er wohnte weit weg von Jerusalem, dem Mittelpunkt irdischer Segnungen; und so sind auch wir von Natur, nach Herz und Geist, von Gott, dem einzigen Quell und Mittelpunkte alles Guten, entfremdet.

In diese Finsternis, so groß sie ist, scheint nun das Licht der Gnade. David, jetzt in Ruhe auf seinem Thron sitzend, ein unumschränkter Herr in allem, ist ein treffendes Vorbild des hochgelobten Gottes, dessen Thron des Gerichts nunmehr ein Thron der Gnade ist, von wo aus alles Erbarmen und aller Segen sich ergießt. David lässt fragen: „Ist noch jemand, der übriggeblieben ist vom Haus Sauls, dass ich Güte an ihm erweise um Jonathans willen?“ Nicht an den Hass und das Böse Sauls denkt David, sondern „um Jonathans willen“, welcher der Vielgeliebte war, will er Güte erweisen. Es wird uns nicht schwer, dies zu verstehen, wenn wir an uns denken. Christus, der vielgeliebte Sohn, ist die Grundlage und Ursache alles dessen, was Gott jetzt an uns, den Gläubigen, tut. Wenn wir dies erst begriffen haben, so genießen wir einen dauernden Frieden, und wir sind dann fähig, die Entfaltung der wunderbaren Gedanken und Ratschlüsse Gottes über uns zu verstehen.

Fernher, von dem Wohnort der Verbannung in Lo-Dabar (d. h. ohne Weide), wird Mefi-Boschet geholt und gerade so, wie er ist, zu David gebracht. Alles nämlich, was ihm an Güte erwiesen wird, gründet sich nicht auf das, was er ist, sondern auf das, was der Geliebte ist; und wenn Mefi-Boschet gesegnet wird, so muss seine Segnung dem königlichen Wohlgefallen an Jonatan entsprechen. Was hätte dieser nun, in seiner Verwunderung und Bestürzung darüber, dass er sich in des Königs Gegenwart sah, passender ausrufen können, als: „Was ist dein Knecht, dass du dich zu einem toten Hund wendest, wie ich bin?“ Es ist allerdings ein niedriger Platz, den Mefi-Boschet hier für sich in Anspruch nimmt, aber es ist der einzig richtige. David wusste, was Mefi-Boschet war, vielleicht besser, als dieser selbst; trotzdem aber und trotz allem muss David nach seiner Gesinnung und nach dem Willen seines Herzens mit ihm handeln; denn er ist König und handelt in seinen königlichen Vorrechten. Ähnlich handelte der Vater des verlorenen Sohnes in Lukas 15. Wohl war es ganz richtig, dass der Sohn alles sagte, was er getan hatte, und es tief fühlte; aber es war ebenso richtig, dass es dem Vater erlaubt war, seinen eigenen Gefühlen zu folgen in der Erweisung seiner Gunst und seines Segens, obwohl der Gesegnete „nicht mehr wert war, sein Sohn zu heißen.“

Alles dieses redet lauter zu uns, als Worte es vermöchten, welcher Art die Liebe Gottes zu uns ist und wie wunderbar sie segnet.

Die ersten Worte, die David an Mefi-Boschet richtete, lauten: „Fürchte dich nicht!“ Also lautete nachmals häufig die erste Begrüßung, womit der Herr die Seelen empfing; denn „die Furcht hat Pein“, und solange die Furcht nicht verbannt ist, ist die Seele nicht fähig, aufzumerken und zu hören. Darauf teilt David ihm den Vorsatz seines Herzens mit: „Ich will gewiss Güte an dir erweisen um Jonathans, deines Vaters, willen, und will dir alles Feld deines Vaters Saul zurückgeben, und du sollst beständig das Brot essen an meinem Tisch.“ Hier finden sich drei Dinge: Güte, ein Erbteil und Gemeinschaft. Diese drei Gaben haben in unserer Zeit ihre gesegneten Gegenstücke: Wir stehen in göttlicher Gunst (Röm 5,2; Eph 1,6), wir haben ein Erbteil (Eph 1 und 2), und wir haben Gemeinschaft mit Gott (1. Joh 1,3).

O, welch eine Stellung und welch ein Teil ist denen verliehen, die in diesen Tagen der Gnade sich der Gerechtigkeit Gottes unterworfen haben!

Nicht nur genoss Mefi-Boschet königliche Huld, sondern er ist aus der Ferne dem König so nahegebracht, dass er beständig mit ihm das Brot essen darf an seinem Tisch „wie einer von den Königssöhnen.“ Wie unendlich schön ist dies und wie weit köstlicher, als der Gedanke an den Besitz des Erbteils! Auch wir haben „in Christus“ ein Erbteil; auch wir stehen in Ihm in der Gunst Gottes; was aber könnte höher sein hienieden, als die Erfahrung des Vorrechts: „unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus?“ Gleichwie bei Mefi-Boschet nun dieses Vorrecht kein vorübergehendes war, sondern sein beständiges Teil, so können auch wir in unserem ganzen Leben, in seinen großen und kleinen Einzelheiten, durch den Heiligen Geist so nahe der Gegenwart Gottes leben, dass wir diese Gemeinschaft genießen.

Von nicht geringerem Interesse für uns sind die späteren Mitteilungen, welche Mefi-Boschet betreffen (2. Sam 16 und 19). Sie zeigen uns die Wirkung der Gnade auf sein Herz, die sich darin erwies, dass er Liebe offenbarte und sich selbst völlig vergaß. Es ist der Mühe wert, darüber nachzusinnen, und gesegnet, ihm hierin nachzufolgen.

Nächstes Kapitel »« Vorheriges Kapitel