Botschafter des Heils in Christo 1886
Das Kreuz Christi
Wenn wir zum Kreuz Christi kommen, so müssen wir durch unsere Bedürfnisse und Sünden dorthin gezogen worden sein. Niemand kommt in Wahrheit zu demselben, er komme denn als ein Sünder, dessen Sünden ihn hierhergebracht haben. Aber wenn wir in vollkommenem Frieden, auf Grund der Vollgültigkeit des Werkes, das Er dort vollbrachte, durch den zerrissenen Vorhang in die Gegenwart Gottes eingetreten sind und nun auf das Kreuz zurückschallen, durch welches wir in diese Stellung gelangt sind, so finden wir in demselben, von seiner göttlichen Seite aus betrachtet, eine ihm allein eigene Herrlichkeit und Vortrefflichkeit; und auf diesen gesegneten Eigenschaften beruhen alle Wege Gottes, selbst die Schöpfung des neuen Himmels und der neuen Erde. Gott wurde durch das Kreuz vollkommen verherrlicht.
Am Kreuz sehen wir den Höhepunkt des Guten sowohl, als auch des Bösen; allem wurde hier entsprochen. Um das Gute des Kreuzes zu entdecken und zu erlangen, muss ich als Sünder zu ihm kommen. Wenn wir aber Frieden durch das Kreuz gefunden haben, indem wir, durch dasselbe versöhnt, in die Gegenwart Gottes gestellt worden sind, so umschließt es alles, was wir je sehen werden: Wir werden nie das Lamm vergessen, das geschlachtet worden ist.
Am Kreuz erblicken wir die Vollendung der Sünden des Menschen: positive Feindschaft gegen den Gott, der in Güte ihm nahegekommen war. Mit nichts Geringerem, als mit der Wegschaffung des Sohnes Gottes, wollte der Mensch sich zufriedengeben. Petrus musste den Juden zurufen: „Ihn habt ihr durch die Hand der Gesetzlosen angeheftet und umgebracht“ (Apg 2,23), und der Herr selbst sagte: „Wenn ich nicht die Werke getan hätte, die kein anderer getan hat, so hätten sie keine Sünde, (so wären sie darin gerechtfertigt gewesen, Ihn zu verwerfen) jetzt aber haben sie gesehen und gehasst sowohl mich, als auch meinen Vater“ (Joh 15,24). Im Kreuz zeigt sich am völligsten die Bosheit des Menschen. Gott wurde dem Menschen in Güte dargestellt; aber diese Darstellung brachte nur den Hass des Menschen an den Tag. Die Kraft war in Christus gegenwärtig und begegnete durch sein Wort den traurigen Folgen der Sünde; aber gerade die Entfaltung dieser Kraft brachte die Feindschaft des menschlichen Herzens gegen Gott völlig zum Vorschein, und – sie kreuzigten Ihn. Im Kreuz Christi hat sich völlig erwiesen, was der Mensch in sich vor Gott ist. Der Mensch hatte das Gesetz gebrochen; nun war Gott in Christus dazwischengetreten in einer vollkommenen Gnade und in einer Kraft, die sein ganzes Elend wegnehmen konnte; aber eben darum, weil es Gottes Kraft war, wollte der Mensch nichts davon wissen: er kreuzigte Ihn.
Zugleich erblicken wir in dem Kreuz die ganze Macht Satans. Der Herr sagte deshalb: „Jetzt ist das Gericht dieser Welt, jetzt wird der Fürst dieser Welt ausgeworfen werden“ (Joh 12,31). Er war der Anführer der Menschen gegen Christus, nach den Worten des Herrn: „Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis“ (Lk 22,53). Der Herr hatte den Feind in der Wüste in der Versuchung überwunden, und in Lukas lesen wir: „Er wich für eine Zeit von Ihm.“ Jetzt sagt der Herr: „Der Fürst dieser Welt kommt, und hat nichts in mir“ (Joh 14,30). Es gelang ihm, der die Gewalt über die Welt hatte, den ganzen Hass des menschlichen Herzens gegen Christus zu erregen.
Welch einen gewaltigen Gegensatz zu diesem allem bietet die absolute Vollkommenheit des zweiten Menschen, Christus Jesus! Er sagt: „Aber auf dass die Welt erkenne, dass ich den Vater liebe und also tue, wie mir der Vater geboten hat“ (Joh 14,31). In Ihm finden wir vollkommene Liebe zum Vater und vollkommenen Gehorsam; und als Er den schrecklichen Kelch zu trinken hatte, (wie ernst ist der Gedanke, dass dies für uns unumgänglich nötig war!) erwies sich seine vollkommene Liebe zum Vater, sein vollkommener Gehorsam gerade an dem Ort, wo Er (für uns) zur Sünde gemacht war.
Ferner sehen wir am Kreuz, wie die unendliche Liebe und Gnade Gottes überströmender geworden ist, als die Sünde. Wir erblicken seine vollkommene Liebe, in welcher Er uns seinen Sohn gegeben hat, und gleichzeitig seine vollkommene Gerechtigkeit in ihrem Gericht über die Sünde, und endlich die Befriedigung der Forderungen der Majestät Gottes. „Es geziemte Ihm, um dessentwillen alle Dinge und durch den alle Dinge sind, indem Er viele Söhne zur Herrlichkeit brachte, den Anführer ihrer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen“ (Heb 2,10).
So sehen wir, wie sich alles dieses: das vollkommen Böse im Menschen und in Satan, und andererseits das vollkommen Gute im Menschen (doch Er war Gott) und die vollkommene Liebe Gottes und seine Gerechtigkeit im Gericht über die Sünde – am Kreuz völlig erwiesen hat; das Böse und das Gute trafen hier zusammen. Und hier am Kreuz wurde in Gerechtigkeit der feste, nie wankende Grund gelegt zu allem, was im neuen Himmel und auf der neuen Erde an Güte und Segnungen gefunden werden wird, welche Segnungen nicht auf dem Grund der Verantwortlichkeit beruhen, sondern auf der Vollgültigkeit des vollbrachten Werkes, dessen Wert nimmer ganz erkannt werden wird.
Je länger wir über das Kreuz nachsinnen – zu dem wir als Sünder kamen, um errettet zu werden, dass wir aber nun als Christen, versöhnt mit Gott, anschauen und betrachten können – desto völliger erkennen wir, dass es in der Geschichte der Ewigkeit ganz einzig dasteht. Göttliche Herrlichkeit, die Sünde des Menschen und eines Menschen Vollkommenheit, die Bosheit Satans und Gottes Macht, Liebe und Gerechtigkeit wurden hier zu gleicher Zeit völlig offenbart, und es ward ihnen gottgemäß entsprochen. Demzufolge ist das Kreuz die unwandelbare Grundlage aller Segnungen des Menschen und alles Guten im Himmel und auf Erden. Und jetzt, nachdem unsere Seelen die Versöhnung empfangen haben, schauen wir auf Ihn und lernen von Ihm. Er sagt: „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig, und ihr werdet Ruhe finden.“ Die Welt hatte Ihn verworfen, es gab keine Ruhe für Ihn hienieden. Mit wunderbarer Geduld hatte Er nach einem Ort der Ruhe gesucht, aber nichts der Art war zu finden. Der Sohn des Menschen hatte nicht, und zwar nicht nur äußerlich, wo Er sein Haupt hinlegen konnte; Er fand nichts, worin sein Herz hätte ausruhen können, wie auch Noahs Taube „keinen Ruheplatz fand für ihren Fuß.“ „Ich habe“, so musste Er klagen, „auf Mitleiden gewartet, aber da war keines, und auf Tröster, aber ich habe sie nicht gefunden“ (Ps 69,20). Und gerade inmitten dieser Gefühle ruft Er aus: „Kommt her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und ich werde euch Ruhe geben. Nehmt auf euch mein Joch ... und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen“ (Mt 11,28–30).
Möchte doch unser Inneres, während wir in dem gesegneten Ergebnis seines vollgültigen Opfers ruhen, mehr und mehr durch Ihn, den Hochgelobten, gebildet werden! Das ist das praktische Geheimnis für unseren Wandel durch diese Welt. Er sagt: „Wer mich isst, wird auch leben meinetwegen“ (Joh 6,57). Wahrlich, unser Geschmack an Ihm und für Ihn sollte beständig wachsen. Im Kreuz gibt es zwei Seiten für das christliche Leben. Soll es mir Mut und den Sieg über die Welt verleihen, so schaue ich auf seine Herrlichkeit, wie der Apostel Paulus in Philipper 3 es tut. Dort haben wir die Energie, welche sich ausstreckt und läuft, um Christus zu gewinnen, und welche alles außer Ihm für Schaden und Dreck achtet. Die andere Seite finden wir im 2. Kapitel des Philipperbriefes; hier ist es nicht die vor uns liegende Herrlichkeit, sondern die Gesinnung, die in Christus war, die Demut und Hingebung des Herrn, „der sich selbst erniedrigte und gehorsam ward bis zum Tod, ja, zum Tod des Kreuzes.“