Botschafter des Heils in Christo 1886
"Nicht aus Werken"
Wenn man auf der Reise oder auf einem Gang über Land Gelegenheit nimmt, mit den Mitreisenden oder den desselben Weges Wandernden ein Wort über das Heil ihrer unsterblichen Seele zu reden, so macht man mancherlei Erfahrungen. Da gibt es viele, die durchaus nichts hören wollen von solch ernsten Dingen und die den unliebsamen Warner mehr oder weniger schroff abweisen; da gibt es andere, die auf die Frage nach ihrem Seelenheil gleich mit der Antwort bei der Hand sind: „Ich gehe fleißig zur Kirche, erfülle meine religiösen Pflichten nach jeder Seite hin und denke, dass ich damit genug getan habe“; mit diesen Worten wenden sie sich gleichgültig ab und glauben wirklich, in ihrem völligen Recht zu sein. Die meisten Menschen gehören zu diesen beiden Klassen von Personen – sie sind entweder feindselig gegen die Wahrheit Gottes, oder sie sind gleichgültig und zufrieden mit sich selbst und mit ihrer äußeren religiösen Form. Eine dritte Klasse, die schon weniger zahlreich ist, aber immerhin noch viele Hunderttausende umschließt, trägt ein ernsteres Äußere. In ihr befinden sich solche Personen, die den Sprecher ruhig anhören und ein offenbares Interesse an dem angeregten Gegenstand bekunden. Ihre Antwort auf die Frage nach dem Heil ihrer Seele lautet: „Ich wünsche sehr, in den Himmel zu kommen, und ich tue, was in meinen Kräften steht, um mir einen Platz dort zu sicheren. Ich hoffe auch, noch immer mehr tun zu können und dem Ziel meines Strebens allmählich näher zu kommen.“
Eine solche Sprache ist dem menschlichen Herzen nur zu natürlich. Das Herz des Menschen ist ein stolzes, trotziges Ding; es beugt sich nicht gern und bäumt sich auf gegen das Urteil Gottes, dass „da keiner ist, der Gutes tue, auch nicht einer.“ Die Personen, die zu der letzten Klasse gehören, geben gewöhnlich gern zu, dass viele ihrer Worte und Handlungen unrein und böse waren, aber sie denken zu gleicher Zeit, so viel Gutes getan zu haben oder noch zu tun, dass, wenn Gott einst beide auf die Waagschale lege, die guten Werke die bösen überwiegen oder ihnen doch wenigstens die Waage halten würden. Auf diese Weise hoffen sie, errettet zu werden. Sie beurteilen ihr Leben nach ihren eignen Gedanken und nach dem Maßstab ihres eignen Gerechtigkeitsgefühls. Sie selbst entscheiden darüber, was in ihrem Verhalten recht und was nicht recht war. Auch vergleichen sie sich gern mit anderen, mit ihren Freunden und Bekannten, und urteilen, dass sie doch nicht schlechter seien, als die meisten, und gewiss besser, als viele von ihnen. Deshalb glauben sie, gegründete Aussicht auf ein gutes Ende und auf ein gnädiges Urteil von Seiten Gottes zu haben, und meinen, dass kein Grund zur Furcht für sie vorhanden sei.
Zu dieser letzten Klasse von Personen dürfen wir auch noch solche rechnen, die sich beeifern, ein religiöses Leben zu führen, die mit vielem Ernst und großer Pünktlichkeit den öffentlichen Gottesdiensten beiwohnen und daheim im eignen Haus strenge darauf halten, dass die Bibel oder das Gebetbuch regelmäßig gelesen und vor und nach den Mahlzeiten dem Geber aller Gaben gedankt werde; deren Name in dem Mitglieder Verzeichnis mancher christlichen Vereine zu finden ist, und die stets eine offene Hand bei Sammlungen für mildtätige oder religiöse Zwecke haben, die treu an ihrer Kirche und an ihrem Glaubensbekenntnis festhalten und die, auf Grund aller dieser Dinge, denken, dass ihr Christentum alle die Eigenschaften habe, welche Gott Zufriedenstellen und ihnen den Himmel sicheren müssten.
Doch wie töricht und eitel sind alle solche Gedanken und Meinungen! Ein einziges Wort der Heiligen Schrift stößt sie alle über den Haufen, und dieses Wort heißt: „nicht aus Werken, auf dass nicht jemand sich rühme“ (Eph 2,9). Wenn ein Mensch durch sein eigenes Tun errettet werden könnte, so ist es klar, dass er Grund hätte, sich denen gegenüber zu rühmen, die noch nicht die nötige Anzahl guter Werke getan und die erforderliche Stufe in dem christlichen Leben noch nicht erreicht haben. Doch was sagt das Wort: „Wo ist denn der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzes Werke“ (Röm 3,27–28). Es ist daher ein trauriger, verhängnisvoller Irrtum, wenn jemand auf Grund seiner Werke errettet zu werden hofft. Die Möglichkeit, durch sein eigenes Tun Gott befriedigen zu können und auf diesem Weg in den Himmel einzugehen, ist völlig ausgeschlossen und wird von dem Wort Gottes in der klarsten und unzweideutigsten Weise verneint. Es ist bei Menschen unmöglich.
Außerdem ist es offenbar, dass, wenn ein Mensch etwas tun könnte, was Gott aus seinen Händen anzunehmen vermöchte, er auch mehr zu tun imstande wäre, und hieraus würde dann unmittelbar folgen, dass Christus nicht hätte in diese Welt zu kommen brauchen, um zu suchen und zu erretten, was verloren ist, und am Kreuzesstamm für den Sünder zu sterben. Deshalb lesen wir auch in dem Brief an die Galater: „Wenn die Gerechtigkeit durchs Gesetz kommt, so ist Christus umsonst gestorben“ (Kap 2,21).
Soll hierdurch die Notwendigkeit guter Werke geleugnet werden? Keineswegs! Das Wort Gottes ermuntert vielmehr an vielen Stellen dazu, allezeit überströmend zu sein in dem Dienst Gottes und in dem Werk des Herrn. Aber fordert Gott gute Werke, ja, ein einziges, noch so geringes Werk, von einem verlorenen, sündigen Menschen? Nein, vielmehr ergeht an einen solchen die dringende Aufforderung: „Tue Buße und bekehre dich! Kehre um von deinem bisherigen Wege und lass dich versöhnen mit Gott! Eile mit einem bußfertigen, zerknirschten Herzen zu Jesu und glaube an Ihn, der für den Sünder litt und starb und die Strafe für seine Sündenschuld trug!“ – „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen“ (Heb 11). – Von wem erwartet und fordert Gott denn gute Werke und ein Ihm geweihtes Leben? Von den Gläubigen, von denen, die errettet, gereinigt und geheiligt sind, und in deren Herzen die Liebe Gottes ausgegossen ist durch den Heiligen Geist, der in ihnen Wohnung gemacht hat. Sie sind „geschaffen in Christus Jesus zu guten Werken“ (Eph 2).
Der große, schreckliche Irrtum des selbstgerechten Menschen besteht also darin, dass er, ohne zu glauben, durch sein eigenes Tun Gott Wohlgefallen und Ihn gleichsam zwingen will, ihm auf Grund seiner vermeintlich guten Werke einen Platz in der Herrlichkeit zu geben. Ich sage noch einmal: Wie töricht und eitel, ja, wie verderblich sind alle solche Gedanken und Meinungen! Der Mensch hat es mit Gott zu tun, und zwar mit einem Gott, der zu rein von Augen ist, um das Böse zu sehen, um einen Flecken von Sünde in seiner heiligen Gegenwart zu dulden, und der in seinem Wort wieder und wieder erklärt hat, dass da keiner ist, der Gutes tue, auch nicht einer. „Sie sind alle abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden.“ – „Darum, aus Gesetzes Werken wird kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt werden.“ – „Die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen.“ – „Denn es ist kein Unterschied, denn alle haben gesündigt und erreichen nicht die Herrlichkeit Gottes.“
Gott ist Richter, und Er urteilt nach dem Maßstab seiner vollkommenen, göttlichen Gerechtigkeit und Heiligkeit, und nicht nach den Gedanken des armen, kurzsichtigen, sündigen Menschen. Ja, Er hat schon sein Urteil über den Zustand eines jeden Menschen von Natur ausgesprochen. Wie töricht ist daher ein jeder, der, anstatt dieses Urteil und seine ernsten Folgen zu erwägen und mit Aufrichtigkeit zu sagen: „Was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten trachtet, die doch am Ende nichts anders ist, als „ein unflätiges Kleid“, das den Sünder nimmer in den Stand setzt, vor dem Gott bestehen zu können, dessen Augen wie Feuerflammen und vor dem selbst die Himmel nicht rein sind, der „Seinen Engeln Torheit zur Last legt!“
Und doch ach! Wie viele gibt es, die in dem törichten Wahne dahinleben, ohne Glauben, d. h. ohne in Wahrheit als verlorene, verdammungswürdige Sünder zu Jesu gekommen zu sein und in dem Glauben an sein vollbrachtes Werk Frieden und Vergebung gefunden zu haben, Gott Wohlgefallen 311 können! Wie vielen kann man täglich begegnen, die, im Vertrauen auf ihre „guten Werke“, ihr Ohr vor den ernsten Ermahnungen des Wortes Gottes verschließen und sich selbstgefällig in das Gewand ihrer eignen Gerechtigkeit hüllen! Wie wahr ist das Wort eines alten Christen: „Die guten Werke des Menschen sind nichts als glänzende Sünden!“ Das Wort Gottes nennt sie „tote“ Werke. Es ist eine unumstößliche Tatsache, dass ein fauler Baum niemals gute Früchte hervorbringen kann. Darum ist es unumgänglich notwendig, dass der ganze alte Baum hinweggetan und zu einem neuen, guten Baum gemacht werde. Das steht allerdings nicht in der Macht des Menschen, aber „was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott.“
Darum noch einmal: der Mensch muss von neuem geboren sein und Frieden mit Gott haben, um Gott in einer Ihm wohlgefälligen Weise dienen zu können. Er muss ewiges Leben besitzen durch unseren Herrn Jesus Christus, ehe er seine Glieder Gott zu Werkzeugen der Gerechtigkeit darzustellen vermag. Er muss in Christus Jesus zu einer neuen Schöpfung geworden sein, um wahrhaft „gute“ Werke tun und mit glücklichem, friedeerfülltem Herzen der Ewigkeit entgegengehen zu können.
Und nun, mein Leser, erlaube mir die Frage: Bist du wiedergeboren? Hast du Frieden mit Gott? Besitzest du ewiges Leben in Christus Jesus, und bist du in Ihm zu einer neuen Schöpfung geworden? Oder gehörst du noch zu einer der drei oben erwähnten Klassen? – Bedenke: „Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben; wer aber dem Sohn nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm!“ (Joh 3,36) und: „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen.“