Gekommen – um zu dienen
Kapitel 7
Die Überlieferungen und Gebote der Ältesten
„Und es versammelten sich bei ihm die Pharisäer und einige der Schriftgelehrten, die von Jerusalem gekommen waren; und sie sahen einige seiner Jünger mit unreinen, das ist ungewaschenen Händen Brot essen. (Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, wenn sie sich nicht mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben, und halten so die Überlieferung der Ältesten; und vom Markt kommend, essen sie nicht, wenn sie sich nicht gewaschen haben; und vieles andere gibt es, was sie zu halten übernommen haben: Waschungen der Becher und Krüge und Kupfergefäße und Liegepolster.) Und die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragen ihn: Warum wandeln deine Jünger nicht nach der Überlieferung der Ältesten, sondern essen das Brot mit unreinen Händen?“ (7,1–5).
Kapitel 6 und 7 zeigen Gefahren und Widerstände, die den Nachfolgern des Herrn begegnen können. Doch finden wir jeweils einen etwas anderen Gesichts- oder Schwerpunkt:
In Kapitel 6 wurde im Bild von Herodes besonders der Einfluss und Widerstand der weltlichen Macht gegenüber den Dienern Gottes gezeigt. In Kapitel 7 steht mehr die religiöse Macht im Vordergrund. Falsche religiöse Einflüsse und tote äußere Formen können dem Diener großen Schaden zufügen.
Der Wind und die Wellen in Kapitel 6 symbolisieren widrige Umstände, die die Herde Gottes von außen bedrängen. Hier in Kapitel 7 tritt das Böse in den Vordergrund, das von innen zu einem verderblichen Feind der Wahrheit heranreift. Dies ist insbesondere dann sehr gefährlich, wenn es sich – wie hier – unter dem Deckmantel äußerer Frömmigkeit versteckt.
So können wir sagen, dass der Teufel in Kapitel 6 als „brüllender Löwe“ (1. Pet 5,8) auftritt und in Kapitel 7 als „Engel des Lichts“ (2. Kor 11,14). Beide Taktiken versteht der Feind jeweils passend anzuwenden.
Das große Thema der Verse 1–23 ist die Frage nach dem Stellenwert menschlicher Überlieferungen, Traditionen und Gebote. Menschliche Traditionen werden den Worten und Geboten Gottes gegenübergestellt.
Traditionen an sich können gut und nützlich sein, doch es kommt darauf an, welchen Wert sie für uns haben. Setzen wir sie über Gottes Wort, sind sie immer falsch. Die Ältesten im Volk Israel hatten im Lauf der Zeit eine Reihe eigener Verordnungen und Vorschriften aufgestellt. In diesen Versen wird von Waschungen der Hände, Krüge und Becher berichtet. Es kann sein, dass diese Anordnungen von den religiösen Waschungen im Alten Testament abgeleitet worden waren. So lesen wir in den Büchern Moses z. B. von Waschungen in Verbindung mit den Opfern und dem Priesterdienst (vgl. 2. Mo 30,19–21).
Doch was der Herr in diesen Versen so verurteilt, ist, dass die Ältesten und Schriftgelehrten in ihren Anordnungen über das Wort Gottes hinausgingen und etwas zu den Geboten Gottes hinzufügten – etwas, was Gott streng untersagt hatte (z. B. 5. Mo 4,2). Damit untergruben sie die Autorität Gottes im Haus Israel. Für sie waren diese äußeren Formen und Zeremonien zu einer Religion geworden. Darüber hinaus verurteilten sie hartherzig alle, die ihre Anordnungen nicht befolgten. Es waren ihre eigenen Überlieferungen und nicht Gottes Wort, aber sie taten so, als wäre es umgekehrt.
Den Pharisäern ging es darum, nach außen ein korrektes Erscheinungsbild abzugeben, während sie innerlich weit davon entfernt waren, nach den Geboten Gottes zu leben. Ist das nicht auch ein Problem unserer Zeit? Man legt großen Wert darauf, dass nach außen alles „passt“, ignoriert das Wort Gottes ansonsten aber in vielen Punkten.
Der Herr tadelt die Pharisäer und Schriftgelehrten
„Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Treffend hat Jesaja über euch Heuchler geweissagt, wie geschrieben steht: „Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von mir. Vergeblich aber verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren.“ Das Gebot Gottes habt ihr aufgegeben, und die Überlieferung der Menschen haltet ihr: Waschungen der Krüge und Becher, und vieles andere dergleichen tut ihr. Und er sprach zu ihnen: Geschickt hebt ihr das Gebot Gottes auf, um eure Überlieferung zu halten. Denn Mose hat gesagt: „Ehre deinen Vater und deine Mutter!“, und: „Wer Vater oder Mutter schmäht, soll des Todes sterben.“ Ihr aber sagt: Wenn ein Mensch zum Vater oder zur Mutter spricht: Korban (das ist eine Gabe) sei das, was irgend dir von mir zunutze kommen könnte. Und so lasst ihr ihn nichts mehr für seinen Vater oder seine Mutter tun, indem ihr das Wort Gottes ungültig macht durch eure Überlieferung, die ihr überliefert habt; und vieles dergleichen tut ihr“ (7,6–13).
Der Herr weist die Pharisäer und Schriftgelehrten daher streng zurecht. Er zeigt ihnen, dass ihre Religion der äußeren Formen sie erstens zu Heuchlern machte (V. 6), zweitens, dass so eine Religion vergeblich ist (V. 7), und drittens, dass sie dadurch das Wort Gottes beiseitesetzen (V. 9.13).
Dabei ist es sehr lehrreich, zu sehen, wie der Herr in Vers 6 ihren Anklagen begegnet. Er fängt nicht an, mit ihnen über die Rechtmäßigkeit ihrer Anordnungen zu diskutieren, sondern konfrontiert sie direkt mit dem geschriebenen Wort Gottes und wendet es auf ihren geistlichen Zustand an. Das ist auch für uns die einzig richtige Vorgehensweise in Gesprächen mit Ungläubigen, wenn wir ihre Herzen und Gewissen erreichen wollen. Wenn wir uns auf Diskussionen und Streitgespräche einlassen oder versuchen, mit eigenen Worten zu argumentieren, werden wir schnell den Kürzeren ziehen und nichts erreichen. Das Wort Gottes allein ist es, was Menschen treffen und zur Buße leiten kann.
Der Herr war auf diese Erde gekommen, um die Menschen ins Licht zu stellen (Joh 1,9). So erweist Er sich auch hier, indem Er die Gesetzlichkeit und Heuchelei der Führer des Volkes offenbart. Mit dem Zitat aus Jesaja 29,13 stellt Er den Zustand dieser Menschen ins Licht. Sie waren von Heuchelei und äußerer Frömmigkeit gekennzeichnet. Wie schrecklich das für Gott ist, wird deutlich, wenn wir daran denken, wie viel Wert Gott im Alten Testament auf echte Herzensfrömmigkeit legte.
Das Volk ehrte Ihn mit den Lippen. Das war an sich nicht verkehrt. Das Problem war, dass sie es nur mit den Lippen taten und ihr Herz weit entfernt von Ihm war. Wie sieht es diesbezüglich bei uns aus, wenn wir es einmal ganz praktisch auf das Zusammenkommen zum Brotbrechen anwenden? Sind wir mit dem Herzen dabei, oder ist es uns nur wichtig, dass die Äußerlichkeiten korrekt sind? Singen wir die Lieder von Herzen mit und sprechen wir von Herzen ein „Amen“ zu den Gebeten, oder tun wir es nur mit den Lippen und sind mit unseren Herzen und Gedanken ganz woanders? Wenn wir einmal darüber nachdenken, erkennen wir, wie aktuell diese Verse für uns sind.
Die Kernvorwürfe des Herrn an die Pharisäer und Schriftgelehrten sind:
- das Aufgeben der Gebote Gottes (V. 8.9) und
- das Ungültigmachen des Wortes Gottes (V. 13).
Auch heute erkennen viele Menschen die Autorität des Wortes Gottes nicht an, weil es ihr Gewissen anspricht.
In den Versen 11–13 zeigt der Herr am Beispiel des Korban ganz praktisch, wie die Überlieferungen der Menschen das Gewissen und die Gebote Gottes beiseitesetzen.
Die Eltern zu ehren war kein Wunsch Gottes, sondern ein ausdrückliches Gebot (z. B. 2. Mo 20,12; Eph 6,1.2). Doch durch die Einrichtung des Korban, der Gabe für Gott, hatten sie sich etwas geschaffen, was es ihnen ermöglichte, bedürftigen Eltern die Unterstützung zu versagen. Denn mit dem Gelübde des Korban konnte ein Jude sein Geld und Besitz für Gott oder den Tempel weihen. Dadurch war er von jeder Verpflichtung befreit, anderen (z. B. notleidenden Eltern) damit zu helfen. Ob das Vermögen wirklich jemals gespendet wurde, war eine ganz andere Sache. So machten sie durch diese Überlieferung – und viele andere – das Wort Gottes ungültig, und das unter dem Deckmantel eines äußerlich frommen Gelübdes. Eine sehr ernste Sache!
Dieses praktische Beispiel macht deutlich, wie eine Gott wohlgefällige Aufrichtigkeit und Gottesfurcht bis in die kleinsten Umstände unseres Lebens reichen soll. Er will unser Äußeres leiten, indem es von innen heraus bestimmt wird. Und dafür müssen wir Gemeinschaft mit Ihm haben (V. 6).
„Was aus dem Menschen ausgeht, verunreinigt den Menschen“
„Und als er die Volksmenge wieder herzugerufen hatte, sprach er zu ihnen: Hört mich alle und versteht! Es gibt nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn eingeht, das ihn verunreinigen kann, sondern was von dem Menschen ausgeht, ist es, was den Menschen verunreinigt. Wenn jemand Ohren hat, zu hören, der höre!
Und als er von der Volksmenge weg in ein Haus eintrat, befragten ihn seine Jünger über das Gleichnis. Und er spricht zu ihnen: Seid auch ihr so unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was von außerhalb in den Menschen eingeht, ihn nicht verunreinigen kann? Denn es geht nicht in sein Herz hinein, sondern in den Bauch, und es geht aus in den Abort – indem er so alle Speisen für rein erklärte. Er sagte aber: Was aus dem Menschen ausgeht, das verunreinigt den Menschen. Denn von innen aus dem Herzen der Menschen gehen hervor die schlechten Gedanken: Hurerei, Dieberei, Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, List, Ausschweifung, böses Auge, Lästerung, Hochmut, Torheit; alle diese bösen Dinge gehen von innen aus und verunreinigen den Menschen“ (7,14–23).
Der Herr ruft in Vers 14 die Volksmenge wieder herzu und nimmt das Vorangegangene zum Anlass, ihnen die Augen über den inneren Zustand des Menschen zu öffnen. Die Gegenüberstellung des Inneren und des Äußeren zieht sich durch den ganzen Abschnitt von Vers 1–23. Er zeigt ihnen, dass im Inneren des Menschen das Hauptproblem, die Quelle des Bösen, liegt. Diese Verse sind das „Todesurteil“ über den natürlichen Menschen und strafen alles Reden von einem guten Kern im Menschen Lügen. Im Inneren des Menschen ist nichts als Böses. Daher muss es auch völlig neu gemacht werden und kann nicht einfach nur verbessert oder „restauriert“ werden. Diese Worte des Herrn stehen somit in krassem Gegensatz zu der äußeren Frömmigkeit und Heuchelei, die die Pharisäer und Schriftgelehrten an den Tag legten.
Der Herr umrahmt seine Worte mit der zweifachen Aufforderung, zu hören. Die Bedeutung der Belehrungen in Vers 15 machte es erforderlich, dass die Volksmengen die Worte des Herrn wirklich bewusst aufnahmen und ins Herz fassten. Diese Aufforderung des Herrn an seine Zuhörer ist auch für uns aktuell, da wir doch oft so schnell geneigt sind, etwas nur mit unseren Ohren aufzunehmen und es nicht in unsere Herzen dringen zu lassen.
Angesichts der Worte des Herrn in Vers 15 – die vom Stil her auch in den Sprüchen stehen könnten – könnte die Frage aufkommen, wie es mit all den Dingen ist, die von außen an uns herankommen und uns verunreinigen. Natürlich werden wir auch durch solche äußeren Dinge verunreinigt, aber hier geht es um das Grundlegende, das Innere, aus dem jeder Wunsch zur Sünde kommt.
Der Herr stellt hier ein weitreichendes Prinzip vor, das in sich selbst alles Menschliche und alle Tradition verurteilt. „Was von dem Menschen ausgeht, das ist es, was ihn verunreinigt“ – wendet man diesen Grundsatz in seiner ganzen Reichweite an, schließt es auch die fleischlichen Traditionen ein. Denn solche Traditionen kommen aus dem Menschen.
Die ernsten Worte aus den Versen 14–16 sind für den Menschen schwer zu verstehen, da er sie oft nicht wahrhaben will. Selbst die Jünger verstanden diese Worte nicht, trotz alles dessen, was sie bereits in der Gegenwart des Herrn gelernt hatten. Ihnen fiel es schwer, anzuerkennen, dass das Urteil des Herrn unterschiedslos alle Menschen und somit auch sie betraf. In einem „Nicht-verstehen-Wollen“ liegt oft die Ursache für die Schwierigkeit, das Wort und Urteil Gottes anzuerkennen. So lesen wir z. B. in Johannes 7,17: „Wenn jemand seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist oder ob ich von mir selbst aus rede.“ Es kommt nicht auf einen guten Verstand und hohe Intelligenz an, sondern auf die Bereitschaft des Herzens, den Willen Gottes zu tun.
Doch trotz allem Unverständnis auf Seiten der Jünger macht sich der Herr die Mühe, es ihnen genauer zu erklären. Dabei benutzt Er in Vers 19 in seiner Weisheit und Gnade das einfache und gut bekannte Beispiel der natürlichen Nahrungsaufnahme des Menschen. Er stellt klar heraus, dass der Mensch nicht durch natürliche Nahrung verunreinigt wird. Von diesem Beispiel geht der Herr in Vers 20 dann zu dem über, was den Menschen wirklich verunreinigt.
Noch einmal zeigt Er in aller Deutlichkeit, dass der Ursprung alles Bösen von innen aus dem Herzen des natürlichen Menschen kommt. Der Gedanke, dass das Herz als der Sitz des Bösen im Menschen gesehen wird, wird wiederholt in der Heiligen Schrift erwähnt (vgl. 1. Mo 6,5; 8,21; Jer 17,9; Heb 3,10; Eph 4,18 u. a.).
Doch es gibt eine Lösung für dieses Problem. Diese Lösung hat zwei Aspekte: zum einen die Seite unserer Stellung vor Gott und zum anderen die Seite unserer Praxis.
Um bezüglich der Stellung vor Gott ein reines Herz zu bekommen, ist es erforderlich, dass wir „von neuem geboren“ werden (Joh 3,3) und dass wir im Glauben Zuflucht zu dem Werk des Herrn auf Golgatha nehmen (Apg 15,9).
In der Praxis unseres Lebens werden wir vor den Dingen in den Versen 21 und 22 bewahrt, wenn wir täglich verwirklichen, dass wir „mit Christus gestorben sind“ (Röm 6,8); wenn wir den Christus durch den Glauben in unseren Herzen wohnen lassen (Eph 3,17) und uns viel mit dem beschäftigen, „was droben ist, wo der Christus ist“ (Kol 3,1.2).
In der Aufzählung dessen, was aus dem Herzen hervorkommt, stellt der Herr die schlechten Gedanken an die erste Stelle. Sie sind sozusagen die Wurzel, aus der all die nachfolgend aufgeführten bösen Dinge hervorgehen. In den schlechten Gedanken ist jede schlechte Tat im Keim enthalten.
Wie wichtig ist es angesichts all der schrecklichen Dinge, die in diesen Versen aufgeführt werden, dass wir nach Sprüche 4,23 handeln: „Behüte dein Herz mehr als alles, was zu bewahren ist; denn von ihm aus sind die Ausgänge des Lebens.“ Und was für eine Freude ist es für unseren Gott, wenn unser Herz ungeteilt auf Ihn gerichtet ist (vgl. 2. Chr 16,9), wie es leider von dem König Asa in 2. Chronika 16,7 nicht gesagt werden konnte.
Die Heilung der Tochter der syro-phönizischen Frau
„Er brach aber von dort auf und ging weg in das Gebiet von Tyrus und Sidon; und als er in ein Haus eingetreten war, wollte er, dass niemand es erfahre; und er konnte nicht verborgen bleiben. Vielmehr hörte sogleich eine Frau von ihm, deren Töchterchen einen unreinen Geist hatte, und sie kam und fiel nieder zu seinen Füßen. Die Frau aber war eine Griechin, eine Syro-Phönizierin von Geburt; und sie bat ihn, dass er den Dämon von ihrer Tochter austreibe. Und er sprach zu ihr: Lass zuerst die Kinder gesättigt werden, denn es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und den Hunden hinzuwerfen. Sie aber antwortete und sprach zu ihm: Ja, Herr; und doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brotkrumen der Kinder. Und er sprach zu ihr: Um dieses Wortes willen geh hin; der Dämon ist von deiner Tochter ausgefahren. Und sie ging hin in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegen und den Dämon ausgefahren“ (7,24–30).
Nachdem der Herr in den vorigen Versen den Hochmut und natürlichen Zustand des menschlichen Herzens bloßgestellt hat, finden wir in diesem Abschnitt, wie Er das Herz Gottes offenbart.
Er musste dem Hochmut der Pharisäer und Schriftgelehrten entschieden entgegentreten, aber nun sehen wir Ihn, wie Er seine Gnade einer Frau aus den Nationen zeigt, die in großer Demut zu Ihm kommt. Wenn wir diese Verbindung betrachten, können wir den Vers aus 1. Petrus 5,5: „Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade“, als Bindeglied zwischen diese beiden Abschnitte setzen.
Der Herr „brach aber von dort auf und ging weg in das Gebiet von Tyrus und Sidon“ – wie muss der Herr über den Hochmut, die Heuchelei und äußere Frömmigkeit seines Volkes traurig gewesen sein, als Er wegging. Doch als der Heiland der Welt machte Er sich auf, um in eine Gegend zu gehen, in der das Böse und die Sünde herrschten. Sein Volk lehnte Ihn ab. Er aber sah dort eine Seele, die nach Ihm verlangte und die Gnade finden sollte.
In diesem Vers tritt der Charakter des Herrn im Markusevangelium wieder so bezeichnend hervor. Er wollte, „dass niemand es erfahre“, dass Er dort war. Er suchte nicht die Anerkennung der Menschen. Was für ein deutlicher Kontrast zu den Menschen, die in den Versen 1–23 vor uns standen. Und wie oft handeln auch wir ganz anders als der Herr hier.
Doch die Anwesenheit des Herrn konnte nicht verborgen bleiben. Eine griechische Frau kam mit einer großen Not zu Ihm. Woher kannte diese Frau den Herrn? Nun, sein Ruf ging weit über die Grenzen Israels hinaus, bis nach Syrien, wie wir in Matthäus 4,24 lesen, wozu auch Tyrus und Sidon gehörten (Apg 21,3).
Das Töchterchen (diese Verkleinerungsform benutzt der Geist Gottes, um uns eine besondere Zärtlichkeit zu zeigen) dieser Frau war von einem Dämon besessen. Und diese Mutter hatte ein Herz und offene Augen für die Not ihrer Tochter und ging damit zu dem Herrn Jesus. In der praktischen Anwendung sehen wir in diesem Handeln der Mutter ein schönes Vorbild für Eltern, die ebenso von solchen Empfindungen für die natürlichen und geistlichen Nöte ihrer Kinder gekennzeichnet sein sollten.
Die Frau kam in großer Demut und großem Glauben (Mt 15,28) mit ihrer Not zu dem Herrn Jesus. Doch der Herr nimmt zunächst eine scheinbar ablehnende Haltung ein.
Um die Reaktion und Antwort des Herrn auf die Bitte der Frau richtig zu verstehen, müssen wir bedenken, dass der Herr zuerst für die Juden, sein Volk, gekommen war. Von den vier Evangelisten stellen uns Matthäus und Markus das ganz besonders deutlich vor.
Das Heil galt also zunächst den Juden, die der Herr hier als „Kinder“ – solche, die durch Geburtsrecht diese Stellung einnehmen – bezeichnet. Ihnen gegenüber standen die Heiden und Nationen, die mit dem verächtlichen Ausdruck „Hund“ benannt werden. Das Brot, von dem der Herr hier spricht, steht für den Segen, den der Herr damals seinem Volk, den Kindern, brachte. Dies ist wohl die erste Erklärung für die Reaktion und Antwort des Herrn hier.
Ein zweiter Grund ist die Tatsache, dass der Herr den Glauben dieser Frau erproben und offenbaren wollte – etwas, was auch unser Glaube nötig hat, damit er nicht nur ein bloßes Kopfwissen ist.
Die Reaktion dieser Frau ist sehr schön. Sie antwortet zunächst: „Ja, Herr.“ Sie erkennt völlig an, was Er gesagt hat und dass sie zu den „Hunden“ gehört. Sie weiß auch, dass ihr Platz nicht an dem Tisch (ein Bild der Gemeinschaft), sondern unter dem Tisch ist. Aber sie spricht davon, dass auch die Hunde fressen. Dabei erhebt sie jedoch keinen Anspruch auf das Brot, sondern ihr genügen die Brotkrumen, die von dem Tisch der Kinder herabfallen.
Sie weiß, dass die Gnade des Herrn so groß ist, dass diese anderen nichts wegnimmt, wenn sie den Herrn um etwas bittet. Das ist eine Gesinnung, die der Herr nie unbeantwortet lassen kann. Einen Glauben, der im Bewusstsein des eigenen Unvermögens und der eigenen Unwürdigkeit zu Ihm kommt, aber an seine Gnade appelliert, wird Er nie enttäuschen. So erfährt diese Frau, wie der Herr ihren Wunsch erfüllt und seinen Segen auch auf sie und ihre Tochter kommen lässt.
Prophetisch wird durch das Handeln des Herrn hier schon gezeigt, dass die Gnade Gottes nicht allein auf die Juden beschränkt bleiben konnte, sondern sich auch zu den Nationen wenden würde.
Wenn wir an Epheser 2,11–13 denken, erkennen wir, dass der Herr auch mit uns so gehandelt hat wie mit dieser Frau. Doch müssen wir bei der Anwendung auf uns bedenken, dass wir uns in der Zeit der Gnade befinden. Heute ist der Segen Gottes unterschiedslos für alle da, die im Glauben zu Ihm kommen. Die Unterscheidung zwischen dem „Brot der Kinder“ und den „Brotkrumen“ gibt es heute nicht, sie galt nur bis Pfingsten und wird erst im 1000-jährigen Reich wieder vorhanden bzw. sichtbar sein.
Die Heilung des Tauben in der Dekapolis
„Und als er aus dem Gebiet von Tyrus und Sidon wieder weggegangen war, kam er an den See von Galiläa, mitten durch das Gebiet der Dekapolis. Und sie bringen einen Tauben zu ihm, der auch schwer redete, und bitten ihn, dass er ihm die Hand auflege. Und er nahm ihn von der Volksmenge weg für sich allein und legte seine Finger in seine Ohren; und er spie und rührte seine Zunge an; und zum Himmel aufblickend, seufzte er und spricht zu ihm: Ephata!, das ist: Werde aufgetan! Und sogleich wurden seine Ohren aufgetan, und das Band seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. Und er gebot ihnen, dass sie es niemand sagen sollten. Je mehr er es ihnen aber gebot, desto mehr machten sie es übermäßig kund; und sie waren überaus erstaunt und sprachen: Er hat alles wohlgemacht; er macht sowohl die Tauben hören als auch die Stummen reden“ (7,31–37).
Noch einmal kehrt der Herr nach Galiläa zurück und kommt dabei mitten durch das Gebiet der Dekapolis, wo man Ihn gebeten hatte, wegzugehen (Mk 5,17). Man wollte Ihn nicht. Aber der Herr gab dieses Gebiet nicht auf. Und in den folgenden Versen erkennen wir, dass es im Verhalten der Menschen dort eine Änderung gegeben hatte: Jetzt waren solche da, die an Ihn glaubten und Ihn priesen (V. 37). Vielleicht waren es solche, die durch den Dienst und das Zeugnis des geheilten Mannes aus Kapitel 5 gewonnen worden waren (V. 20). Wenn es so war: was für eine schöne Frucht des Dienstes war dann hervorgekommen. Aber doch waren es hier nur Einzelne, die zu Ihm kamen, so wie es auch heute immer nur Einzelne sind, die in unseren so genannten christlichen Ländern zum Herrn Jesus finden.
Diese Verhaltensänderung bei den Bewohnern der Dekapolis muss eine große Freude und Ermunterung für den Herrn gewesen sein. So finden wir in diesen Versen 24–37 direkt aufeinanderfolgend zwei Begebenheiten, in denen es Gott dem Vater gefiel, seinem Sohn eine Freude zu bereiten inmitten all der Ablehnung und Feindschaft, die Ihm in seinem Dienst in zunehmendem Maß entgegengebracht wurden.
Die in den Versen 31–37 geschilderte Begebenheit finden wir – wie auch die Heilung des Blinden in Kapitel 8,22–26 – nur bei Markus berichtet.
Man bringt einen Tauben, der auch schwer redete, zu dem Herrn. Dieser kranke Mann liefert ein weiteres eindrucksvolles Bild von dem Zustand des natürlichen Menschen in seiner Sünde:
Der aussätzige Mann in Kapitel 1,40–44 war ein Bild von der völligen Unreinheit und Verdorbenheit des Menschen.
In dem Gelähmten in Kapitel 2,1–12 wurde deutlich, wie unfähig der natürliche Mensch von sich selbst aus ist, zu Gott zu kommen. Er ist in sich völlig kraftlos.
Taubheit illustriert, wie der Sünder nicht auf die Stimme Gottes hören will und nicht gewillt und nicht in der Lage ist, Gott zu ehren und zu loben. Zugleich ist dieser Mann auch ein treffendes Bild von dem Zustand des Volkes Israel zu dieser Zeit: Sie waren solche, die Ohren hatten zu hören, aber doch nicht hörten, und die daher auch nicht in der Lage waren, Gott wohlgefällig zu loben und zu preisen.
Aber gleichen wir als Kinder Gottes geistlicherweise nicht auch manchmal diesem tauben Mann, dessen Zunge gebunden war? Verschließen wir nicht oft unsere Ohren, wenn wir Dinge hören, die uns in unserem Gewissen treffen, Dinge, die uns unbequem sind? Und reden wir nicht auch oft „schwer“, wenn es darum geht, den Herrn zu ehren? Wir haben oft wenig in unseren Herzen, weil wir nicht zuhören, wenn Gott uns die Schönheiten des Herrn Jesus vorstellt. Reden und Hören gehen Hand in Hand zusammen. Das ist ganz natürlich so und es wird uns auch in der Anwendung hier gezeigt. Sicherlich erkennen wir uns alle in diesen Punkten mehr oder weniger wieder.
Auch wenn es um das Zeugnis gegenüber den Menschen geht, reden wir oft schwer, weil wir uns nicht genug Zeit nehmen, uns mit dem Wort Gottes zu beschäftigen, weil wir zu wenig hören, wenn der Herr uns in der Stille bei Ihm unterweisen will. Denn das ist der Ort, wo wir hören können.
So ist es auch hier. Der Herr nimmt den Mann „von der Volksmenge weg für sich allein“. Inmitten eines Volkes, das Ihn verwarf, hatte Er einen Platz für den, der seine Nähe suchte.
Und auch heute gibt es inmitten einer Welt, die Ihn verwirft, einen Platz, wo wir bei Ihm sein können, sowohl gemeinsam als auch persönlich. Er will jeden Einzelnen von uns für sich haben und uns seine ganz persönliche Nähe schenken, wenn wir nur bereit sind, zu Ihm zu kommen. Das bringt auch der Bräutigam in Hohelied 2,14 zum Ausdruck, wenn er zu der Braut sagt: „Lass mich deine Stimme hören.“
Bemerkenswert ist auch, dass hier wieder Menschen vorgestellt werden, die ein Auge für ihre Mitmenschen in Not hatten, wie wir es auch bei dem Gelähmten in Kapitel 2 schon gefunden haben. Das soll zu unseren Herzen reden und uns ermuntern, ebenso zu handeln.
Der Herr legt seine Finger in seine Ohren und rührt seine Zunge an. Diese Einzelheiten zeigt Markus wieder ganz besonders detailliert. Ähnlich schildert er es auch bei der Heilung des Blinden in Kapitel 8,22–26. Es zeigt die ganz besondere Anteilnahme des treuen Dieners an den Einzelnen.
Ohren und Zunge – das waren die beiden Problempunkte dieses Mannes. Er war nicht in der Lage, die Worte des Heilands zu hören und konnte Ihm auf der anderen Seite seine Not nicht sagen. Und wie beeindruckend ist die Herablassung des Herrn hier, um diesen Mann zu heilen. Er, dessen „Finger Werk“ die große Schöpfung ist (Ps 8,4), legt seine Finger in die Ohren dieses Mannes, um ihn zu heilen.
Wenn wir hier von den Ohren und der Zunge lesen, werden wir unwillkürlich an die Worte über die Ohren und Zunge des Herrn in Jesaja 50,4.5 erinnert. In was für einem Gegensatz zu diesem Mann und dem Zustand des Volkes Israel stand Er, der eine „Zunge der Belehrten“ empfangen hatte und sich als der abhängige Mensch jeden Morgen das Ohr öffnen ließ.
Bevor der Herr die Worte zur Heilung des Tauben spricht, blickt Er auf zum Himmel und seufzt. Da können wir wieder einen Blick in das Herz unseres Herrn tun, der gegenüber den Folgen der Sünde die ungetrübten Empfindungen Gottes hatte. Etwas Ähnliches finden wir auch bei dem Tod von Lazarus in Johannes 11,38.41. Diese Begebenheiten sind Beispiele davon, was in Jesaja 53,4 steht: „Doch er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen.“
Angesichts der Not und des Elends des Menschen seufzte der Herr. Doch wenn Er zum Himmel blickte, sah Er den ganzen Reichtum der Gnade Gottes und sprach dann, um den Kranken von seiner Not zu befreien.
Das Handeln des Herrn in Vers 34 ermuntert uns, es ebenso zu machen. Wenn wir in Nöten und Schwierigkeiten sind, wollen wir versuchen aufzublicken und unsere Zuflucht zu unserem Gott und Vater zu nehmen, anstatt auf uns zu sehen und zu seufzen. Er will und kann auch heute noch helfen, so wie Er es hier sofort und völlig tat.
In Vers 33 hatte der Herr den Kranken von der Volksmenge weggenommen. In Vers 36 verbietet Er den Leuten, von dem Erlebten weiterzusagen. Angesichts der zunehmenden Ablehnung durch die Masse des Volkes wandte sich die Gnade des Herrn mehr den Einzelnen zu, die Glauben hatten.
Zugleich gibt der Herr durch diese Handlungsweise aber auch ein Muster für wahren, von Gott gewirkten Dienst. Dienen, ohne gesehen zu werden – danach sollten auch wir streben, um die Blicke nicht auf uns, sondern auf den Herrn zu lenken.
Doch die Menschen in Vers 36 sind ungehorsam, sie handeln in direktem Gegensatz zu den Worten des Herrn. Das war kein Zeichen von Glauben, denn der Glaube ist immer gehorsam! Das dürfen wir nie vergessen.
Die schönen Worte, die diese Menschen äußern, scheinen ein Ausdruck ihrer allgemeinen Erkenntnis zu sein. Es waren Worte, die sie unter dem Eindruck des Geschehens unter sich zum Ausdruck brachten, die aber bei den meisten wahrscheinlich nicht aus der Tiefe des Herzens kamen, aber dennoch ihre Verantwortung erhöhten. Und doch ließ Gott es zu, dass diese Bewohner der Dekapolis, die Ihn zuvor abgelehnt hatten, dieses schöne Zeugnis über seinen Sohn aussprachen.
Es fällt auch auf, dass sie in ihren Worten das Handeln des Herrn über diese einzelne Heilung hinaus verallgemeinern. Wie gut, wenn auch wir durch das Anschauen einzelner Herrlichkeiten des Herrn zu seiner gesamten Schönheit geführt werden.
„Er hat alles wohlgemacht“ – das war der Ausdruck ihres Erstaunens. Das können auch wir ausrufen, wenn wir auf unseren persönlichen und gemeinsamen Weg zurückschauen. Und es sollte uns ermuntern, Ihm mehr zu vertrauen und unsere Blicke über die Umstände zu Ihm hinauf zu erheben. Denn Er verändert sich nie.