Botschafter des Heils in Christo 1885
Kurze Gedanken über Kolosser 3,1-17
Im ersten Kapitel seines Briefes an die Kolosser dankt der Apostel Paulus dem Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus allezeit für ihren Glauben in Christus Jesus und für die Liebe, die sie zu allen Heiligen hatten (V 5); und im zweiten Kapitel gibt er seiner Freude Ausdruck über die Ordnung, die in ihrer Mitte herrschte, und über die Festigkeit ihres Glaubens an Christus (V 5). Aus diesen Äußerungen könnte man leicht den Schluss ziehen, dass der Zustand jener Versammlung ein durchaus befriedigender gewesen sei, und dass der Apostel nur mit Freude und ohne alle Besorgnis an sie habe denken können. Lesen wir aber im Eingang des zweiten Kapitels die Worte: „Denn ich will, dass ihr wisst, welch großen Kampf ich um euch habe usw.“, und hören wir das Zeugnis, welches Paulus in Bezug auf sie dem Epaphras gibt, der persönlich unter ihnen gelehrt hatte: „Allezeit ringend für euch in den Gebeten“ (Kap 4,12), so drängt sich uns die Überzeugung auf, dass doch etwas bei ihnen vorhanden sein musste, was trotz ihres Glaubens, ja, der Festigkeit ihres Glaubens an Christus und ihrer Liebe zu allen Heiligen, und trotz der unter ihnen vorhandenen Ordnung, jene beiden treuen Arbeiter im Werk des Herrn mit großer Furcht und Besorgnis ihretwegen erfüllte. Und zwar musste es etwas höchst Wichtiges sein. Doch worin bestand die Gefahr der Kolosser, die einen solch ernsten Kampf bei dem Apostel hervorrief? Sie glaubten doch an Christus als ihren Erretter und ruhten in Betreff ihrer Sünden in seinem vollbrachten Werk. Der Wille Gottes, durch welchen sie geheiligt waren durch das ein für alle Mal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi, war von ihnen erkannt und geglaubt. Im Blick darauf konnte das Herz des Apostels ihretwegen nicht in Unruhe sein. Was war es denn? Sie standen unter dem Einfluss falscher Lehrer, die auf allerlei Weise bemüht waren, ihre Blicke von Christus und seiner Fülle abzulenken und das Bewusstsein ihrer innigen und unauflöslichen Verbindung mit Christus, ihrer Vollendung in Ihm, der das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist (Kap 2,10), in ihren Herzen zu schwächen. Sie singen an zu vergessen, dass sie mit Christus den Elementen der Welt gestorben waren; sie unterwarfen sich den Satzungen, als lebten sie noch in der Welt (Kap 2,20).
Der Christ aber gehört dieser Welt nicht mehr an. Der Tod Christi und sein Gestorbensein mit Ihm hat ihn für immer davon getrennt. Das Kreuz Christi bildet die Scheidewand zwischen ihm und der Welt. Das Teil des Christen ist droben, wo der Christus ist, und schon jetzt besitzt er alles in Ihm. Der Apostel sagt nicht: „Danksagend dem Vater, der uns fähig machen wird“, sondern: „der uns fähig gemacht hat zu dem Anteil am Erbe der Heiligen im Licht; der uns errettet hat aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes seiner Liebe“ (Kap 1,12–13). Wir sind auferweckt mit Christus und sind jetzt schon in Ihm vollendet. Die Versammlung ist durch ein unauflösliches Band aufs Innigste und Festeste mit Christus verbunden, gerade so, wie das Weib mit dem Mann, wie der Leib mit dem Kopf; sie ist seine Fülle, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt (Eph 1,23).
Dieses himmlische Band nun, so unzerreißbar es auch in sich selbst ist, fing an, sich in den Herzen und in dem praktischen Bewusstsein der Kolosser zu lockern; und so standen sie in großer Gefahr, eine Beute der Philosophie der Menschen und allerlei betrügerischer Lehren zu werden. Standen sie auch, wie wir gesehen haben, in ihrem Glauben an Christus noch fest und unerschüttert da, so war dies doch nicht mehr der Fall im Blick auf die Erkenntnis ihrer Vollendung in Christus. Hatten sie auch den Willen Gottes, durch welchen sie durch das Opfer Christi geheiligt waren, erkannt und hielten sie daran fest, so fingen sie doch an, zu erschlaffen in der Erkenntnis des Geheimnisses seines Willens (Eph 1,9), d. h. der Ratschlüsse und Gedanken Gottes in Bezug auf Christus und die Versammlung – jenes herrlichen Geheimnisses, das von den Zeitaltern her in Gott verborgen geblieben, jetzt aber offenbart worden war durch die Apostel und Propheten (d. h. die Propheten des Neuen Testaments), und welches alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis in sich barg.
Satan ist von jeher bemüht gewesen, die köstliche Wahrheit dieses Geheimnisses in den Herzen der Gläubigen zu verdunkeln; ja, sein Streben ging stets dahin, ihr Auge ganz davon abzulenken und sie entweder mit den törichten Erfindungen des menschlichen Geistes, oder mit den Elementen der Welt, d. h. mit allerlei Zeremonien und Satzungen zu beschäftigen, denen der natürliche Mensch unterworfen war, und worin er seine Ruhe suchte. Und ach! Wie sehr hat der Feind seinen Zweck erreicht! Wie wenig wird dieses herrliche Geheimnis, das in Wahrheit jedes gläubige Herz mit Lob und Anbetung und mit der tiefsten Freude erfüllt, in unseren Tagen erkannt und beachtet, wie wenig werden die darin verborgenen Schätze der Weisheit und Erkenntnis erforscht! Niemand ist fähig, den Verlust bezüglich der Verherrlichung Gottes und unseres praktischen Wandels zu ermessen, wenn wir die Erkenntnis dieses Geheimnisses verlieren, und wenn das unauflösliche Band, welches Christus und die Versammlung umschlingt und das jetzt ebenso fest und vollkommen ist, wie es später in der Herrlichkeit sein wird, in unseren Herzen geschwächt oder gar völlig verdunkelt wird.
Der Apostel nun sah, dass dieser Verlust den Kolossern drohte, und deshalb hatte er ihretwegen einen so großen Kampf. Er hörte nicht auf, für sie zu bitten, dass sie erfüllt sein möchten mit der Erkenntnis seines Willens in aller Weisheit und geistlichem Verständnis (Kap 1,9). Sein sehnliches Verlangen war, dass auch das Geheimnis seines Willens wieder den ihm gebührenden Platz in ihrem Herzen finden möchte. Deshalb war auch Epaphras allezeit in ringendem Gebet für sie, „auf dass ihr“, wie der Apostel sagt, „steht vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes“ (Kap 4,12). Möchte es doch dem Herrn Wohlgefallen, auch in den gegenwärtigen, gefahrvollen Tagen, in diesen letzten, schweren Zeiten, immer mehr solche Arbeiter unter uns zu erwecken, denen seine Verherrlichung über alles geht, die für sich selbst den Ratschluss Gottes in Wahrheit kennen und deshalb fähig sind, ihn mit Weisheit und Einsicht auch anderen zu verkündigen, umso jeden Menschen vollkommen in Christus darzustellen (Kap 1,28) – ja, solche Arbeiter, die allezeit die Seinen auf betendem Herzen tragen und stets für ihr Wohl besorgt sind!
Doch welchen Weg schlägt der Apostel ein, um der den Kolossern drohenden Gefahr zu begegnen? Er ist vor allem bemüht, die Herzen der Kolosser von allem anderen ab und auf Christus hinzulenken, indem er ihnen die Fülle, die in Ihm ist, vor Augen stellt und sie zugleich vor den verderblichen Dingen warnt, wodurch der Feind mittelst der überredenden Worte der falschen Lehrer sie zu betrügen und ihre Zuneigungen von Christus abzulenken suchte. Es ist in der Tat ein unersetzlicher Verlust für das Herz, ja, für unseren ganzen Wandel, wenn Christus nicht mehr den einzigen Gegenstand, den einzigen Mittelpunkt unseres Lebens hienieden bildet.
Die reiche und unermessliche Fülle, die in Ihm ist, wird uns in Kapitel 1,14–20 vor Augen gestellt. In Ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden; Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung; das ganze Weltall, alles, was existiert, ist durch Ihn und für Ihn geschaffen; Er ist vor allen, und alle Dinge bestehen zusammen durch Ihn; Er ist das Haupt des Leibes, der Versammlung, der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten; ja, in allen Dingen hat Er den Vorrang. Es war das Wohlgefallen der ganzen Fülle, der Fülle der Gottheit, in Ihm zu wohnen und durch Ihn alle Dinge mit sich zu versöhnen. Er ist das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt, und wir, die Erlösten, sind vollendet in Ihm. Wir sind schon jetzt durch ein festes und ewiges Band mit Ihm in jener herrlichen und erhabenen Stellung verbunden, sind ein Teil von Ihm. Er ist das Haupt, die Versammlung ist sein Leib seine Fülle. Indem wir mit Christus gestorben sind, sind wir von unserer früheren Stellung und Verantwortlichkeit im Fleisch völlig befreit. Die Sünde, der Tod und die Verdammnis sind für den Gläubigen nicht mehr vorhanden. Der Tod und das Gericht Christi auf dem Kreuz waren unser Tod und unser Gericht. Beides liegt für immer hinter uns. Welch eine Gnade und welch ein Trost!
Auf dem Kreuz sind also nicht nur alle unsere Sünden getilgt durch das Blut Christi, sondern auch über uns selbst, über unseren ganzen Zustand von Natur, ist das Gericht von Seiten Gottes völlig ausgeführt worden. Seine Gerechtigkeit hat in Christus, der auf dem Kreuz für uns zur Sünde gemacht war, ihre völlige Befriedigung gefunden, ja, alles, was in Gott ist, ist dort in Bezug auf uns vollkommen verherrlicht worden. Konnte Satan im Garten Eden, als er den ersten Adam durch Betrug zum Ungehorsam verleitet und Tod und Verderben über ihn und sein ganzes Geschlecht gebracht hatte, über Gott triumphieren, so konnte jetzt Gott durch das Kreuz, auf welchem der letzte Adam sein Leben aushauchte, über Satan triumphieren (Kap 2,15). Er ist dort völlig zunichtegemacht und aller seiner Herrlichkeit beraubt worden. Und wie Satan, der die Macht des Todes hatte, durch den Tod Christi zunichtegemacht worden ist, so auch der Tod selbst durch die Auferstehung Christi; Er hat Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht (2. Tim 1,10). Wie tief stand das Kreuz unter jenem herrlichen Garten Eden, aber wie hoch stand der letzte Adam über dem Ersten! Dieser bewirkte den Triumph Satans, jener den Triumph Gottes. Welch cm Unterschied!
In den beiden ersten Kapiteln der vorliegenden Brief hat also der Apostel namentlich die unermessliche Fülle des Christus und unsere Vollendung in Ihm dargestellt; und im Blick darauf kann man nur sagen: Welch ein Verlust war es für die Kolosser und ist es für uns alle, diese Fülle in Christus, sowie das Bewusstsein unserer gesegneten Stellung, unserer vollkommenen Verbindung mit Ihm aus dem Auge zu verlieren und uns mit den elenden Erfindungen und Einbildungen der Menschen zu beschäftigen, oder auf wertlose und armselige Satzungen unser Vertrauen zu setzen! Der Tod Christi hat uns für immer davon getrennt. Wir sind aber nicht nur mit Ihm gestorben, sondern auch mit Ihm lebendig gemacht, mit Ihm auferweckt worden und sind dadurch in ganz neue Beziehungen gekommen. Wir sind im Leben unzertrennlich mit dem verbunden, der zur Rechten Gottes sitzt; und auf dieses Band gründet der Apostel seine Ermahnungen im dritten Kapitel dieser Brief.
„Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt seid, so sucht, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnt auf das, was droben ist, nicht ans das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott“ (V 1–3). Das Band, welches uns mit Christus verbindet, zeigt aufs Deutlichste, dass es sich für uns nur geziemt, nach dem zu trachten und auf das zu sinnen, was droben ist, wo der Christus ist. Es ist auch ganz, und gar unmöglich, den Gegenstand seines Herzens zugleich droben und hienieden zu haben, im Himmel und auf der Erde, in Christus und in der Welt; denn das Eine steht in jeder Beziehung im völligsten Gegensatz zu dem Anderen. Wenn es sich um die Elemente der Welt, oder überhaupt um das handelt, was auf der Erde ist – mag dies auch an und für sich nicht gerade verwerflich und schlecht sein – so jagt der Apostel: „Ihr seid gestorben.“ Die frühere Stellung, als Kinder des ersten Adam, hat für solche, die mit Christus lebendig gemacht und auferweckt sind, für immer aufgehört, und alles, was damit in Verbindung stand, hat seinen Wert gänzlich für sie verloren. Sie haben das Leben Christi empfangen und sind durch dieses Leben ganz und gar mit Ihm vereinigt. Christus selbst ist die sichere Quelle ihres Lebens, das sie in und mit Ihm besitzen. Deshalb werden sie auch ermahnt, zu suchen, was droben ist, wo der Christus ist. Doch ist dieses Leben mit Ihm in Gott verborgen. Das Leben, das sich jetzt auf der Erde offenbart, ist das Leben der Welt und der Sünde. Es wird aber nicht immer so bleiben, denn wir lesen in Vers 4: „Wenn der Christus, der unser Leben ist, offenbar werden wird, dann werdet auch ihr uni Ihm offenbar werden in Herrlichkeit.“ Wir teilen völlig das Los Christi, in welchem wir unser Leben besitzen. Solange Er verborgen ist, ist auch unser Leben verborgen, weil Er unser Leben ist; wird Er aber offenbart, so werden wir mit Ihm offenbart werden in Herrlichkeit vor den Augen aller, die im Himmel und auf Erden sind.
Obwohl wir aber gestorben sind und unser Leben mit dem Christus in Gott verborgen ist, so haben wir doch noch Glieder, die auf der Erde sind, und die wir zu töten haben: „Hurerei, Unreinigkeit, Leidenschaft, böse Lust und Habsucht, welche Götzendienst ist, um welcher Dinge willen der Zorn Gottes kommt über die Söhne des Ungehorsams“ (V 5–6). Es sind die Glieder des alten Menschen, der dem System dieser Welt angehört und sein Leben darin hat, der nur auf das sinnt, was auf der Erde ist. Diese Glieder sollen wir toten, d. h. praktisch verleugnen; und dies kann nur geschehen durch den neuen Menschen, der sein Leben und seine Kraft in Christus hat. Wenn der Christ seine gesegnete Stellung vernachlässigt, wenn sein Dichten und Trachten von neuem auf das gerichtet ist, was der Welt oder der Erde angehört, so nährt und pflegt er jene Glieder; ihr Einfluss und ihre Wirksamkeit nehmen zu, und endlich gewinnen sie wieder die völlige Herrschaft über ihn. Ist aber sein Sinnen auf das gerichtet, was droben ist, bleibt er in Christus und Christus in ihm, so finden jene Glieder keine Nahrung. Sie sind zwar stets vorhanden, aber sie finden keinen Raum, sich wirksam zu erweisen; ihr Einfluss ist gehemmt. Solange der eigene Wille nicht gebrochen und das Herz dem Herrn nicht unterworfen ist, wird die sündige Natur sich in allerlei schändlichen Äußerungen und verwerflichen Ausbrüchen kundgeben, in „Zorn, Wut, Bosheit, Lästerung, schändlichen Reden usw“ (V 8). Der Christ aber ist ermahnt, dieselben abzulegen. Wir haben aber nicht nur die groben Sünden zu verleugnen, sondern alle Wirkungen einer Natur, die Gott nicht kennt und nicht nach Ihm fragt. Es ist schön zu sehen, wie hier die Wahrheit, dass wir mit Christus gestorben und auferstanden sind, eingeführt wird als die Befreiung von allem, was jener alten Natur angehört. Der erste Adam ist in allem und völlig gerichtet, nichts ist verschont worden.
„Belügt einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen habt, der erneuert wird nach dem Bild dessen, der ihn geschaffen hat“ (V 9–10). Der neue Mensch hasst die Lüge und liebt die Wahrheit, denn er hat teil an der göttlichen Natur. Er kennt Gott und beurteilt das Gute wie das Böse nicht nach dem Gesetz, nicht nach dem, was der Mensch als ein verantwortliches Wesen sein sollte, sondern nach der Natur Gottes. Er wandelt im Licht und besitzt dasselbe. Alles, was dem alten Menschen angehört, wird von ihm Gott gemäß gerichtet. In seiner neuen Stellung und Verwandtschaft findet er nur seine Befriedigung in dem, was göttlich ist. Er gibt keiner Lüge Raum, weil Gott dadurch verunehrt wird, und weil er den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen und den neuen angezogen hat.
Der neue Mensch aber bedarf des Wachstums; er muss zunehmen und gekräftigt werden. „Er wird erneuert“; und dies geschieht durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes; das vollkommene Muster aber, nach welchem er gebildet wird, ist Christus. Er ist das Bild dessen, der den neuen Menschen geschaffen hat. Welch ein vollkommenes Muster! Und wie sehr war der Apostel bemüht, jeden Menschen nach diesem Muster zu bilden, jeden Menschen vollkommen in Christus darzustellen (Kap 1,28–29)! Es ist auch das Ziel der Wirksamkeit des Heiligen Geistes, dass alle, die Christus angehören, hingelangen „zu dem erwachsenen Mann, zu dem Maß des vollen Wuchses der Fülle des Christus“ (Eph 4,18).
Und welches ist der Weg, um zu diesem herrlichen Ziele zu gelangen? „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18). Das ist der Weg, auf welchem der neue Mensch immer mehr zur Erkenntnis erneuert wird nach seinem wahren und vollkommenen Muster – der Weg, auf welchem er in seinem Wachstum Fortschritt macht. Im Blick auf den neuen Menschen hat auch jeder Unterschied unter einander aufgehört: „Wo nicht ist Grieche und Jude, Beschneidung und Vorhaut, Barbar, Skythe, Sklave, Freier, sondern Christus alles und in allen“ (V 11). Er ist der alleinige wahre Gegenstand aller Gläubigen; nur Ihn erkennen sie an, auf Ihn sind aller Blicke gerichtet, in Ihm finden alle ihre Freude und Wonne, ja ihr volles Genüge. Und Er ist in allen, Er ist ihr Leben; Er selbst ist der wahre und vollkommene Ausdruck ihrer Stellung und ihres Zustandes vor Gott.
Da nun Christus in allen Gläubigen ist, so werden auch diese mit seinen Titeln betraut und werden ermahnt, auch seiner Gesinnung gemäß zu wandeln. „Zieht an, als Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Güte, Niedriggesinntheit, Milde, Langmut“ (V 12). Wenn wir den Pfad Christi hienieden verfolgen, so sehen wir, dass alle die hier erwähnten Eigenschaften in Ihm ihren vollkommenen Ausdruck fanden. Inmitten einer Welt, wo nur Elend und Sünde Ihn umgab, traten sie stets in ihrem göttlichen Glänze hervor. Wir mögen Ihm begegnen an der Quelle Jakobs, wo Er zu einer Samariterin redete, oder im Haus Simons, des Aussätzigen, wo eine große Sünderin zu seinen Füßen lag; wir mögen Ihn begleiten nach Nain, wo eine Witwe den Verlust ihres einzigen Sohnes beweinte, oder an jenen wüsten Ort, wo eine große Volksmenge Ihn umgab, die dahinging, wie Schafe ohne Hirten; wir mögen Ihn endlich inmitten der Zöllner und Sünder erblicken oder im Kreis der Seinen, immer kann Er uns zurufen: „Lernt von mir!“ Immer sieht man bei Ihm die göttliche Liebe in allen ihren schönen Charakterzügen, je nachdem es die Umstände erheischen, hervorstrahlen. Nun ist Er unser Leben; Er wohnt in uns und wir in Ihm. Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist, und deshalb geziemt es sich auch für uns, in seinen Fußstapfen zu wandeln, allezeit dieselbe Gesinnung zu offenbaren, überall dieselben Beweise und Eigenschaften dieser göttlichen Liebe ans Licht treten zu lassen, und zwar inmitten einer verdorbenen und gottlösen Welt, auf dass jedermann erkenne, dass, Christus in uns ist, und dass wir seine Jünger sind.
Weiter ermahnt der Apostel: „einander ertragend und euch gegenseitig vergebend, wenn einer Klage hat wider den Anderen; wie auch der Christus euch vergeben hat, also auch ihr“ (V 13). Wenn die Eigenliebe das Herz regiert, so erwartet man, von allen ertragen zu werden, aber man ist selbst wenig bereit, andere zu ertragen. Auch sind wir stets geneigt, die Schwachen und Fehler anderer, und besonders wenn wir durch dieselben unmittelbar berührt werden, in vergrößertem Maßstab zu sehen und ohne alle Rücksicht zu verurteilen, während wir unsere eigenen Fehler als etwas ganz Geringes betrachten und auf alle Weise zu entschuldigen wissen. Wir halten es für sehr leicht, dass andere uns ertragen, aber für eine schwere Aufgabe und eine große Zumutung, dass wir jene ertragen sollen. Wandeln wir aber im Licht Gottes, so bewundern wir mit tiefer Beugung seine Geduld und Langmut, mit welcher Er uns Tag für Tag trägt; und erfüllt die Liebe Christi unser Herz, so wird es uns nicht schwer, andere zu ertragen und sie in Demut höher zu achten, als uns selbst. Der Herr ertrug seine Jünger mit allen ihren Fehlern und Schwachheiten in unveränderlicher Liebe und ausharrender Geduld bis ans Ende. Und so war auch von jeher sein Herz mit Gnade und Vergebung gegen uns erfüllt. Schon damals, als Er auf dem Kreuz sein teures Leben für uns dahingab, oder als Er uns, als verlorenen Sündern in dieser Welt, nachging und uns aufsuchte, war nichts als Liebe, Gnade und Vergebung gegen uns in seinem Herzen, und nicht etwa erst von dem Augenblick an, da wir Buße taten und zu Ihm um Gnade flehten. Dieselbe Gesinnung geziemt sich jetzt auch für uns, wenn wir Klage haben wider jemanden. Die Vergebung soll stets in unseren Herzen sein, und nicht erst dann beginnen, wenn das uns etwa zugefügte Unrecht anerkannt und bereut wird, „wie der Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“ Er ist in allem das vollkommene Muster unserer Gesinnung und unseres ganzen Verhaltens.
Es können nun freilich in der menschlichen Natur Eigenschaften gefunden werden, welche den in Vers 12 erwähnten ähnlich sind; allein es besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was aus der Natur stammt, und dem, was die Gnade bewirkt hat. Das Auge eines Christen, der sich seiner Verbindung mit Christus bewusst ist und Ihn zum Gegenstand seines Herzens hat, ist fähig, diesen Unterschied zu erkennen. Alles, was die menschliche Natur hervorbringt, mag es einen noch so schönen Schein haben, ist wertlos vor Gott und ohne Wirklichkeit und Kraft; und dies wird sich stets offenbaren, sobald eine Zeit der Probe kommt. Deshalb sagt auch der Apostel: „Zu diesem allen aber fügt die Liebe, welche das Band der Vollkommenheit ist“ (V 14). Die Liebe ist aus Gott und ist die einzig wahre Quelle, ans welcher jene Eigenschaften entspringen. Sie verleiht denselben einen wahrhaft göttlichen Charakter und gibt unserem ganzen Verhalten hienieden Leben und Kraft. Und diese Liebe ist wirksam, wenn wir im Bewusstsein unserer Gemeinschaft mit Gott in seiner Gegenwart wandeln.
„Und der Friede des Christus herrsche in euren Herzen, zu welchem ihr auch berufen seid in einem Leib, und seid dankbar“ (V 15). Als der Herr diese Erde verließ, sagte Er zu seinen Jüngern: „Meinen Frieden gebe ich euch.“ Er war hienieden in allem versucht worden, worin die menschliche Natur versucht werden kann; aber nichts vermochte jenen süßen Frieden in Ihm zu stören oder zu schwächen, denn Er wandelte stets in dem Bewusstsein und in der Gemeinschaft der Liebe Gottes und in der völligen Abhängigkeit von seinem Willen. Wir sind nun in Ihm Gott so nahegebracht, dass wir fähig sind, unter der Leitung und durch die Kraft des Geistes in seinen Fußstapfen und in seiner Gesinnung zu wandeln, und wenn wir es tun, so wird auch der „Friede des Christus“ der stete und köstliche Genuss unserer Herzen sein. Zugleich bemerkt der Apostel, dass wir in der Einheit des Leibes zu diesem Frieden berufen sind, dass also in der Versammlung, als dem Leib Christi, dieser Friede herrsche und das Band der Einheit bilde. Und wenn dies der Fall ist und wir in diesem glücklichen und gesegneten Zustand auf den Reichtum der Gnade und Liebe Gottes blicken, der uns in Christus Jesus zu teil geworden ist, so wird Lob und Dank unser Herz erfüllen.
Weiter lesen wir in Vers 16: „Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen, in aller Weisheit euch gegenseitig lehrend und ermahnend, mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern, Gott singend in euren Herzen in Gnade.“ Der Brief an die Kolosser zeigt uns Christus als das Haupt der Schöpfung und der Versammlung, als die Quelle und den Mittelpunkt von allem und als das einzig wahre und vollkommene Muster für den neuen Menschen. Dieser wird ernährt und entwickelt durch das Wort des Christus; es ist der Ausdruck dessen, was Er ist. Je reichlicher dasselbe daher in uns Raum findet und gepflegt wird, und je mehr wir praktisch in einem steten und verborgenen Umgang mit Christus wandeln, desto mehr sind wir fähig, in aller Weisheit uns gegenseitig zu lehren und zu ermahnen. Das ist aber nicht die einzige Frucht. Wenn Christus der wahre und wirkliche Gegenstand unseres Lebens ist und wir nichts anderes begehren, als seinen wohlgefälligen Willen zu erforschen und zu tun, so wird Er sich uns offenbaren (Joh 14,21), und unser Herz wird mit Lob und Dank erfüllt sein. Unsere innerlichen Gefühle, in welchen das geistliche Leben sich entfaltet – die Gefühle der Freude und des Glücks werden alsdann ihren Ausdruck finden in Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern. Es sind die Äußerungen eines mit Christus erfüllten Herzens, das sich seiner innigen Verbindung mit Ihm bewusst ist; und diese Äußerungen sind höchst nützlich und gesegnet für andere, sie zu belehren, zu ermahnen und zu ermuntern. Gott selbst ist der Gegenstand unseres Lobes und unserer Danksagung; wir besingen seine Herrlichkeit im Geist der Gnade.
Endlich ermahnt der Apostel die gläubigen Kolosser, nichts ohne Christus zu tun; denn niemand steht unserer Seele so nahe als Er, mit niemand sind wir im Leben so völlig und innig verbunden. „Alles, was immer ihr tut, im Wort oder im Werk, alles tut indem Namen des Herrn Jesus, danksagend Gott, dem Vater, durch ihn“ (V 17). Das Leben eines Christen findet nicht nur in gewissen Eigenschaften, die Christus zur Quelle haben, seinen wahren und völligen Ausdruck, sondern darin, dass Christus selbst der Zweck und Gegenstand seines Herzens ist in allem, was er tut. Wir besitzen unser Leben, das wahre und wirkliche Leben, in Ihm; ja, Er selbst ist unser Leben, und darum kann auch alles, was aus diesem Leben flieht, nur Ihn zum Ziel und Gegenstand haben und in Verbindung mit Ihm geschehen. Wenn Christus selbst das Herz einnimmt und seine Verherrlichung unsere Freude ist, so wird auch seine Gegenwart all unserem Tun seinen Stempel aufdrücken, und alles wird mit Ihm in Verbindung gebracht werden. Wir tun dann alles in seinem Namen, und Er selbst ist die Quelle, die Kraft und das Ziel aller unserer Handlungen. Wir bleiben in Ihm und Er in uns; das Bewusstsein der göttlichen Liebe erfreut unser Herz und drängt uns, allezeit durch Ihn unsere Danksagung Gott, dem Vater, darzubringen.
Der Herr gebe, dass wir sein Wort beherzigen, die Gemeinschaft mit Ihm allezeit verwirklichen, damit unser Leben in dieser gesegneten Weise vollbracht und sein Name durch uns verherrlicht werde! Möge Er selbst Tag für Tag die Freude und Wonne unseres Herzens sein und den einzigen teuren Gegenstand unseres ganzen Lebens hienieden bilden!