Botschafter des Heils in Christo 1885
Gedanken über Hebräer 2
Die ersten vier Verse dieses Kapitels stehen mit dem vorigen in Verbindung. Im ersten Kapitel redet der Apostel von der göttlichen Natur Christi, im Zweiten wird Er als Mensch betrachtet. Dort handelt es sich um die Göttlichkeit seiner Person, hier um seine Menschheit. In diesen ersten vier Versen warnt uns der Apostel nicht nur davor, ungehorsam zu sein, sondern auch eine so große Errettung zu vernachlässigen. Das Wort Gottes, das Himmlische, ist in diese Welt eingeführt und auf unsere Gewissen angewandt worden, so dass alles in unserem natürlichen Zustand gerichtet ist. Denn das Wort offenbart das Himmlische und Göttliche, und gerade dadurch verurteilt und richtet es uns.
Dann fährt der Apostel fort zu sagen, dass alles, was im Himmel und auf Erden ist, einem Menschen, nicht den Engeln, unterworfen sein wird. Die Engel dienten als Werkzeuge der Macht Gottes, aber „was ist der Mensch?“ Und doch hat Gott solch wunderbare Gedanken über ihn. Doch wer ist der Mensch, von welchem hier die Rede ist? Christus! Er ist der Mensch der Ratschlüsse Gottes. Er hat alles erschaffen, und daher muss Er, sobald Er in Verbindung mit dem All tritt, Haupt und Mittelpunkt desselben sein. Wir finden drei Gründe in der Schrift, weshalb dies so sein muss. 1. Er hat alles erschaffen, und daher ist Er, wenn Er erscheint und seinen Platz als Mensch einnimmt, Haupt über alles (Kol 1); 2. Er ist Sohn, und darum ist Er Erbe (Heb 1);3. Er ist Mensch, und die Ratschlüsse Gottes stehen mit dem Menschen in Verbindung (Heb 2). In Psalm 2 tritt Er als Sohn Gottes und König von Israel vor unsere Augen; in Psalm 8 aber begegnen wir der Frage: „Was ist der Mensch?“ Am Ende von Johannes 1 finden wir eine bemerkenswerte Darstellung dieses Unterschiedes zwischen Psalm 2 und 8. Nathanael huldigt dem Herrn und erkennt Ihn als den an, welchen Israel erwartete: „Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König Israels“ (Ps 2). Aber dann antwortet ihm der Herr: „Du hast geglaubt, dass ich der Messias bin? Du wirst größere Dinge als diese sehen. Du wirst die Engel Gottes auf– und niedersteigen sehen auf den Sohn des Menschen“ (Ps 8). Es ist ein Mensch, dem jetzt alle jene himmlischen Wesen dienen. Er nahm sich nicht der Engel an, sondern des Samens Abrahams nimmt Er sich an. Der 8. Psalm wird am Ende von Epheser 1 und noch ausführlicher in 1. Korinther 15 angeführt; aber in dem vorliegenden Kapitel ist mehr der Platz entfaltet, den Christus einnimmt (Heb 2). In Vers 9 sehen wir die Erfüllung der ersten Hälfte des Psalms: Er ist mit Ohre und Herrlichkeit gekrönt, als Mensch in die Herrlichkeit zurückgekehrt. Ihm ist als Mensch der Platz des „Herrn über alles“ gegeben.
Was seine Person betrifft, so sehen wir bereits alles erfüllt, nicht aber betreffs der Dinge; sie sind Ihm noch nicht unterworfen. Daher lesen wir auch erst in Offenbarung 11,17: Mir danken dir, Herr, Gott, Allmächtiger, der da ist und der da war, dass du angenommen hast deine große Kraft und angetreten deine Herrschaft!“ und hier in unserem Kapitel wird uns mitgeteilt, wie Er uns mit sich selbst verbindet. Die Segnung, welche unser eigentliches Teil ist, besteht darin, bei Ihm und Ihm gleich zu sein. Im ganzen Hebräerbrief finden wir nirgendwo den Namen des Vaters, noch wird die Kirche erwähnt, mit Ausnahme des 12. Kapitels. Vielmehr handelt es sich um Gläubige, die hienieden wandeln, während Christus als eine göttliche Person droben als Priester weilt. Der Gläubige wird betrachtet in seiner persönlichen Schwachheit hienieden und abhängig von dem Priestertum Christi. Es gibt jetzt kein Priestertum für die Sünden, denn Christus war auf dem Kreuz Priester und Opfer zu gleicher Zeit; vielmehr ist Christus jetzt als Hohepriester für uns tätig, „damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe“ (Heb 4,14–16). Handelt es sich um die Sünde des Gläubigen, so ist Er als ein Sachwalter bei dem Vater. Dort sitzt Er jetzt, wartend, bis seine Feinde zum Schemel seiner Füße gelegt werden. Auch wir sollten warten, und zwar in dem köstlichen Bewusstsein, dass Er auf uns wartet. Er wurde Mensch, um imstande zu sein, zu sterben. Wir schmecken den Tod der Sünde wegen; Er aber schmecke ihn „durch die Gnade Gottes für alles“ im Gehorsam.
Vier Gründe werden in diesem Kapitel angeführt, weshalb Er herniederkam, um den Tod zu schmecken. 1. Die Herrlichkeit Gottes (V 10). Es geziemte Gott, den Anführer unserer Errettung durch Leiden vollkommen zu machen. In seiner vollkommenen, unbedingten Heiligkeit wusste Christus, was es war, zur Sünde gemacht zu werden, in seiner Liebe wusste Er, was es war, verlassen zu sein. Es gibt nichts, worin ich nicht kraft des Mutes Christi vor Gott vollkommen wäre. Dieses Blut verändert in den Augen Gottes nie seinen Wert; es ist vollkommen und beständig.
Der zweite Grund ist der, dass die Macht des Bösen überhandnahm (V 14). Christus kommt und nimmt für den Gläubigen den Stachel des Todes hinweg. Was ist der Tod für jemanden, der den Wert des Todes Christi kennt? Er bedeutet nichts anders für ihn, als: „Ausheimisch von dem Leib und einheimisch bei dem Herrn zu sein.“ Gerade die Dinge, welche eigentlich meinen Untergang bedeuten – Tod und Gericht – sind es, die mich gerettet haben; denn Christus hat beides für mich getragen. Das Rote Meer war Tod und Gericht für die Ägypter, aber es war für die Israeliten das Mittel zu ihrer Rettung. Es handelt sich hier nicht nur um die Furcht vor der Sünde oder vor dem Gericht, sondern um „die Furcht des Todes“, und Christus ist durch den Tod gegangen und hat ihm den Stachel genommen. „Alles ist euer, es sei Paulus, oder Apollos, oder Kephas, oder Welt, oder Leben, oder Tod“ (1. Kor 3,21–22).
Der dritte Grund ist der, dass unsere Sünden den Tod des Herrn forderten (V 17). Er hat eine vollkommene, ewige Versöhnung zuwege gebracht. Ich beginne, meine Sünden zu fühlen, sobald das Licht Gottes in meine Seele scheint und mir zeigt, was ich bin und getan habe; aber ich hatte noch keine einzige jener Sünden begangen, als Christus sie trug. Es macht aber vor Gott keinen Unterschied, wann ich dieselben beging. Der Wert des Werkes selbst steht stets vor Ihm. Ich komme zu der Erkenntnis dieses Wertes erst in einem gegebenen Augenblick, erst dann, wenn die Gnade meine Augen öffnet und der Heilige Geist meine Blicke auf das Kreuz lenkt und mir zeigt, wie Gott dort vollkommen verherrlicht worden ist. Gott würde das Blut seines Sohnes geringschätzen – und das ist unmöglich – wenn Er mir eine Sünde zurechnete, nachdem ich in Wahrheit an Christus geglaubt habe. Er gab dieses Blut (als eine Sühnung für unsere Sünden) in Liebe, und Er nahm es an in Gerechtigkeit.
Das Herz des Menschen ist arglistig, wie das Wort sagt; und nimmer wird es diese Eigenschaft verlieren, solange ein Mensch nicht in Wahrheit kennen gelernt hat, was eine vollkommene Vergebung bedeutet. Bis dahin wird er nie die Neigung seines Herzens, sich selbst zu entschuldigen und andere anzuklagen, überwinden können. Welche Antwort hören wir z. B. aus dem Mund Adams, als er in die Sünde eingewilligt hatte und von Gott gefragt wurde: „Hast du gegessen von dem Baum, von dem ich dir geboten, nicht davon zu essen?“ – Er sprach: „Das Weib, das du mir beigegeben Haft, die gab mir von dem Baum, und ich aß“ (1. Mo 3). Und was erwiderte Aaron, als er dem Drängen des Volkes nachgegeben und ihm ein goldenes Kalb gemacht hatte und nun von Mose darüber zur Rede gestellt wurde? Wir lesen: „Und Aaron sprach: Es entbrenne nicht der Zorn meines Herrn! Du kennst das Volk, dass es im Argen ist. Und sie sprachen zu mir: Mache uns Götter. ... Und ich sprach zu ihnen: Wer hat Gold? Sie rissen es sich ab und gaben es mir, und ich warf es ins Feuer, und dieses Kalb ging hervor“ (2. Mo 32).
Wenn ich Schulden habe, die mich drücken und die ich unmöglich bezahlen kann, und jemand kommt zu mir und bietet mir an, er wolle aus Liebe zu mir alles für mich bezahlen, was werde ich dann tun? Ich werde ihm alle meine Schulden bis auf den letzten Heller mitteilen und ihm nichts verheimlichen. So ist es mit dem Sünder. Wenn er erkennt, was er ist und getan hat, und hört nun, was Gott für ihn zu tun bereit ist, so wird er mit Freuden Ihm alles sagen, was sein Herz und Gewissen beschwert. Anstatt zu verheimlichen, tut es ihm wohl, vor einem solchen Gott alles rückhaltlos aufdecken zu können. „Ich sagte: Ich will Jehova bekennen meine Übertretungen; und du, du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde“ (Ps 32,5). Auf Gottes Liebe vertrauend, kommen wir, bekennen Ihm alle unsere Sünden und finden dann, dass sie für ewig hinweggetan sind. Eine vollkommene Vergebung war nie bekannt und konnte nicht bekannt sein, bis das Evangelium kam. Wohl hören wir, dass Gott im Alten Bunde, im Blick auf das Opfer Christi, das gebracht werden sollte, in Nachsicht die Sünden trug und, unbeschadet seiner Gerechtigkeit, hingehen lassen konnte (Röm 3). Aber eine vollkommene, unbedingte Vergebung und eine ewige Erlösung, wie wir sie jetzt als die Frucht des ewigen Werkes Christi genießen, war den Gläubigen des Alten Testaments nicht bekannt.
Im 18. Vers kommen wir zu dem vierten Grund, weshalb Christus Mensch wurde und den Pfad der Leiden durch diese Welt bis in den Tod ging. Er sollte fähig gemacht werden, Mitleid mit uns zu haben. Ich bedarf keines Mitgefühls für meine Sünden; dafür habe ich etwas anderes nötig. Die Schärfe des Wortes Gottes muss darauf angewandt werden. Aber „worin Er selbst gelitten hat, indem Er versucht ward, vermag Er denen zu helfen, die versucht werden“ (V 18). Er kennt aus Erfahrung alle die Schwierigkeiten, durch welche die Gläubigen zu gehen haben. Es ist nicht nur die Macht Christi, die wir kennen, sondern auch, und das ist überaus köstlich, das Mitgefühl seines Herzens. Ich kann unmöglich in eine Trübsal kommen, in welcher Christus nicht bei mir wäre und die Er nicht völlig verstände und weit tiefer gefühlt hätte, als ich sie je fühlen kann. Denn uns bringt oft ein gutes Teil Stolz und Selbstsucht hindurch; Er aber litt, indem Er versucht ward, und nie gab Er in irgendeiner Weise nach. Wir wandeln hienieden durch diese Welt, aber auf diesem Weg gibt es nichts, was Christus nicht sähe, kannte und fühlte. Seine Jünger waren und sind mit Schwachheit umgeben; aber Er ging durch die Schwachheit hindurch und fühlte sie, und jetzt ist Er droben zur Rechten Gottes. So wird uns also im Anfang unseres Kapitels zuerst mitgeteilt, wo Christus jetzt ist, zur Rechten der Majestät in der Höhe, obwohl Ihm noch nicht alles unterworfen ist, und dann finden wir die vier Gründe, um welcher willen Christus Fleisch und Blut annahm und so fähig gemacht wurde, zu sterben.
Es gibt noch etwas anderes in diesem Kapitel, was wir nicht unerwähnt lassen dürfen, und das ist die gesegnete Einheit, von welcher in Vers 11 die Rede ist. „Denn sowohl der, welcher heiligt, als auch die, welche geheiligt werden, sind alle von einem.“ Es handelt sich hier nicht um die Einheit des Leibes, sondern Christus und diejenigen, welche geheiligt werden, sind alle von einem; sie bilden alle, so zu sagen, eine Sache, ein Stück. Selbstverständlich bleibt Christus stets das Haupt; aber Er und alle die Gläubigen sind gleichsam von einer Gattung, sie machen eine Gesellschaft oder eine Gemeinschaft aus. Es heißt nicht, dass Christus als einer von uns aus dem Himmel herniederkam, denn bis zu seinem Tod war und blieb Er völlig allein. „Wenn das Weizenkörn nicht in die Erde fällt und stirbt, so bleibt es allein.“ Vielmehr hat Christus uns zu sich selbst gebracht. So wie wir eins mit dem ersten Adam waren, so sind wir, und zwar in einer noch viel wirklicheren Weise, eins mit dem letzten Adam, mit Christus, verbunden durch den Heiligen Geist. Was uns fehlt, ist, dass wir nicht genug an seine Liebe, sowie an die volle Wirklichkeit und gegenwärtige Ausübung derselben gegen uns, glauben.
„Ich will deinen Namen kundtun meinen Brüdern, inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen“ (V 12). Welch ein überwältigender Gedanke! Wie sollten wir jedes Mal, wenn wir als Versammlung zusammenkommen, fühlen, dass Christus in unserer Mitte ist und das Lob und die Anbetung leitet! Denken wir stets daran, wenn wir in dem Namen Jesu versammelt sind, dass Er gegenwärtig ist und gleichsam die Lob– und Dankeslieder anstimmt? Es ist wunderbar, in welch einer gegenwärtigen Weise Er uns als mit sich verbunden, ja, mit sich eins gemacht, betrachtet!
Der Herr gebe uns in seiner Gnade, diese unaufhörliche und stets tätige Liebe Gottes gegen uns mehr zu kennen und zu genießen – diese Liebe, die sich in dem Tod Christi offenbart, aber nicht erschöpft hat, sondern die Tag für Tag, ohne Unterbrechung, gegen uns ausgeübt wird!