Botschafter des Heils in Christo 1885
Was ist die Kraft unseres Glaubenslebens?
An den Schreiber dieser Zeilen wurde vor einiger Zeit die Frage gerichtet: „Was ist eigentlich die Kraft unseres Wandels? Ist es Christus oder der Heilige Geist?“ Da wir nun im Allgemeinen so viel über Mangel an Kraft in unserem Wandel und Zeugnis zu klagen haben, so mag es gut sein, diese Frage etwas ausführlicher zu behandeln.
Zunächst möchte ich bemerken, dass Christus uns in seinem Leben auf dieser Erde ein vollkommenes Beispiel gegeben hat, wie wir wandeln sollen; und wir sind schuldig, diesem Beispiel nachzuahmen. Dieser unserer Pflicht wird durch den Apostel Johannes in der bestimmtesten Weise Ausdruck gegeben, wenn er schreibt: „Wer da sagt, dass er in Ihm bleibe, der ist schuldig, selbst auch so zu wandeln, wie Er gewandelt hat“ (1. Joh 2,6). Wenn wir alle Schriftstellen, die von Christus als unserem Vorbild und Beispiel reden, zusammenstellen, so sehen wir, dass sie einen doppelten Zweck haben. Entweder stellen sie uns, wie die aus dem ersten Briefe Johannes angeführte Stelle, den göttlichen Maßstab für den Wandel des Gläubigen vor (vgl. z. B. 1. Pet 2,18–25), oder sie ermutigen uns, den Fußstapfen Christi nachzufolgen, wie z. B. in Hebräer 12, wo Christus als der Anfänger und Vollender des Glaubens uns vor Augen geführt wird. Sein Leben war von Anfang bis zu Ende ein Beispiel ununterbrochener Abhängigkeit von Gott; Er war der gehorsame, treue Zeuge bis in den Tod des Kreuzes (obwohl sein Tod weit mehr als das in sich schloss), und wir sind ermahnt, seinen Wandel anzuschauen und stets vor unseren Herzen zu haben, um dadurch zu einem gleichen Ausharren auf dem Pfad des Glaubens ermuntert zu werden. „Ihr“, sagt der Apostel, „habt noch nicht, wider die Sünde ankämpfend, bis aufs Blut widerstanden“, wie Er es getan hat.
Ein jeder wahre Gläubige wird ohne Zweifel dem Gesagten beistimmen; aber jetzt entsteht die Frage: „Durch welche Kraft kann ein solcher Wandel erreicht werden?“ Wenden wir uns für die Beantwortung dieser Frage zur Schrift. Sie bleibt stets der einzige untrügliche Lehrmeister in göttlichen Dingen. Sie gibt uns auch in dieser Sache den nötigen Aufschluss. Da lesen wir nun zunächst in Römer 8,13–14: „Wenn ihr durch den Geist die Handlungen des Leibes tötet, so werdet ihr leben. Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes.“ Und an die Galater schreibt der Apostel: „Wenn wir durch den Geist leben, so lasst uns auch durch den Geist wandeln“ (Kap, 5,25). Wir Werder hier also über zwei Dinge belehrt: erstens dass das Hindernis für uns, (wenn wir uns so ausdrücken dürfen) umso zu wandeln, wie Christus gewandelt hat, in den Handlungen des Leibes, oder wie im Galaterbrief gesagt wird, in dem Fleisch liegt, welches stets wider den Geist gelüftet und immer bemüht ist, seine Herrschaft über das Kind Gottes zurück zu gewinnen; und zweitens, dass die einzige Kraft, durch welche das Fleisch in Schranken oder im Tod gehalten werden kann, (dem Gericht Gottes gemäß, welches am Kreuz über das Fleisch ergangen ist) der Heilige Geist ist. Zugleich werden wir unterwiesen, dass wir durch den Geist Gottes geleitet werden sollen, d. h. dass Er nicht nur die Kraft ist, welche uns befähigt, „unsere Glieder, die auf der Erde sind“, zu töten (Kol 3), sondern dass Er uns auch in unserem Wandel leitet, dass Er unsere Kraft ist, um auf dem göttlichen Pfade in der rechten Weise voran zu schreiten. Es ist sehr wichtig und nötig, diese Unterweisungen zu verstehen, da sie uns belehren, dass wir durchaus keine natürlichen Hilfsquellen haben, dass wir für unseren Wandel und Kampf, sowie für jede Tätigkeit des göttlichen Lebens, ausschließlich auf die Kraft und Leitung des Heiligen Geistes angewiesen sind.
Auf den ersten Blick scheint die Frage hiermit erledigt zu sein. Allein es gibt noch einen anderen Gesichtspunkt, von welchem aus wir sie betrachten können, und zwar ist dieser so wichtig, dass wir ihn nicht unbeachtet lassen dürfen. Obwohl es wahr ist und vielleicht auch allgemein angenommen wird, dass der Heilige Geist die einzige Kraft unseres Wandels ist, so bleibt doch für viele die Frage offen: Wie kommt es dann, dass der Heilige Geist uns nicht befähigt, mit mehr Eifer und Energie Christus nachzufolgen? Es gibt Zahlreiche aufrichtige Gläubige, welche danach verlangen, einem Kaleb zu gleichen, die sich aber bei jedem Schritt, den sie tun, bitter enttäuscht sehen. Sie folgen wohl dem Herrn nach, aber nicht so völlig, wie sie es wünschten; und sie fühlen, dass sie eher einem Petrus als einem Kaleb gleichen. Alle solche Gläubige verstehen nicht völlig, dass der Heilige Geist, obwohl sie Ihn als Geist der Sohnschaft besitzen und durch Ihn versiegelt sind, doch nicht wirken, noch seine Energie entfalten kann, solange das Auge nicht auf Christus gerichtet ist, oder mit anderen Worten, solange nicht Christus als der einzige Gegenstand des Glaubens vor der Seele steht. Der Apostel schreibt an die Galater: „Was ich aber jetzt lebe im Fleisch, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich dahingegeben hat“ (Kap 2,20). Das heißt, sein Glaube hatte Christus als den Sohn Gottes zu seinem Gegenstand, einen Christus, verherrlicht zur Rechten Gottes, verherrlicht als Mensch, aber trotzdem der Sohn Gottes, der in dieser wunderbaren Vereinigung stets der wahre und eigentümliche Gegenstand des Glaubens ist. Christus selbst sagte zu seinen Jüngern, ehe Er aus dieser Welt ging: „Ihr glaubt an Gott, glaubet auch an mich.“ Und wenn wir so jede Stunde, ja, jeden Augenblick in völliger Abhängigkeit leben, wenn Christus, als der zur Rechten Gottes Verherrlichte, den Gegenstand unserer Betrachtung bildet und unsere ganze Seele ausfüllt, so ist der Heilige Geist in uns nicht betrübt und leitet uns durch seine mächtige Kraft, so dass das göttliche Leben, welches uns geschenkt ist, sich in derselben Weise offenbart, wie in Christus, als Er hienieden wandelte, wenn auch selbstverständlich das Maß dieser Offenbarung stets ein unendlich verschiedenes bleibt.
Dies räumt zugleich eine andere Schwierigkeit hinweg. Man hört nicht selten fragen: Muss ich, umso zu wandeln, wie Christus gewandelt hat, Ihn betrachten, so wie Er hienieden war, oder muss ich auf Ihn schauen als Den, der zur Rechten Gottes sitzt? Wir haben schon oben davon gesprochen, in welcher Weise das Beispiel Christi hienieden in der Schrift gebraucht wird, und es ist offenbar, dass nicht ein Christus auf der Erde, sondern ein verherrlichter Christus der Gegenstand unseres Glaubens ist. Wir brauchen nicht zu sagen, dass es stets derselbe Christus ist; der Christus, der einst hienieden wandelte, ist derselbe, der jetzt zur Rechten der Majestät mit Ohre und Herrlichkeit gekrönt ist. Allein nachdem das Werk vollbracht war, wird Christus stets als der Verherrlichte, als der, welcher sich zur Rechten Gottes gesetzt hat, vor unsere Seelen gestellt. Wir betrachten und erforschen das Leben Christi, wie es sich auf dem Schauplatz dieser Welt entfaltet hat, um zu lernen, wie Er handelte, und wie Er sich in den mancherlei Umständen, durch welche Er ging, verhielt; und gewiss, unsere Seelen werden immer wieder zu anbetender Bewunderung hingerissen, so oft wir den Offenbarungen seiner Vollkommenheit, seiner Gnade und Liebe, seiner Demut und Niedriggesinntheit, seines Mitgefühls und Erbarmens, kurz aller seiner gesegneten Eigenschaften, begegnen. Aber dennoch kennen wir Ihn jetzt nur als Verherrlichten, wie der Apostel an die Korinther schreibt: „Daher kennen wir von nun an niemanden nach dem Fleisch; wenn wir aber auch Christus nach dem Fleisch gekannt haben, so kennen wir Ihn doch jetzt nicht mehr also“ (2. Kor 5,16). Und daher, wir wiederholen es, schauen wir auch jetzt auf Ihn, als den Auferstandenen und Verherrlichten.
Hiermit steht noch eine andere Sache in Verbindung. Indem wir die Herrlichkeit des Herrn anschauen, welche jetzt hervorstrahlt, ohne durch einen Vorhang gehindert zu sein, werden wir nach und nach durch die Kraft des Heiligen Geistes in dasselbe Bild verwandelt, dem gleich, mit welchem unsere Herzen beschäftigt und auf den unsere Blicke gerichtet sind. Ich sage „nach und nach“, denn es geht „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2. Kor 3,18). Und derselbe Geist, welcher die Kraft unserer Verwandlung in dasselbe Bild ist, wirkt mächtig in uns zur Darstellung Christi in unserem äußeren Wandel. Zu wandeln, wie Christus gewandelt hat, ist daher nicht eine äußerliche Nachahmung, sondern die Entfaltung des inneren Lebens, und zwar steht diese im Verhältnis zu unserer Verwandlung in das Bild des Herrn durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Wir sehen also, dass wir, wenn es sich um die Kraft Für unseren Wandel handelt, Christus und den Heiligen Geist nicht voneinander trennen dürfen. Wir konnten auf der einen Seite sagen: „Ich vermag alles durch den, der mich kräftigt; denn Er ist sowohl mein Leben, als auch meine Kraft“ (Kol 3; 2. Kor 12); und auf der anderen Seite: „Durch den Geist allein vermag ich die Handlungen des Leibes zu töten und das Fleisch in Knechtschaft zu halten.“ In beiden Fällen sind wir völlig in Übereinstimmung mit der Schrift. Und wenn wir die praktische Seite der Frage betrachten, so müssen wir sagen, dass der große Mangel an Kraft in unserer Mitte lediglich seinen Grund darin hat, dass unsere Herzen so wenig mit Christus und so viel mit anderen, wertlosen Dingen erfüllt sind, dass wir nicht Ihn als einzigen Gegenstand vor unseren Augen haben, dass unsere Blicke nicht unverrückt auf Ihn, unseren verherrlichten Herrn, gerichtet sind. Bleiben wir in Ihm, d. h. gehen wir voran in seiner Gemeinschaft und in der steten Abhängigkeit von Ihm, so werden wir viel Frucht bringen und uns in Wahrheit als seine Jünger beweisen. Der Herr gebe uns in diesen Tagen zunehmender Gleichgültigkeit und Trägheit, fest an Ihm zu halten, Ihn zu betrachten und von Tag zu Tage mehr in sein Bild verwandelt zu werden! Ach, wäre das Begehren des Apostels, „Ihn zu erkennen und in Ihm erfunden zu werden“, auch mehr in unseren Herzen zu finden, wir würden wahrlich nicht so viel über Weltförmigkeit, über Mangel an Kraft, Friede und Freude im Heiligen Geist, in unserer Mitte zu klagen haben. Wir würden lauter als bisher in Wort und Wandel die Tugenden dessen verkündigen, der uns aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat, und mit glücklicherem Herzen der Ankunft des glänzenden Morgensterns entgegenharren.