Botschafter des Heils in Christo 1885
Christus predigen - Teil 2/3
Christus ist also, wie wir gesehen haben, Gottes Prüfstein und Maßstab für die Welt im Allgemeinen, wie für jeden einzelnen Menschen. Die überaus wichtige Frage für alle ist: „Wie ist Christus behandelt worden? Was haben wir mit Ihm getan?“ – Gott sandte seinen eingeborenen Sohn in diese Welt als den Ausdruck seiner Liebe zu verlorenen Sündern. Er sprach: „Was soll ich tun? Ich will meinen geliebten Sohn senden; vielleicht, wenn sie diesen sehen, werden sie sich scheuen.“ Traf es ein, was Gott hier voraussetzt? Scheuten sich die Menschen vor seinem eingeborenen Sohn? Leider nicht! Sie sagten vielmehr: „Dieser ist der Erbe; kommt, lasst uns Ihn töten!“ So behandelte die Welt Christus, als Er aus dem Schoß des Vaters herniederkam.
Und beachten wir wohl, dass es nicht die Welt in ihrer finsteren, heidnischen Form war, die also mit dem Gesegneten verfuhr; nein, es war die Welt des religiösen Juden, des feingebildeten Griechen und des stolzen Römers. Jesus kam nicht in einen verborgenen Winkel dieser Erde, sondern in die Mitte seines eigenen, bevorzugten Volkes, zu denen, welchen die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bündnisse, die Gesetzgebung, der Dienst und die Verheißungen angehörten (Röm 9,4). Zu ihnen kam Er in Demut und Liebe herab. Unter ihnen lebte und wirkte Er. Und was taten sie mit Ihm? Sie zogen dem heiligen, fleckenlosen und liebenden Jesus einen Aufrührer und Mörder vor. Die Welt traf ihre Wahl. Jesus und Barabbas wurden vor sie gestellt, und sie wählte den Mörder.
Welch eine erschreckende Tatsache! – eine Tatsache, die wenig beachtet und verstanden wird, die aber der Welt in ihrer damaligen, wie in ihrer gegenwärtigen Form ihren Stempel aufdrückt. Nichts ist mit ihr zu vergleichen. Alle die schrecklichen Dinge, welche die Zeitungen heute melden und die Gerichtshöfe beschäftigen, welche die Seele oft mit Entsetzen erfüllen und das Blut gerinnen machen, können mit dieser einen Tatsache, der Verwerfung und Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit, nicht in Vergleich gebracht werden. Dieses Verbrechen hebt sich finster und drohend von dem Hintergrund der menschlichen Geschichte ab und zeigt den wahren Zustand der Welt, des Menschen und der Natur.
Hat die Welt je diese schreckliche Tat bereut und Buße getan? Nein; denn wenn sie es getan hätte, so würden die Reiche dieser Welt die Reiche unseres Herrn und seines Christus geworden sein. Doch wir richten die ernste Frage an den unbekehrten Leser dieser Zeilen: Hast du jene Tat bereut und Buße getan? Vielleicht wirst du uns antworten: „Wie kann eine solche Frage an mich gerichtet werden? Was kann ich dafür, dass die Juden und Römer in ihrer Gottlosigkeit den Herrn der Herrlichkeit ans Kreuz schlugen und einen Mörder Ihm vorzogen? Wie kann ich eines Verbrechens beschuldigt werden, das viele Jahrhunderte vor meiner Geburt begangen wurde?“
Doch wir antworten: Es war eine Handlung der Welt, und du bildest in diesem Augenblick entweder noch einen Teil dieser Welt, die vor Gott unter der Schuld der Ermordung seines Sohnes steht, oder du hast, als eine bußfertige und bekehrte Seele, Zuflucht und Schutz in der vergebenden Liebe Gottes gefunden. Hier gibt es keinen neutralen Boden; und je klarer du dies erkennst, desto besser ist es für dich. Denn du kannst unmöglich ein richtiges Urteil über den Zustand dieser Welt und deines eigenen Herzens haben, als in dem Licht, welches das Leben und der Tod Christi über denselben verbreiten. Was die Welt betrifft, so kann eine wirkliche Verbesserung oder eine gründliche Veränderung ihres Zustandes nicht eher eintreten, als bis durch das Schwert des göttlichen Gerichts die Frage entschieden ist, wie sie den Sohn Gottes behandelt hat. Und soweit der Sünder persönlich in Frage kommt, lautet das Zeugnis Gottes: „Tue Buße und bekehre dich, damit deine Sünden ausgetilgt werden!“
Doch dies führt uns zu der Zweiten Seite unseres Gegenstandes, und das ist Christus als Opfer.
Ohne Zweifel ist es viel angenehmer und lieblicher, hierbei zu verweilen; aber wir dürfen das Erste nicht vergessen, wenn wir in Wahrheit „Christus predigen“ wollen. Es wird allzu viel aus dem Auge verloren. Man lebt von den gerechten Forderungen des Gesetzes, und ohne Zweifel benutzt der Heilige Geist dieselben, um das Gewissen aufzuwecken; „denn durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Aber es ist nicht selten der Fall, dass der Mensch in der Blindheit und Torheit seines Herzens gerade das Gesetz benutzt, um seine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, während die Erkenntnis dessen, was der Tod Christi ist – wie er den ganzen Hass des menschlichen Herzens gegen Gott offenbart hat – die Seele von dem völligen und hoffnungslosen Verderben ihres Zustandes überzeugen muss. Und diese Überzeugung ist, wenn sie anders wahrhaftig ist, Buße. Sie ist das moralische Gericht, nicht über meine Handlungen allein, sondern auch über meine Natur, und zwar in dem Licht des Kreuzes, dieses einzig vollkommenen Prüfsteins.
Alles dieses tritt sehr deutlich in der Predigt des Apostels Petrus, wie sie uns in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte mitgeteilt wird, hervor. Werfen wir z. B. einen Blick auf das zweite Kapitel. Dort stellt uns der Heilige Geist Christus sowohl als den wahren Prüfstein des Menschen, als auch als das vollkommene Opfer vor Augen. Wir lesen: „Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus, den Nazaräer, einen Mann, von Gott an euch erwiesen durch mächtige Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch Ihn in eurer Mitte tat, wie ihr selbst wisst – diesen, übergeben nach dem bestimmten Ratschluss und Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand der Gesetzlosen angeheftet und umgebracht. Den hat Gott auferweckt, als Er die Wehen des Todes aufgelöst, wie es denn nicht möglich war, dass Er von demselben behalten würde. ... Das ganze Haus Israel wisse nun zuverlässig, dass Gott Ihn sowohl zum Herrn, als auch zum Christus gemacht hat, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt“ (V 22–24.36).
Hier begegnen wir einer ernsten und eindringlichen Bearbeitung des Gewissens der Zuhörer. Sie hatten nicht nur das Gesetz gebrochen, nicht nur die früheren Boten und weniger hervorragenden Zeugen des Herrn verworfen, sondern sie hatten einen Menschen ans Kreuz geschlagen, der von Gott selbst an ihnen erwiesen worden war, durch mächtige Taten und Wunder; und dieser Mensch war niemand anders, als der Sohn Gottes selbst. Das war die ernste, niederschmetternde Tatsache, welche der von dem Heiligen Geist erfüllte Prediger seinen Zuhörern mit großem Nachdruck aufs Gewissen legte. Und was war das Resultat? – „Als sie aber das hörten, drang es ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den anderen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?“ – Kein Wunder, dass ihnen die Worte des Apostels ins Herz drangen. Ihre Augen waren geöffnet, und was sahen sie? Sie entdeckten, dass sie es mit Gott selbst zu tun hatten, mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und um was handelte es sich? Um das Gesetz? Nein. Um die Propheten? Nein. Um die Satzungen und Zeremonien der mosaischen Haushaltung? Nein. Wohl hatten sie im Blick auf alle diese Dinge in der traurigsten Weise gefehlt; aber es kam jetzt noch etwas in Frage, was über das alles weit hinausging. Ihre Schuld hatte in der Verwerfung und Kreuzigung des Jesus von Nazareth ihren Höhepunkt erreicht. „Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr überliefert und angesichts des Pilatus verleugnet habt, als dieser urteilte, Ihn loszugeben. Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und gebeten, dass euch ein Mann, der ein Mörder war, geschenkt würde; den Urheber des Lebens aber habt ihr getötet, welchen Gott aus den Toten auferweckt hat, dessen wir Zeugen sind“ (Apg 4,13–15).
In dieser Tat hat die Schuld des Menschen ihren höchsten Gipfel erreicht, und wenn dies in der Kraft des Heiligen Geistes einem Herzen nahegebracht wird, so muss es wahre Buße hervorrufen und die ernste Frage erwecken: „Was sollen wir tun, Brüder?“ – „Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich errettet werde?“ – So war es damals, als das Zeugnis des Petrus wie ein scharfes Schwert in die Herzen der Juden drang, oder als der Pfeil aus dem Köcher des Allmächtigen die Seele des Kerkermeisters zu Philippi durchbohrte; und ähnlich wird es heute sein, wenn das Wort der Wahrheit in lebendiger Kraft in Herz und Gewissen dringt und der Mensch sich vor die Frage gestellt sieht: „Was ist geschehen mit dem Sohn Gottes, als Er in Gnade und Erbarmen zu dem Menschen in seinem Elend herabstieg?“
Doch welche Antwort konnte Petrus auf den bußfertigen Schrei seiner Zuhörer geben? Er durfte ihnen antworten: „Tut Buße, und ein jeder von euch werde getauft auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden, und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistesempfangen.“ Und im dritten Kapitel hören wir ihn sagen: „Und jetzt, Brüder, ich weiß, dass ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleich wie auch eure Obersten. Gott aber hat also erfüllt, was Er zuvor verkündigt hat durch den Mund aller Propheten, dass sein Christus leiden sollte. So tut nun Buße und bekehrt euch, dass eure Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung, kommen vom Angesicht des Herrn“ (V 17–19).
Hier werden uns die beiden Dinge – Christus als Prüfstein, und Christus als Opfer – in besonders schöner Weise vor Augen gestellt. Wir sehen das Kreuz einerseits als die Darstellung der Schuld des Menschen, und andererseits als den Beweis der wunderbaren Liebe Gottes. „Ihr habt den Urheber des Lebens getötet“; das war der scharfe Pfeil für das Gewissen der Hörer. „Gott aber hat also erfüllt, was Er zuvor verkündigt hat“; das war der heilende Balsam für die Wunde des Herzens. Es war der bestimmte Ratschluss Gottes, dass sein Christus leiden sollte, obwohl es auf der anderen Seite vollkommen wahr ist, dass der Mensch seinen ganzen Hass gegen Gott in der Verwerfung seines Sohnes offenbart hat; aber sobald eine Seele zu einem wahren Bewusstsein dieser letzten Tatsache kommt und sich in aufrichtigem Bekenntnis vor Gott niederbeugt, zeigt ihr der Heilige Geist, dass dasselbe Kreuz die Grundlage der Ratschlüsse der erlösenden Liebe bildet, und dass Gott im Blick auf dieses Kreuz jedem wahren Gläubigen die volle Vergebung seiner Sünden ankündigen lässt.
Wir begegnen demselben Grundsatz in der rührenden Szene zwischen Joseph und seinen Brüdern, wie sie uns im 44. und 45. Kapitel des 1. Buches Mose erzählt wird. Die schuldigen Brüder werden durch tiefe und schmerzliche Herzensübungen geführt, bis sie endlich in der Gegenwart ihres Bruders, dem sie so viel Böses zugefügt hatten, stehen und ihre Schuld bekennen. Dann erst, und keinen Augenblick eher, dringen die lieblichen Worte an ihr Ohr: „Und nun betrübt euch nicht, und es entbrenne nicht in euren Augen, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt. ... Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott.“
Welch eine Gnade gibt sich in diesen Worten kund! Sobald seine Brüder den Boden des Selbstgerichts betraten, stellte Joseph sich auf den Boden der Vergebung. Er handelte in göttlicher Weise. Solange sie im Blick auf ihre Sünde gedankenlos dahingingen, redete er hart und strenge mit ihnen. Sobald sie aber sagten: „Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns redete; und wir hörten nicht“, begegnete er ihnen mit den lieblichen Worten der Gnade: „Nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott.“
Und so ist es, geliebter Leser, in jedem Fall. In demselben Augenblick, da der Sünder seine Sünden bekennt, begegnet ihm Gott mit einer vollen und freien Vergebung; und sicher, wenn Gott vergießt, so vergibt Er für immer und ewig. „Ich sagte: ich will Jehova bekennen meine Übertretungen, und du, du hast mir vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde“ (Ps 32). Und möchten wir wohl wünschen, dass es anders wäre? Sicherlich nicht. Ein hartes Herz, ein ungebrochener Geist, ein nicht erreichtes Gewissen könnten solche Worte der Gnade: „Betrübt euch nicht; nicht ihr wärt es, sondern Gott“, nimmermehr verstehen und würdigen. Wie könnte ein unbußfertiges Herz Worte wertschätzen, die nur dazu bestimmt sind, einen gebrochenen und zerschlagenen Geist zu beruhigen und aufzurichten? Joseph hätte unmöglich seinen Brüdern in solcher Gnade begegnen können, wenn nicht das Bekenntnis vorhergegangen wäre: „Fürwahr, wir sind schuldig.“
Das ist und bleibt stets die göttliche Ordnung: „Ich will bekennen, und du hast vergeben.“ Sobald das erste in Wahrheit eintritt, hört der Sünder kein Wort mehr über seine Sünden, es sei denn, um ihm zu sagen, dass sie alle vergeben und vergessen sind. „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken.“ Gott vergibt nicht nur, Er vergisst auch. Der überführte Sünder blickt auf das Kreuz, erkennt sich selbst in dem Licht der Herrlichkeiten Christi, dieses göttlichen Prüfsteins, und ruft aus: „Was muss ich tun?“ Dann antwortet ihm Gott, indem Er sein Auge auf Christus richtet, als das vollkommene Opfer, welches nach dem Ratschluss und nach der Vorkenntnis Gottes geschlachtet wurde, um durch das Schlachtopfer seiner selbst die Sünde hinwegzutun.
Wer könnte die Gefühle einer Seele beschreiben, die überzeugt worden ist, dass sie einen Mörder begehrt und den Sohn Gottes gekreuzigt hat, wenn sie erkennen lernt, dass gerade dieser Gekreuzigte der Kanal der Vergebung und des Lebens für sie geworden ist? Welche Sprache könnte die Bewegung eines Menschen ausmalen, der seine Schuld nicht nur in dem Licht der Zehn Gebote, sondern so gesehen hat, wie sie das Kreuz eines von der Welt verworfenen Jesus offenbart, wenn er durch den Glauben erfährt, dass seine Schuld für immer hinweggetan ist? Wer könnte die Gefühle in Worte kleiden, welche die Herzen der Brüder Josephs bestürmten, als sie seine Tränen, die Zeugen seiner innigen Zuneigung zu ihnen, stießen sahen? Welch ein Schauspiel! Die Tränen einer aufrichtigen Reue und der Zärtlichsten Liebe vermischten sich mit einander.
Indes wolle niemand uns missverstehen. Völlig fern liegt uns der Gedanke, als ob Tränen wahrer Buße die Ursache unserer Vergebung oder die Grundlage unseres Friedens bilden könnten. Alle die Tränen der Buße, welche seit den Tagen Josephs bis auf die gegenwärtige Zeit hingeflossen sind, vermochten nicht eine einzige Sünde abzuwaschen, noch konnten sie den Weinenden wahren Frieden mit Gott geben. Das Blut des göttlichen Opferlammes, der Versöhnungstod Christi allein konnte einen heiligen Gott in den Stand setzen, die Sünde zu vergeben und den Sünder zu rechtfertigen. Aber, Gott sei gepriesen! dieses Opfer hat so völlig seinen Namen verherrlicht und alle die Forderungen seiner Gerechtigkeit erfüllt, dass in demselben Augenblick, da ein Sünder seine Schuld, seine Feindschaft gegen Gott und gegen seinen Christus, mit einem Wort, seinen ganzen verdorbenen Zustand erkennt, die göttliche Gnade ihm mit den gesegneten, friedengebenden Worten begegnen kann: „Betrübe dich nicht! – ich will deiner Sünden und deiner Gesetzlosigkeiten nie mehr gedenken! – gehe hin in Frieden!“
Doch vielleicht möchte man einwenden, dass wir zu viel Wert auf das Maß der Überzeugung und Zerknirschung der Seele legten. Das ist indes durchaus nicht unsere Absicht; wir möchten nur darauf hinweisen, dass das Kreuz Christi der einzig passende Maßstab für die Schuld des Menschen ist, und dass nur in dem Licht dieses Kreuzes ein Mensch die ganze Verderbtheit, Sündigkeit und Feindschaft seiner Natur erkennen kann. Viele denken nie daran, dass das Kreuz Christi der höchste Beweis ihrer Schuld ist; sie betrachten es nur als die gesegnete Grundlage der Vergebung. Niedergebeugt von der Bürde ihrer vielen Sünden und Übertretungen, blicken sie auf das Kreuz Christi hin, weil dort allein Vergebung zu finden ist; und sicher tun sie völlig Recht daran. Allein es gibt in dem Kreuz Christi, wie gesagt, noch etwas anderes zu lernen. Es zeigt uns, wie nichts anders es zu tun vermag, was die menschliche Natur in ihrem gefallenen Zustand tatsächlich ist. Es wird nie genügen, einen Blick zurückzuwerfen auf die Menschen, die zurzeit des Herrn lebten, und davon zu reden, welch schreckliche, gottlose Sünder sie waren, indem sie den Herrn der Herrlichkeit, die lebendige Verkörperung alles dessen, was heilig, gerecht, rein und gut ist, ans Kreuz nagelten. Nein, es ist nötig, das Kreuz gleichsam ins neunzehnte Jahrhundert hineinzubringen und alles: Natur, Welt und das eigene Ich, daran zu messen.
Und was werden wir finden, wenn wir das tun? Wir weiden die Entdeckung machen, dass keine Veränderung eingetreten, dass das „Kreuzige, kreuzige Ihn!“ eben sowohl der Ruf der Welt des neunzehnten als des ersten Jahrhunderts ist. Das Kreuz war damals und ist heute noch der wahre Maßstab der Schuld des Menschen. Und was wird die Folge sein, wenn ein Mensch sich selbst in dem Licht dieses ernsten Prüfsteins betrachtet? Die tiefste Verabscheuung des eigenen Ichs. Und das ist nicht nur wahr in Bezug auf den Hurer und Trunkenbold, sondern auch auf den sittlichen, ehrbaren und religiösen Menschen dieser Welt. Angesichts des Kreuzes verschwindet jede Frage über Unterschiede in dem Charakter, in den Verhältnissen und Umständen eines Menschen, über die größere oder geringere Strafbarkeit seines Tuns, die der Mensch stets so gerne erhebt, um sich zu entschuldigen und andere zu verurteilen; alle stehen dort ohne Unterschied als solche, die den Sohn Gottes verworfen und so ihrer Feindschaft gegen Gott den völligsten Ausdruck gegeben haben.
Wir verweilen bei diesem Punkt solange, weil wir fühlen, von welcher Wichtigkeit er ist gerade in diesen letzten Tagen. Lass uns, geliebter Leser, uns selbst und alles um uns her stets beurteilen nach diesem vollkommenen Prüfstein, den Gott uns gegeben hat, nach einem gekreuzigten und verworfenen Christus. Bist du noch nicht ein Eigentum des Herrn, so lausche nicht länger auf die Einflüsterungen Satans, sondern betrachte Ihn; und siehst du in Ihm den ganzen verlorenen und verdorbenen Zustand, in welchem du dich befindest, so wird Gott dich auch weiterführen, um in Ihm das göttliche Opfer zu erblicken, welches das Gericht Gottes wider die Sünde trug und den Himmel für den Sünder öffnete (Schluss folgt).