Botschafter des Heils in Christo 1885
Kurze Gedanken über die Rechtfertigung
„Wie sollte ein Mensch gerecht sein bei Gott, und wie sollte rein sein der vom Weib Geborene?“ – das war eine ernste Frage, welche vor drei Jahrtausenden an den Patriarchen Hiob gerichtet wurde, und die auch im Lauf der vielen Jahrhunderte ihr Interesse nicht verloren hat. – Kann ein Mensch bei Gott gerechtfertigt werden? Bildad, der Suchäer, nimmt dies nicht an; er weiß nur, was der Mensch ist, und in feierlichen Worten spricht er von ihm und seinen Beziehungen zu Gott: „Siehe bis zum Mond hin, und er gibt keinen Schein, und die Sterne sind nicht rein in seinen Augen: wie viel weniger ein Mensch, die Made, und das Menschenkind, der Wurm!“ (Hiob 25,5; 15,14–16) Ähnlich redet selbst David: „Gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht! denn kein Lebendiger ist gerecht vor dir“ (Ps 143,2); obwohl er an einer anderen Stelle die Glückseligkeit des Menschen preist, dessen Übertretung vergeben und dessen Sünde bedeckt ist. Er kannte keine völlig befriedigende Lösung dieser Frage, und noch weniger Bildad, der Suchäer. Es erging ihnen wie einem Menschen, der in dem unbestimmten Licht des anbrechenden Morgens Wohl die ungefähren Umrisse der Gegenstände um sich her erkennt, der aber nichts genau unterscheiden kann.
Wir aber, denen der Lichtglanz des Evangeliums im Angesicht Jesu Christi voller Gnade und Wahrheit entgegen strahlt, finden jetzt im Wort Gottes eine völlig genügende Antwort auf jene Frage. Das dritte Kapitel des Römerbriefes, dessen wunderbarer Inhalt „jeden Mund verstopft“ und zeigt, dass „alle Welt dem Gericht Gottes verfallen ist“, sagt uns: „Aus Gesetzes Werken wird kein Fleisch vor Gott gerechtfertigt werden.“ Aber nachdem der Apostel in kurzen Worten den traurigen Zustand und die Schuld aller Menschen dargestellt und göttlich bewiesen hat, dass „alle gesündigt haben und nicht die Herrlichkeit Gottes erreichen“, dürfen wir gleich darauf den gnadenvollen Ausspruch hören: „Wir werden umsonst gerechtfertigt durch seine Gnade.“ So lesen wir auch in Galater 3, „dass Gott die Nationen ans Glauben rechtfertigt“; und wiederum im Römerbrief: „Welche Er aber berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt“ (Röm 8). Da dies die Worte Gottes selbst sind, so wissen wir, dass es eine Rechtfertigung vor Gott gibt.
Fragen wir nun zunächst: Wer ist der, welcher rechtfertigt? So gibt uns auch hierüber der Römerbrief in gesegneten Worten Aufschluss: „Zur Erweisung seiner (d. i. Gottes) Gerechtigkeit, dass Er gerecht sei und den rechtfertige, der des Glaubens an Jesus ist“ (Röm 3,26); und wie wir schon vorhin gehört haben: „Welche Er aber berufen hat, diese hat Er auch gerechtfertigt“ (Röm 8,30). Gott also ist es selbst, der da rechtfertigt. Die Wichtigkeit dieser Tatsache kann nicht klar genug ans Licht gestellt, nicht laut genug betont werden; denn welche Er rechtfertigt, diese müssen in der Tat gerechtfertigt sein! Es ist diese Rechtfertigung kein fehlerhaftes Werk, gekennzeichnet durch menschliche Unvollkommenheit, sondern sie ist von unbestreitbarem und unwandelbarem Wert für alle Ewigkeit. Im Blick auf die Größe und Erhabenheit dieser göttlichen Wahrheit ruft der Apostel überströmenden Herzens aus: „Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme!“ (Röm 8,33–34)
Da es also eine Rechtfertigung gibt, wie wir in Gottes Wort gefunden haben, und Gott selbst es ist, welcher rechtfertigt, so ist es weiterhin von großer Wichtigkeit, zu wissen, welche Personen dieser Rechtfertigung teilhaftig werden. Zur Beantwortung dieser Frage wenden wir uns wieder zum 3. Kapitel des Römerbriefes. Dort lesen wir die entscheidenden Worte: „dass er den rechtfertigt, der des Glaubens an Jesus ist.“ Nichts könnte einfacher sein. Den Gläubigen, und den Gläubigen allein, rechtfertigt Gott. Wie könnte jemand wissen, was es ist, gerechtfertigt zu sein, der nicht an Ihn, den Hochgelobten, geglaubt hätte, an Ihn, der einst der Mann der Schmerzen war, der aber jetzt als der verherrlichte Mensch zur Rechten Gottes sitzt, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt? Wenn es im nächsten Kapitel heißt (Röm 4,5): „dass er den Gottlosen rechtfertigt“, so bezieht sich das natürlich nur auf den Zustand, in welchem der Mensch gelebt hat, ehe er gläubig wurde. Wir sind von Natur „gottlos“, wie uns dies das 5. Kapitel in so ernsten Worten zeigt. Wir finden da drei Ausdrücke, welche des Menschen natürlichen Zustand kurz bezeichnen. Wir sind von Natur 1. „kraftlos“ (V 6); 2. „Sünder“ (V 8); 3. „Feinde“ (V 10). Die erste Bezeichnung ist verneinend; sie gibt an, was wir nicht sind oder haben; wir sind ohne Kraft zum Guten, von Natur völlig kraftlos, Gottes Willen zu tun. Die nächste Bezeichnung drückt aus, was wir sind. Wir sind Sünder, Schuldner und unter dem Gericht, um unserer bösen Werke willen. Am schrecklichsten aber ist es, dass wir auch unserem inneren Zustand nach Feinde Gottes sind. Solche sind wir alle von Natur; aber die Gläubigen können, mit unendlichem Dank gegen Gott, sagen: Solche „waren“ wir einst (V 6.8.10; vgl. auch Tit 3,3). Die Feindschaft des Menschen gegen Gott erwies sich am völligsten, als Christus hier auf Erden wandelte. Gott war offenbart im Fleisch und wohnte unter uns in vollkommener Liebe zum Menschen, aber Er wurde „gehasst ohne Ursache.“ Er war der Menschen Spott und Hohn. So ist der Mensch! Aber gepriesen sei der Name des Herrn! Von allem, wovon wir im Gesetz Moses (d. h. durch eigene Kraft und auf dem Grundsatz des Gesetzes und der Werke) nicht gerechtfertigt werden konnten, „wird in diesem jeder Glaubende gerechtfertigt“ (Apg 13,39). So ist Gott!
Fragen wir nunmehr: Was ist Rechtfertigung? So müssen wir uns betreffs der Antwort zu einigen Stellen im 4. Kapitel des Römerbriefes wenden. Dort lesen wir in Vers 3: „Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“ Dann in Vers 5: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet.“ Und wiederum in Vers 9: „Der Glaube ist dem Abraham zur Gerechtigkeit gerechnet worden.“ Rechtfertigung ist also eine richterlich zuerkannte oder zugerechnete Gerechtigkeit. Dass Gott uns vor sich für gerecht erklärt, ist unsere Rechtfertigung. Auf welchem Grund Er dies tut, werden wir sogleich sehen. Zunächst möchten wir die so hochwichtige Wahrheit feststellen und nachdrücklich hervorheben, dass Rechtfertigung nichts mehr und nichts weniger bedeutet, als von Gott und vor Gott richterlich gerecht gesprochen worden zu sein. Das ist die positive, unveränderliche Stellung des Gläubigen, jetzt und in alle Ewigkeit. Rechtfertigung ist nicht bloß Vergebung und Freisprechung von Schuld, sondern sie ist eine tatsächliche Stellung in vollbrachter, ewig dauernder Gerechtigkeit in Christus vor Gott, eine Stellung, in welche wir bereits gebracht worden sind durch Gottes eigene Wirksamkeit, durch Ihn, der den Gottlosen rechtfertigt, welcher an Jesus glaubt.
Hören wir jetzt weiter, was die Schrift lehrt über den Grund, auf welchem wir gerechtfertigt werden. In Römer 4,25 lernen wir, dass der Herr „unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist“; in Römer 5,1, dass „wir gerechtfertigt worden sind aus Glauben“; und in Vers 9, dass „wir durch sein Blut gerechtfertigt sind.“ Ihrem wahren Charakter nach entspricht unsere Rechtfertigung dem Wert, den das Blut Christi vor Gott hat; durch dieses allem sind wir gerechtfertigt, und gemäß dem unaussprechlich kostbaren Wert desselben ist unsere Annahme und Stellung in seiner heiligen Gegenwart. Von menschlicher Seite aus betrachtet, ist sie „aus Glauben“; d. h. wir erlangen sie auf diesem Grundsatz und nicht auf demjenigen der Werke. Wir können praktisch auch nicht gerechtfertigt werden, bis der Glaube bei uns in Tätigkeit tritt. So lesen wir in der bereits angeführten Stelle: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet“ (Röm 4,5). Ebenso wird Abraham, der durch seinen alle Hindernisse überwindenden Glauben hervorragend war, als Vorbild des Gerechtfertigten dargestellt. Ferner sahen wir, dass unsere Rechtfertigung mit der Auferstehung Christi in Verbindung steht. Er wurde „unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt“ (Röm 4,25). Wir müssen an seiner Auferstehung teilhaben, um gerechtfertigt zu sein. Gott ist es, welcher rechtfertigt, und der auferstandene Christus stellt uns in seiner Person in der Gegenwart Gottes als Gerechtfertigte dar. Er ist dort der Ausdruck jener auf ewig bestehenden, vollendeten Gerechtigkeit, in welche wir kraft seines Todes und seiner Auferstehung eingeführt worden sind (2. Kor 5,21).
Fragen wir zum Schluss noch, was das Ergebnis der Rechtfertigung ist, so antwortet die Stelle, die wir zuletzt aus dem Römerbrief angeführt haben, zunächst darauf: Unsere Sünden und Übertretungen sind nicht mehr, sie sind alle getragen, alle hinweggetan; Christus, unser Herr, wurde für sie dahingegeben; Er starb für sie, um sie hinwegzunehmen. Und jetzt, da Er auferweckt ist, können sie unmöglich noch vor Gott gefunden werden. Gott hat nach seiner Gerechtigkeit in Bezug auf sie gehandelt, damit Er gerecht sei und doch die Freude habe, der Rechtfertiger dessen zu sein, der an Jesus glaubt.
Indes haben wir infolge der Rechtfertigung nicht nur „Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus“, sondern wir haben auch „Zugang zu der Gnade, in welcher wir stehen.“ Auf immer und ewig ist der Friede zwischen uns und Gott festgestellt, und wir können jeden Augenblick mit Freimütigkeit zu Gott nahen, in dem Bewusstsein, dass wir Ihm in Christus Jesus wohlannehmlich sind. Überdies hören wir: „Da wir jetzt durch sein Blut gerechtfertigt sind, werden wir durch Ihn errettet werden vom Zorn“ (Röm 5,9).
Das Erste hat also Bezug auf die Vergangenheit: alle meine Sünden sind ausgetilgt durch sein Blut, und ich habe Frieden mit Gott; das Zweite auf die Gegenwart: ich stehe in der Gunst Gottes und habe freien Zugang zu Ihm; das Dritte endlich geht auf die Zukunft: ich werde errettet werden von dem Zorn, der über diese Welt und alles, was von ihr ist, kommen wird, ja ich bin jetzt schon fähig gemacht, mich in der Hoffnung der Herrlichkeit Gottes zu rühmen. Gott versichert uns in seinem ewigen Worte, dass wir so völlig vor Ihm von aller Schuld befreit und so angenehm gemacht sind in dem Geliebten, dass, „gleich wie Er ist, (Er, der verherrlichte Mensch zur Rechten Gottes) also auch wir sind in dieser Welt“ (1. Joh 4,17). Angesichts dieser Tatsache haben wir Freimütigkeit für den Tag des Gerichts.
Wie wunderbar und herrlich ist Gottes gnadenvoller Ratschluss über uns; wie gesegnet ist das teure Werk Christi; wie klar sind die Aussprüche des Heiligen Geistes in Bezug auf die Sicherheit und Gewissheit der Stellung des Gläubigen vor Gott, sowohl jetzt als auch in alle Ewigkeit! Möchten wir immer mehr eindringen in die Erkenntnis seines Willens, Werkes und Wortes, „Zum Preis der Herrlichkeit seiner Gnade, worin Er uns begnadigt hat in dem Geliebten!“