Botschafter des Heils in Christo 1885
Die Sachwalterschaft Christi
Oft erhebt sich in den Herzen von Gläubigen, besonders von solchen, die noch jung im Glauben sind, die Frage: „Wie steht es mit den Sünden, die wir nach unserer Bekehrung begehen?“ Schon manches Kind Gottes hat in tiefer Niedergeschlagenheit und aufrichtiger Betrübnis gesagt: „Ich weiß, dass ich an Christus geglaubt habe, und bin auch gewiss, dass meine Sünden in seinem Blut abgewaschen und für immer hinweggetan sind; aber was mich immer wieder beunruhigt, das sind die Sünden, die ich jetzt begehe, nachdem ich gläubig geworden bin. Was soll ich doch mit denselben anfangen?“
Solchen aufrichtigen Seelen behilflich zu sein, ist der Zweck der nachfolgenden einfachen Betrachtung.
Die göttliche Antwort auf obige Frage findet sich in 1. Johannes 2,1–2, wo wir lesen: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf dass ihr, nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat: wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und Er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt“; und in Kapitel 1,9, wo es heißt: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ Es sind Gläubige, an welche der Apostel schreibt; er nennt sie seine Kinder und setzt gar nicht voraus, dass sie sündigen, wie es denn ja auch stets höchst traurig ist, wenn ein Gläubiger, ein Gereinigter und Geheiligter, sündigt. Zudem können nur solche, welche in Wahrheit wiedergeboren sind, Gott ihren Vater nennen: „Wir haben einen Sachwalter bei dem Vater.“
In einem Sinn hat jeder wahre Gläubige die Vergebung aller seiner Sünden. „Ich schreibe euch, Kinder, weil euch die Sünden vergeben sind um seines Namens willen“ (Kap 2,12). Es ist sehr wichtig, zu unterscheiden zwischen der Tatsache, dass unsere Sünden ein für alle Mal durch das „eine Opfer“ auf dem Kreuz hinweggetan sind, und der Vergebung, die einem Kind von Seiten des Vaters zuteilwird, wenn es gesündigt hat. Zwei Dinge sind nötig, um in der Gegenwart Gottes glücklich sein zu können: die Vergebung der Sünden und ein neues Leben, eine neue Natur. Wir finden diese beiden Dinge in Kapitel 4,9–10. In Vers 9 heißt es: „Hierin ist die Liebe Gottes zu uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn gesandt hat in die Welt, auf dass wir durch Ihn leben möchten“, und in Vers 10 hören wir, dass Er „Seinen Sohn gesandt hat als eine Sühnung für unsere Sünden.“
Jeder Mensch, der in diese Welt hineingeboren wird, ist entfremdet von Gott, in völliger Unkenntnis über Ihn und im Besitz einer gefallenen, verdorbenen Natur, welche Feindschaft gegen Gott ist. Er ist „tot in Vergehungen und Sünden“, ohne eine Spur von göttlichem Leben oder dem Begehren, Gott zu nahen (Eph 2). „Da ist nicht, der Gott suche“ (Röm 8,11). Aber Gott sah uns in diesem schrecklichen Zustand, mit nichts anderem, als dem Tod und dem ewigen Gericht vor uns, und Er liebte uns und sandte seinen Eingeborenen in diese Welt, „auf dass wir durch Ihn leben möchten.“ Und durch die mächtige Wirksamkeit des Heiligen Geistes werden wir von neuem geboren und empfangen ewiges Leben, so wie wir in Johannes 1,12–13 lesen: „So viele Ihn aber aufnahmen, denen gab Er das Recht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind.“ Alle diejenigen, welche Christus aufgenommen und in Wahrheit an Ihn geglaubt haben, können daher auf Grund des Wortes Gottes sagen: Wir sind Kinder Gottes und aus Gott geboren.
Wir haben also ein Leben und eine Natur, welche Gott liebt, in Ihm ihre Wonne findet und Gemeinschaft haben kann mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus (1. Joh 1,3); während wir in unserem alten Leben und Zustand keine Gemeinschaft irgendwelcher Art mit Gott haben konnten. Welch ein wunderbares Wort: „Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn!“ Was bedeutet das Wort „Gemeinschaft?“ Es will sagen, dass wir gemeinsame Gedanken, Freuden und Interessen mit Gott haben. Die neue Natur kann sich Gottes selbst erfreuen und Ihn genießen, und das wird unsere Freude in alle Ewigkeit ausmachen. Und in demselben Maße, wie wir diese Gemeinschaft genießen, wird jetzt schon unsere Freude völlig sein (V 4). Die Grundlage unseres Friedens bilden der Tod und die Auferstehung Christi, und sie kann daher, Gott sei dafür gepriesen! niemals erschüttert werden, niemals wanken. Aber unsere Freude hängt davon ab, wie wir hienieden wandeln und in wie weit wir in der „Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ leben.
Gemeinschaft mit dem Vater! – mancher meiner Leser fühlt sich vielleicht versucht, auszurufen: „Wie ist es möglich, dass solch arme, schwache Wesen, wie wir sind, Gemeinschaft haben können mit dem Vater und mit seinem Sohn!“ Allein denke dir, du beschäftigtest dich mit Christus und erkanntest etwas von seiner Herrlichkeit und Vollkommenheit und erfreutest dich darin; nun, der Vater findet seine Freude und Wonne ebenfalls in Ihm, und so hast du durch die Gnade gemeinsame Gedanken und Gefühle mit dem Vater, obwohl selbstverständlich in einem sehr verschiedenen Maß, in einem weit, weit niedrigeren Gerade. Ferner hören wir aus dem Mund des Herrn die Worte: „Niemand erkennt den Vater, als nur der Sohn, und wem irgend der Sohn Ihn offenbaren will“ (Mt 11,27). Wenn nun Christus unseren Seelen den Vater in all seiner Liebe offenbart und uns dann sagt: „Mein Vater ist euer Vater, mein Gott euer Gott“, so haben wir gemeinsame Gedanken mit dem Sohn über den Vater, obwohl wiederum nur in dem Maß, als wir fähig sind, in diese Gedanken einzugehen.
Ach, wenn doch alle Gläubige mehr von dieser Gemeinschaft, von diesem unserem höchsten Vorrecht, kannten! Wie glücklich würden sie sein, und welch ungeahnte Segnungen wurden sie genießen! Der Friede, welcher durch das Blut seines Kreuzes gemacht ist, kann sich, wie bereits bemerkt, nie verändern, weil er nicht von uns abhängt, sondern auf den Tod und die Auferstehung des Herrn Jesus gegründet ist; aber unsere Gemeinschaft mit dem Vater, unsere Freude, unser praktischer Genuss des Friedens Gottes, der allen Verstand übersteigt, kann und muss unterbrochen und gestört werden durch einen einzigen unreinen Gedanken, durch das geringste Abirren von dem Gott wohlgefälligen Pfade. Wenn wir sündigen, so ist es, als ob eine Wolke zwischen uns und die Sonne träte; die Sonne bleibt unverändert, aber wir sehen und fühlen ihre Strahlen nicht.
Die Sachwalterschaft Christi hat den Zweck, unsere Seelen wiederherzustellen, wenn die Gemeinschaft auf irgendeine Weise unterbrochen ist; nicht aber, unsere Sünden wegzunehmen, denn das ist auf dem Kreuz geschehen. Wir lesen in Kapitel 2,1: „Wenn jemand gesündigt hat: wir haben einen Sachwalter bei dem Vater.“ Man denkt gewöhnlich, dass erst dann, wenn wir unsere Sünden bekannt haben, Christus zum Vater gehe und für uns eintrete, um uns wieder in den verlorenen Genuss der Gemeinschaft einzuführen. Aber es heißt nicht: „Wenn jemand seine Sünde bekennt“, sondern: „wenn jemand gesündigt hat.“ Da ist ein Kind Gottes: es ist wiedergeboren, seine Sünden sind ein für alle Mal hinweggetan, und es ist „fähig gemacht zu dem Anteil am Erbe der Heiligen in dem Licht“ (Kol 1,12); es fällt in eine Sünde, und durch diese Sünde ist, obgleich es nicht aufgehört hat, ein Kind Gottes zu sein, seine Gemeinschaft mit dem Vater unterbrochen und seine Freude verloren. Was nun? – „Wir haben einen Sachwalter bei dem Vater.“ Ein Sachwalter ist eine Person, welche die Sache eines anderen übernimmt und seine Angelegenheiten vertritt und ordnet. Wer ist nun diese Person, welche unsere Sache bei dem Vater vertritt? Kein Geringerer, als Jesus Christus, „der Gerechte“, nicht „der Liebende“, oder „der Barmherzige“, wie wir wohl denken möchten, sondern „der Gerechte.“ Welch eine kostbare, gesegnete Wahrheit! Wenn Er dort ist vor Gott als der Gerechte, so ist das der vollgültige Beweis, dass unsere Sünden für immer hinweggetan sind; denn Er nahm sie am Kreuz auf sich, und jetzt steht Er vor Gott ohne dieselben und ist dort unsere unwandelbare Gerechtigkeit.
Auch ist Er „die Sühnung für unsere Sünden“ (Kap 2,2); d. h. Gott ist völlig befriedigt worden betreffs unserer Sünden, als Christus sie an seinem eignen Leib auf das Holz trug (1. Pet 2,24). Und jetzt ist Er dort in der Gegenwart unseres Gottes und Vaters und bittet für uns, und die Folge seiner Fürbitte ist, dass das Wort Gottes durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes aus unser Gewissen angewandt und wir dahin gebracht werden, unsere Sünde zu fühlen und sie vor Gott, unserem Vater, zu bekennen. Und „wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ Beachten wir wiederum die Ausdrücke: „treu und gerecht“; es heißt nicht: „liebevoll und barmherzig“, und warum nicht? Nun, wenn ein Kind Gottes gesündigt hat, so ist Christus vor dem Vater und sagt gleichsam: „Ich habe jene Sünde an meinem Leib auf das Holz getragen, und ich bin hier als der Gerechte, um jenes Kind Gottes zu vertreten.“ So ist Gott treu und gerecht dem Werk und der Person Christi gegenüber, wenn Er uns unsere Sünden vergibt; denn das Werk Christi hat sie alle hinweggetan, und Er selbst ist unsere Gerechtigkeit vor Gott. Würde Christus nicht zum Vater gehen, wenn wir sündigen, ja, ehe wir gesündigt haben, so würden wir nie zur Einsicht und zum Bekenntnis unserer Sünde kommen, sondern weiter und weiter von dem Herrn abirren. Wie köstlich ist es, an die unwandelbare Liebe des Herrn und an seinen Dienst für uns zu denken! Er liebte uns und gab sich selbst für uns dahin, und obgleich Er nicht mehr hienieden ist und wir uns inmitten einer bösen Welt befinden, inmitten von Schwachheit und Sünde, so ist seine Liebe doch dieselbe geblieben; und wenn wir sündigen und uns in unserer Seele von Ihm entfernen, so stellt Er uns wieder her und führt uns in die Gemeinschaft zurück, die wir verloren hatten.
Die Antwort auf die Frage, was ein Kind Gottes mit seinen Sünden zu tun hat, ist also einfach diese: Wir haben sie Gott, unserem Vater, zu bekennen. Doch wie gesegnet ist es, zu wissen, dass, wenn wir gesündigt haben und bekennen, Christus schon unserthalben bei dem Vater gewesen ist, und dass wir das Wort haben: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit!“ Auf Grund des Wortes Gottes selbst dürfen wir, sobald wir unsere Sünde in Wahrheit bekannt und gerichtet haben, glauben, dass sie uns vergeben ist. Ein wahres Bekenntnis ist nicht nur ein allgemeines Bekennen von Sünden am Schluss des Tages – das ist überhaupt kein wirkliches, aufrichtiges Bekenntnis. Nein, so oft eine Sünde auf unserem Gewissen lastet, muss sie gerichtet und bekannt werden; und zwar sollten wir uns nicht nur für die tatsächliche Sünde richten, sondern auch für den Zustand, in welchem sich unser Herz befand, als wir sündigten, und das ist eine weit tiefer gehende Sache. Denn wären wir in Gemeinschaft mit dem Herrn geblieben, so würden wir nicht in die Sünde gefallen sein. Solange ein Kind Gottes in Gemeinschaft mit dem Herrn ist, fällt es in keine wirkliche Sünde; sündigt es, so hat es sich vorher schon von Ihm entfernt. Aber welch ein gesegnetes Vorrecht ist es, nachdem wir gesündigt haben, zu unserem Vater gehen und Ihm alles sagen zu dürfen, und zwar nicht als ein Sünder, um errettet oder von neuem bekehrt zu werden, sondern als ein Kind, das die vollkommene Liebe des Vaters kennt, aber zugleich auch weiß, dass Er „Licht“ ist und keine Gemeinschaft haben kann mit irgendetwas, das sich mit diesem Licht nicht verträgt.
Geliebter Leser, möchten wir mehr und mehr kennen lernen, was es heißt, „Gemeinschaft zu haben mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“, damit „unsere Freude völlig sei“, bis wir in jene gesegnete Heimat eingehen, wo sich nichts Gemeines mehr findet, „oder was Gräuel und Lüge tut, sondern nur die geschrieben sind in dem Buch des Lebens des Lammes“ (Off 21,27); wo wir keinen „Sachwalter bei dem Vater“ mehr nötig haben, sondern in ewiger, unveränderlicher Reinheit, heilig und tadellos vor unserem Gott und Vater stehen werden. Die Welt, das Fleisch, der Teufel, mit einem Wort, alles, was unsere Gemeinschaft hienieden zu stören suchte, wird dort für immer verschwunden sein, und wir werden die endlosen Zeitalter der Ewigkeit hindurch erfahren, was es ist, eine ununterbrochene Gemeinschaft in ewiger Herrlichkeit zu genießen.