Botschafter des Heils in Christo 1885
Der Richterstuhl Gottes und Christi
Wir finden den Ausdruck „Richterstuhl Gottes“ oder „Richterstuhl Christi“ nur in Römer 14 und 2. Korinther 5. In der ersten Stelle steht er in Beziehung zu der Ermahnung, nicht vor der Zeit zu richten, am zweiten Orte in Beziehung zu der Anreizung zu guten Werken. Der Gegenstand selbst ist höchst ernst und zugleich höchst gesegnet, und wird dies immer mehr, je mehr wir ihn verstehen. Ich glaube, dass vor dem Richterstuhl jede einzelne Tat unseres Lebens offenbar werden wird, wie auch die Gnade Gottes und die Wege, die Er uns in Verbindung mit unserem Tun geführt hat, bekannt sein werden. Wir lesen in Römer 14, dass ein jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben wird, und das Wort erwähnt den Richterstuhl hier im Hinblick darauf, dass wir nicht einander über Speisen und Tage, oder über eine Sache ähnlicher Art, vor der Zeit richten sollen.
Ich denke, dass allein die Handlungen dort zur Offenbarung kommen werden. Da aber die tagtäglichen Handlungen unseres Lebens so ganz und gar von unseren inneren Gefühlen abhängig sind, so ist es schwierig, die Handlungen von den inneren Gedanken zu trennen. Ich glaube, dass das Ganze unserer Handlungen dort vor dem Richterstuhl einzeln klargelegt werden wird; jedoch für die Gläubigen nicht in einer Weise, als wenn sie noch „im Fleisch“ wären. Deshalb wird auch nicht die Verdammnis das Resultat jenes Offenbarwerdens sein, sondern wir werden vielmehr mit unseren eignen Augen die Gnade schauen, welche sich mit uns beschäftigt hat, sowohl im bekehrten, als auch im unbekehrten Zustand. In den Ratschlüssen Gottes bin ich auserwählt vor Grundlegung der Welt; daher glaube ich, dass meine eigene Geschichte dort vor dem Richterstuhl entrollt werden wird, und gleichlaufend mit ihr die Geschichte der Gnade und des Erbarmens Gottes in Bezug auf mich. Es wird dort das Wie und Warum aller unserer Handlungen offenbar werden. Überhaupt wird die ganze Szene für uns den Charakter des Offenbarwerdens, nicht aber des Gerichts tragen. Wir sind schon jetzt nicht im Fleisch vor Gott; in seinen Augen sind wir durch seine Gnade tot. Dann aber werden wir erkennen, welchen Segen wir verloren haben, wo irgend wir im Fleisch wandelten, und welcher Verlust uns dafür geworden ist; andererseits aber werden dort auch die Wege, die uns Gott geführt hat, alle Wege der Weisheit, der Gnade und des Erbarmens, von uns zum ersten Male völlig erkannt und verstanden werden.
In vollkommener, durchsichtiger Klarheit wird dort die Geschichte eines jeden kund werden. Es wird gesehen werden, wie ich nachgab, und wie Er mich bewahrte; wie mein Fuß ausglitt, und wie Er mich wieder aufrichtete; wie ich der Gefahr und Schande nahe war, und wie Er mit seinem eigenen Arm dazwischentrat. Das ist, wie ich glaube, die Bedeutung des Wortes: „Die Braut hat sich bereitet“; und ich glaube, dass jener Augenblick ein höchst wunderbarer sein wird. Dann ist kein Fleisch mehr zu richten; die neue Natur aber wird zu der vollen Kenntnis der Fürsorge und Liebe gelangt sein, welche in wahrhaftiger Gerechtigkeit und Heiligkeit, und auch in Gnade, uns Schritt für Schritt auf dem ganzen Lebensweg folgten. Einige Teile unseres Lebens, die uns bis dahin dunkel waren, werden dort vollständig unserem Verständnis erschlossen sein und völlig klarwerden. Gewisse Neigungen unserer Natur, die wir möglicherweise jetzt für nicht so verderblich und unheilvoll halten, wie sie es wirklich sind, und zu deren Tötung wir vielleicht gegenwärtig ernsten, uns unverständlichen Führungen unterworfen sind, werden dort völlig erkannt werden. Ja, mehr noch; wir werden dort sehen, dass das Straucheln selbst, das uns jetzt in so bitteres Leid versetzt, von Gott benutzt worden ist, uns vor noch schrecklicheren Dingen zu bewahren. Dort erst werden wir, wie ich glaube, eine vollständige Erkenntnis von der Schlechtigkeit unseres Fleisches haben. Wie köstlich ist der Gedanke, dass wir dann nicht nur nach den Ratschlüssen Gottes dem Fleisch nach tot sind, wofür (wir jetzt uns halten dürfen und sollen) sondern dass wir auch von dem Fleisch auf immer befreit sein werden!
Warum verleugnen und töten wir nun angesichts jener ernsten Stunde nicht mehr dieses Fleisch? Der Herr wolle uns geben, dass wir es mehr und mehr tun zum Preis seiner Gnade! Der erhabene Gegenstand des Richterstuhls führt, wenn er in seiner ganzen Tragweite erfasst wird, die Seele zum vollen Verständnis unserer persönlichen Stellung.