Botschafter des Heils in Christo 1885
Die Herrlichkeit des Herrn
Der erste Grundsatz des Christentums stellt den Christen auf einen ganz neuen Boden, während er zugleich in der ernstesten Weise die Verantwortlichkeit des Menschen anerkennt und aufrecht hält. Dieser erste Grundsatz, die Grundlage aller christlichen Wahrheit, ist der, dass es einen Mittler gibt, eine dritte Person zwischen dem Menschen und Gott. Ein anderer hat sich ins Mittel gelegt und die Sache des Menschen, weil dieser nicht zu Gott kommen konnte, auf sich genommen und einen Boden geschaffen, auf welchem er vor Gott annehmlich ist.
Zwei Dinge werden uns hier als die Folge dieser Tatsache vor Augen gestellt (2. Kor 3): Zunächst: „Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“, die Freiheit der Gnade, und dann: wir sind Briefe Christi, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes.“ Wir „sind“ dies, nicht nur sollten wir es sein. Obgleich in uns selbst höchst unvollkommen und mangelhaft, ist doch jeder Christ nach den Worten des Heiligen Geistes ein Brief Christi. Allerdings denkt mancher ganz naturgemäß: „Nun, wenn das wahr ist, so weiß ich nicht, was ich von mir selbst denken soll. Ich sehe diese Darstellung Christi nicht in mir.“ – Ganz recht, du sollst sie auch nicht sehen. Mose sah sein eigenes Antlitz nicht glänzen. Er sah den Glanz des Antlitzes Gottes, und andere sahen den Glanz seines Antlitzes.
Die Herrlichkeit des Herrn, wie sie auf dem Antlitz Mose gesehen wurde, erschreckte das Volk; es vermochte diese Herrlichkeit nicht zu ertragen. Aber wir sehen sie jetzt mit offenem, „aufgedecktem Angesicht“ in Christus (V 18), und zwar ohne im Geringsten erschreckt zu sein; wir finden vielmehr Freiheit, Trost und Freude in dem Anschauen derselben. Wir schauen sie an, und anstatt uns zu fürchten, frohlocken wir. Woher kommt dieser unermessliche Unterschied? Es ist jetzt „der Dienst des Geistes“ und „der Dienst der Gerechtigkeit“ (V 8–9). Ich sehe einen lebenden Christus in der Herrlichkeit droben, nicht einen Christus hienieden, (so köstlich es ist, Ihn auch als solchen zu betrachten) sondern einen Christus zur rechten Hand Gottes, mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt. Und obwohl jene Herrlichkeit in den Himmeln ist, so kann ich sie doch unverrückt anschauen. Alle diese Herrlichkeit – und Christus befindet sich in der Mitte der Herrlichkeit und der Majestät des Thrones Gottes – flößt mir weder Furcht noch Schrecken ein, und zwar infolge der bewunderungswürdigen Tatsache, dass diese Herrlichkeit Gottes mir jetzt von dem Angesicht eines Menschen entgegen strahlt, der meine Sünden hinweggetan hat und zum Beweis dafür dort ist (Heb 1,3).
Einst hätte ich auch alle Ursache gehabt, vor der Stimme Gottes zu erschrecken und mit Israel zu sagen: „Lass Gott nicht mit mir reden!“ oder gleich Adam mit einem schuldigen Gewissen mich vor dem Angesicht Gottes zu verbergen (2. Mo 20,19; 1. Mo 3,8). Aber ich rede jetzt nicht mehr so. Ich sage im Gegenteil: Lass mich seine Stimme hören! Und weshalb? Weil ich jetzt die Herrlichkeit Christi nicht betrachten kann, ohne zu wissen, dass ich errettet bin. Doch wie ist Christus in jene Herrlichkeit gekommen? Er ist ein Mensch, der steh hienieden mit Zöllnern und Sündern beschäftigte, der ihr Freund war und sie zu seinen Gefährten erkor; Er ist ein Mensch, der den Zorn Gottes wider die Sünde erduldete und meine Sünden an seinem Leib auf das Holz trug (Ich rede die Sprache des Glaubens). Er ist dort als der, welcher inmitten der Umstände und Schwierigkeiten hienieden wandelte und dem die Sünde zugerechnet wurde; und doch sehe ich gerade in seinem Angesicht die Herrlichkeit Gottes. Ich sehe Ihn dort, weil Er meine Sünde hinweggetan und das Werk meiner Erlösung vollbracht hat. Ich könnte Christus unmöglich in der Herrlichkeit sehen, wenn noch ein Flecken von Sünde zurückgeblieben wäre. Je mehr ich von der Herrlichkeit sehe, desto mehr erkenne ich die Vollkommenheit des Werkes, welches Christus vollbracht hat, und der Gerechtigkeit, in welcher ich angenommen bin. Jeder Strahl jener Herrlichkeit wird in dem Antlitz dessen erblickt, der meine Sünden auf sich genommen hat und auf dem Kreuz für dieselben gestorben ist, des Einen, welcher Gott auf der Erde verherrlicht und das Werk vollendet hat, das der Vater Ihm zu tun gegeben. Die Herrlichkeit, die ich sehe, ist die Herrlichkeit der Erlösung. Nachdem Jesus in Betreff der Sünde Gott vollkommen verherrlicht hatte – Er konnte sagen: „Ich habe dich verherrlicht auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht, welches du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ – hat Gott Ihn verherrlicht bei sich selbst mit der Herrlichkeit, die Er bei Ihm hatte, ehe die Welt war (Joh 17,4–5).
Wenn ich Ihn in jener Herrlichkeit erblicke, so sehe ich, dass alle meine Sünden verschwunden sind. Ich habe meine Sünden auf den Mittler legen und sie gleichsam auf den Kopf Asasels bekennen sehen (vgl. 3. Mo 16), und sie sind weggetragen worden in ein ödes Land, um nie wieder zum Vorschein zu kommen. Gott ist so völlig in Betreff meiner Sünden durch das Werk Christi verherrlicht worden, dass gerade diese Verherrlichung Christus das Anrecht auf einen Platz zur Rechten Gottes gibt. Ich fürchte mich nicht, Christus dort anzuschauen. Wo sind meine Sünden jetzt? Wo sind sie zu finden, sei es im Himmel oder auf der Erde? Einst waren sie auf dem Haupt des reinen, fleckenlosen Lammes Gottes, meines gepriesenen Herrn; aber jetzt sind sie verschwunden, um nie wieder gefunden zu werden. Wäre es ein toter Christus, (wenn ich so reden darf) den ich dort erblickte, so könnte ich befürchten, dass meine Sünden noch einmal zum Vorschein kommen könnten; aber da ein lebendiger Christus sich in der Herrlichkeit befindet, so ist alles Suchen nach denselben vergeblich. Er, der sie alle getragen hat, ist zu dem Thron Gottes emporgehoben worden, und dort kann es keine Sünde geben.
Als eine praktische Folge hiervon werde ich in sein Bild verwandelt. „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bilde von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (V 18). Der Heilige Geist, der von den Dingen Christi nimmt und sie der Seele offenbart, ist die Kraft unserer gegenwärtigen praktischen Verwandlung in das Bild Christi. Ich ergötze mich an Christus, ich nähre mich von Ihm, und ich liebe Ihn. Der Heilige Geist bildet meine Seele Christus Jesus gemäß gerade dadurch, dass Er mir Ihn offenbart. Ich empfange nicht nur die Herrlichkeit als Gegenstand meiner Liebe; nein, ich liebe Christus selbst, ich bewundere Ihn, ich beschäftige mich mit Ihm und verlange nach Ihm; ich esse sein Fleisch und trinke sein Blut. Kann es da anders sein, als dass ich Ihm gleich werde? Der Christ wird auf diese Weise ein Brief Christi, der von allen Menschen gekannt und gelesen wird. Er redet von Christus, legt Zeugnis für Ihn ab, erkennt Christus als seinen Herrn an und arbeitet für Ihn. Er wünscht nicht reich zu sein; er besitzt Reichtümer, unermessliche Reichtümer in Christus. Er verlangt nicht nach den Freuden und Vergnügungen dieser Welt; für ihn gibt es Fülle von Freuden und Lieblichkeiten zur Rechten Gottes immerdar.
Sagst du immer noch: „Aber ich erblicke in mir diese Darstellung Christi nicht; ich kann nicht sehen, dass ich ein Brief Christi bin?“ Nun, mein Freund, so möchte ich fragen: Siehst du nicht Christus? Und ist das nicht weit besser, als dich selbst zu sehen? Nicht das Blicken auf mich selbst, sondern das Anschauen Christi ist das von Gott bestimmte Mittel, um mich zu dem Bild Christi hinwachsen zu lassen. Nehmen wir an, ich hätte das Werk eines großen Künstlers nachzubilden. Wird mir dies wohl gelingen, wenn ich meine Augen stets auf meine Arbeit richte und mich in unaufhörlichen Klagen darüber ergehe, dass meine Versuche immer wieder fehlschlagen? Sicherlich nicht. Nein, wenn ich zum Ziel kommen will, so muss ich unverrückt meine Augen auf das Vorbild heften und Zug um Zug, Linie um Linie studieren und so nach und nach in den Geist des Künstlers und seines Werkes einzudringen suchen.
Welch ein Trost liegt darin für uns! Der Heilige Geist hat meiner Seele einen verherrlichten Christus als die sichere Bürgschaft meiner Annahme von Seiten Gottes offenbart, und ich kann jetzt ohne Furcht und deshalb unverrückt, mit aufgedecktem Angesicht, jene Herrlichkeit anschauen, die mir von dem Antlitz Christi entgegen strahlt, und mich ihres Glanzes erfreuen. Und auf diese Weise werde ich verwandelt (nicht: verwandle ich mich) nach demselben Bilde, als durch den Herrn, den Geist. – Werfen wir einen Blick auf Stephanus, als er vor seinen Anklägern stand (Apg 7). Voll des Heiligen Geistes, vermochte er unverwandt gen Himmel zu schauen – in seinem Fall geschah dies ohne Zweifel mit mehr als gewöhnlicher Kraft – und „er sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus, stehend zur Rechten Gottes“; und sein Angesicht glänzte wie eines Engels Angesicht. Und als man ihn zur Stadt hinausführte, um ihn zu steinigen, da betete er gerade so, wie sein Herr und Meister es getan hatte, für seine Mörder. Er starb, mit den Worten auf seinen Lippen: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht zu!“ Christus betete, ehe Er seinen Geist in die Hände des Vaters übergab: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ So sehen wir in Stephanus den Ausdruck der Liebe Christi für seine Feinde. Durch den Heiligen Geist wurde er in einer herrlichen und gesegneten Weise in dasselbe Bild verwandelt.
Die Seele, welche in vollkommener Freiheit vor Gott ist, schaut voll Glück und Frieden die Herrlichkeit Gottes, wie sie in dem Angesicht Jesu Christi gesehen wird; und weil sie diese Herrlichkeit sieht und ihren Ausdruck kennt, so wandelt sie in heiligem Vertrauen vor Gott. Anstatt mit Satan in dieser Welt glücklich zu sein, fürchtet der Christ Satan, weil er sich selbst kennt. Er fühlt sich nur in der Gegenwart Gottes wirklich Wohl, und indem er dort den Geist dessen in sich aufnimmt, was sich für die Gegenwart Gottes geziemt, wird er ein Brief Christi für die Welt, indem er vor allen kund werden lässt, dass er dort war. Der Herr gebe, dass wir uns mehr und mehr seiner rühmen, in dessen Antlitz alle diese Herrlichkeit entfaltet ist – des Lammes, das für uns gestorben ist und alle unsere Sünden durch sein kostbares Blut abgewaschen hat!