Botschafter des Heils in Christo 1885
Gedanken über Johannes 13,1-11
Der vorliegende Abschnitt zeigt uns die Fürsorge des Herrn für die Seinen, eine Fürsorge, deren Grundlage jene unbegreifliche Liebe bildet, mit welcher Er die Seinen bis ans Ende liebt. „Da Er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte Er sie bis ans Ende.“ Welch ein köstlicher Gedanke! Die Liebe, mit welcher Er die Seinen liebte, während Er hienieden bei ihnen war, dauert auch jetzt noch ununterbrochen für sie fort, wahrender in der Herrlichkeit ist. Welche Veränderung auch in Betreff seiner Stellung stattgefunden haben mag, so ist doch seine Liebe dieselbe geblieben; sein Herz hat sich für die Seinen nicht verändert.
Dieser seiner Liebe gab der Herr am letzten Abend seines Zusammenseins mit den Jüngern auf Zweierlei Weise Ausdruck, und zwar in der Einsetzung des Abendmahls und in der Fußwaschung. Im ersten Fall zeigte Er den Seinen, was Er für sie tun wollte. Er stand im Begriff, für sie zu sterben und sein kostbares Blut für sie zu vergießen. Welch ein Ausdruck und welch ein Beweis seiner unergründlichen Liebe für sie! Er wollte am Kreuz das Wert ihrer Erlösung vollbringen, ihre Versöhnung mit Gott, sowie die vollkommene Reinigung von allen ihren Sünden bewirken. Und heute dürfen wir sagen, dass Er dieses Werk vollbracht hat. Es ist eine vollendete Tatsache, die niemals wiederholt zu werden braucht, noch wiederholt werden kann. Er ist für uns gestorben und hat „durch ein Opfer auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (Heb 19,11).
Den zweiten Ausdruck seiner Liebe gab Er den Seinen darin, dass Er vom Abendessen aufstand, sich mit einem leinenen Tuche umgürtete, das Waschbecken nahm und ihnen die Füße wusch. Dieses Werk setzt Er gegenwärtig immer noch fort, während Er droben zur Rechten Gottes ist. Nie vergisst Er sie; auch in der Herrlichkeit gedenkt Er an sie, wacht über sie und hat so zu sagen stets das Waschbecken in der Hand, um sie wieder zu reinigen, wenn sie gefehlt haben.
Doch was ist der Zweck seiner Liebe? Was der Zweck der Fußwaschung? Auch dieser wird uns in unserem Kapitel mitgeteilt. Der Herr wünscht, dass wir Teil mit Ihm haben (V 8). Er will, dass wir seine Stellung, seine Herrlichkeit, ja, alles was Er hat, mit Ihm teilen und genießen sollen. Das ist der große Zweck, den Er bei der Fußwaschung im Auge hat. Er ist dort verherrlicht und im Genuss alles dessen, was der Vater hat. Der Vater hat Ihm alles in die Hände gegeben, so dass Er sagen kann: „Alles, was der Vater hat, ist mein“ (Joh 16,15). Er hat den Vater hienieden in allem verherrlicht, und darum hat der Vater Ihn wiederum verherrlicht und Ihn zu seiner Rechten gesetzt, um Ihn dort alles genießen zu lassen und Ihn in göttlich vollkommener Weise zu erfreuen mit alledem, was seine Liebe darzubieten vermag.
Wir aber sollen alles mit Ihm teilen; und dies nicht erst dann, wenn wir dort sein werden, sondern vielmehr jetzt schon, während wir noch hienieden wandeln. Er will, dass wir jetzt schon durch den Glauben Teil mit Ihm haben. Wie aber kann dies geschehen? Gewiss fest es voraus, dass wir rein sind, wie Er rein ist. Ohne dieses ist es unmöglich. Niemand kann in Gemeinschaft mit Ihm sein, der nicht in völliger Übereinstimmung mit Ihm, mit seiner Natur und seinem Wesen ist.
Aber, möchte vielleicht eingewandt werden, dann kann kein Mensch mit Ihm in Gemeinschaft sein; denn niemand ist rein. Allerdings, der Mensch ist von Natur ein verlorener Sünder; er hat das Paradies, die Ruhe, das wahre Glück, den Frieden, ja alles, was er einst besaß, verloren; er hat sich unglücklich gemacht und verdorben für Zeit und Ewigkeit. Er hat sich von Gott entfernt, und das ist die Quelle seines Elends und seines Unglücks; denn von dem Augenblick an war es um seine Ruhe und sein Glück geschehen. Und niemand kann ihm helfen, als Jesus allein; nur Er kann ihn erretten und wieder zurückführen in die Gegenwart Gottes, zu der Quelle des Glücks, der wahren Ruhe und des vollkommenen Friedens.
Dennoch aber bleibt es wahr, dass niemand dort sein, niemand einen Platz im Vaterhaus haben kann, der nicht in vollkommener Übereinstimmung mit Gott und nicht ebenso rein ist, wie Er. Gott aber ist Licht. Dies ist der Ausdruck der vollkommensten, der göttlichen Reinheit. Nichts kann reiner sein, als das Licht; es lässt sich mit nichts vermengen, es scheidet seiner Natur gemäß alles aus, was nicht Licht ist. Wir müssen daher rein sein wie das Licht, um Gemeinschaft mit Gott, oder, mit anderen Worten, Teil mit Jesu haben zu können. Und die wichtige Frage ist: Sind wir so rein? Sind wir passend gemacht für die Gegenwart Gottes? fähig, Ihn zu genießen? Der Herr konnte von seinen Jüngern, Judas ausgenommen, sagen: „Ihr seid rein.“ Weshalb waren sie rein? Das Wort, das der Herr zu ihnen geredet, hatte seine reinigende Kraft auf ihre Herzen und Gewissen ausgeübt (vgl. Joh 15,3). Sie waren wiedergeboren durch dasselbe, und davon spricht hier der Herr. Ohne Zweifel blickt Er aber auch voraus auf das Werk, das Er zu vollbringen im Begriff stand. Er betrachtet es als bereits vollbracht, wie Er denn auch in seinem Gebet zum Vater sagt: „Das Werk habe ich vollbracht, welches Tu mir gegeben hast, dass ich es tun sollte“ (Kap 17,4). So ist jeder wahre Gläubige gereinigt durch das Wasser (das Wort) und das Blut, seine Sünden sind gesühnt, sein ganzer Zustand als eines Kindes des ersten Adam ist gerichtet und vor Gott hinweggetan, und er selbst ist zu einer ganz neuen Schöpfung geworden, zu einem Menschen mit ganz neuen Gedanken, Gefühlen und Beweggründen.
Die Reinigung des Gläubigen ist also ein für alle Mal geschehen, so dass von ihm, seiner Stellung nach, gesagt werden kann: Er ist rein. Und zwar ist er gereinigt durch das Feuer des Gerichts, welches in Christus am Kreuz über alle seine Sünden und seinen ganzen Zustand als Sünder ergangen ist. Es sei mir erlaubt, zur Erläuterung dieser Tatsache eine Begebenheit zu erzählen, die sich vor längeren Jahren in Amerika zutrug. Eine Anzahl von Reisenden durchwanderte in Begleitung eines Führers eine jener ungeheuren Grasflächen, welche man Prairien nennt. Man hatte bereits eine bedeutende Strecke zurückgelegt, als das geübte Ohr des Führers ein fernes, eigentümliches Getöse vernahm, während zugleich ein scharfer, brandiger Geruch die Luft zu erfüllen begann. Mit den Gefahren der Wildnis seit langen Jahren vertraut, erkannte er sogleich, in welch einer misslichen Lage er sich mit seinen Reisegefährten befand. Die Prairie stand hinter ihnen in Brand, und der Wind trieb das Feuer, das in dem hohen, dürren Grase reichliche Nahrung fand, mit rasender Schnelligkeit auf sie zu. An ein Entrinnen war nicht zu denken. Ehe sie das Ende der Prärie erreichen konnten, hatte das Feuer sie längst eingeholt. Da war guter Rat teuer. Doch der Führer hatte nicht umsonst so manches Jahr in der Wildnis zugebracht. Nach kurzem Besinnen sprang er vom Pferd und begann das hohe Gras um sich her auszuraufen, während er seine Gefährten aufforderte, dasselbe zu tun. Auf diese Weise wurde in kurzer Zeit eine kleine Fläche von dem Gras befreit. Hierauf zündete der Führer das noch stehende Gras an verschiedenen Stellen an, und nicht lange nachher sah sich die kleine Gesellschaft ringsum von Feuer umgeben, das sich jedoch, Nahrung suchend, immer weiter von ihnen entfernte, bis sie endlich auf einer weiten, leergebrannten Fläche standen. Diese wurde ihnen zum sicheren Bergungsort, von wo aus sie mit völliger Ruhe dem herannahenden großen und schrecklichen Feuer entgegensehen konnten. Sie waren gerettet, da sie nunmehr auf einem Platz standen, vor welchem das entfesselte Element Halt machen musste, aus dem einfachen Grund, weil es dort keine Nahrung mehr fand. Das Feuer hatte dort bereits sein Werk getan, und sie dadurch in Sicherheit gestellt vor dem kommenden Feuer. – Ist das nicht ein treffendes Bild von der Errettung des Gläubigen? Er kann sagen: Das Gericht hat mich sichergestellt vor dem kommenden Gericht; der Tod Christi, der am Kreuz für mich starb und dort an meiner statt gerichtet wurde, war mein Gericht, und ich habe dort meine Strafe bereits empfangen, ich bin gerichtet. Er kann daher ohne jede Furcht und Besorgnis dem kommenden Gericht entgegensehen, da es an ihm nichts mehr zu tun findet. Welch eine köstliche Ruhe verleiht dies dem Herzen! „Also ist jetzt keine Verdammnis für die, welche in Christus Jesus sind“ (Röm 8,1). Der Gläubige ist in vollkommene Sicherheit gestellt, vollkommen gereinigt durch das Feuer des Gerichts.
Aber obgleich wir so unserer Stellung nach, ein für alle Mal gereinigt, errettet, versöhnt und des ewigen Lebens teilhaftig geworden sind, so können wir uns doch sehr leicht die Füße beschmutzen, solange wir hienieden in einer bösen und gottlosen Welt wandeln. Und die geringste Verunreinigung stört notwendigerweise unsere Gemeinschaft mit Christus, den Genuss unseres Teils mit Ihm. Ein unreiner Gedanke, irgendwelche Unwachsamkeit oder Nachlässigkeit in unserem Wandel genügt, uns praktisch von Ihm zu entfernen. Und weil Er dieses weiß, so ist Er stets beschäftigt, uns die Füße zu waschen, uns immer wieder zu reinigen und wiederherzustellen. Doch ich wiederhole noch einmal, dass wir dies nicht verwechseln dürfen mit der Stellung des Gläubigen, gemäß welcher dieser ein für alle Mal in Gemeinschaft mit Gott gebracht ist in Christus. Johannes sagt: „Und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ (1. Joh 1,3). Alle Gläubigen sind ihrer Stellung nach dorthin gebracht und befinden sich schon im Licht. Aber in Bezug auf den praktischen Genuss dieser Gemeinschaft sagt derselbe Apostel: „Meine Kinder, ich schreibe euch dieses, auf dass ihr nicht sündigt“, (weil durch die Sünde diese Gemeinschaft gestört wird) „und wenn jemand gesündigt hat, so haben wir einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten.“ Als Sachwalter ist Christus stets beschäftigt, unsere Gemeinschaft praktisch wiederherzustellen, wenn dieselbe unterbrochen worden ist; und dieses wird uns in der Fußwaschung bildlich dargestellt. Sie hat den Zweck, uns praktisch in der Reinheit zu erhalten, welche sich für die Gegenwart Gottes und für seine heilige Nähe geziemt. Diese Waschung geschieht daher nicht durch Blut, sondern durch Wasser, und sie wird nicht auf den ganzen Menschen, sondern nur auf die Füße angewandt. Wir finden hiervon ein treffendes Vorbild in den Priestern des Alten Bundes. Nachdem einmal ihr ganzer Leib mit Wasser gewaschen und einmal das Blut auf sie gesprengt war, hatten sie bei ihrem täglichen Dienst in der Stiftshütte nur nötig, sich Hände und Füße zu waschen (2. Mo 29–30). So ist auch der Gläubige einmal gereinigt „durch die Waschung mit Wasser durch das Wort“, er ist wiedergeboren; auch ist das Blut der Versöhnung ein für alle Mal auf ihn angewandt, und deshalb braucht weder das Blut noch einmal auf ihn gesprengt, noch auch der ganze Leib noch einmal mit Wasser gewaschen zu werden. „Wer gebadet ist, hat nicht nötig, denn sich die Füße zu waschen, sondern ist ganz rein“ (V 10).
Haben wir uns also durch unsere Nachlässigkeit praktisch verunreinigt, so wird dadurch unsere Stellung als gereinigte Anbeter nicht angetastet, wohl aber unsere praktische Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus gestört. Wir sind unserem praktischen Zustand nach nicht passend für die Gegenwart Gottes. Unsere Gewissen sind beschwert, unsere Herzen unruhig und unglücklich. Kann und will uns der Herr in diesem Zustand lassen? O nein; sein Name sei dafür gepriesen! Er beschäftigt sich mit uns und ist für uns tätig vor dem Vater, um uns wieder in den verlorenen Genuss seiner Gemeinschaft zurückzuführen. Und dieses tut Er, so oft wir uns vergessen und verunreinigt haben. Er bittet allezeit für uns; und die Wirkung seiner Fürsprache ist, dass der Geist Gottes anfängt, durch das Wort Gottes auf unser Gewissen zu wirken. Dies ist eine große Gnade. Wenn der Herr Jesus nicht auch unser Sachwalter wäre, wie Er unser Erlöser ist, so würden wir, trotz des vollbrachten Werkes der Erlösung, hienieden kein Teil mit Ihm haben können. Wir würden uns, wenn wir einmal aus seiner Gegenwart weggegangen waren, immer weiter und weiter von Ihm entfernen. Denn solange man im Licht ist, sieht man das Böse und richtet alles, was der Gegenwart Gottes nicht angemessen ist. Das Aufhören der Wachsamkeit und des Selbstgerichts ist nur ein Beweis, dass man sich bereits aus dem Licht entfernt hat; und wir würden aus uns selbst nie daran denken, zurückzukehren, wenn der Herr in seiner unermüdlichen Liebe nicht als Sachwalter für uns tätig wäre. Er ist für uns bei dem Vater beschäftigt, Er betet für uns, und infolge dessen wirkt der Geist Gottes durch das Wort auf unser Gewissen, wodurch wir zur Besinnung, zum Stillstand und zum Selbstgericht geführt werden. Wir sehen dies deutlich bei Petrus. Der Herr wusste, dass Petrus Ihn verleugnen würde, und hatte deshalb für ihn gebetet, damit sein Glaube nicht aufhöre. Ware dies nicht geschehen, so würde Petrus nicht zurückgekehrt sein, sondern gleich Judas ein Ende in Verzweiflung genommen haben. Aber welch eine unendliche Liebe! Der Herr sagt: „Ich aber habe für dich gebetet.“ Ja, so groß ist seine Liebe für uns, dass Er nicht nur für uns starb, sondern auch jetzt noch in seiner Herrlichkeit unermüdlich für uns beschäftigt ist und für uns bittet. Er kann die Seinen, für welche Er sein kostbares Leben hingegeben hat, nicht lassen; stets hat Er sie im Auge.
Das Mittel zur Wiederherstellung des Gläubigen ist also das Wort Gottes. Der Apostel sagt bezüglich der Wirksamkeit desselben: „Denn das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer, als jedes zweischneidige Schwert, und durchdringend bis zur Zerteilung der Seele und des Geistes, sowohl der Gelenke als des Markes, und ein Richter der Gedanken und Gesinnungen des Herzens“ (Heb 4,12). Diese Worte zeigen uns die mächtige Wirkung des Wortes Gottes. Es stellt uns ins Licht, indem es unsere Herzen und Gedanken erforscht. Es beurteilt uns nicht nur nach unserem äußeren Wandel, nach dem, was vor Augen ist, sondern es geht tiefer und forscht nach den Beweggründen, die uns leiten. Ja, es tritt an einen jeden Gläubigen mit der tief erforschenden Frage heran: Wo steht dein Herz? Denkst du an dich und an das, was hienieden ist? Oder denkst du an Jesus und an das, was droben ist? Bewegt sich dein Herz in den Dingen dieser Welt, oder kannst du sagen: Ich bin im Licht? Bist du tätig und eifrig aus Liebe für Christus, oder leiten dich Selbstsucht und Eigenliebe? Solche und ähnliche Fragen richtet das Wort in seiner zweischneidigen Schärfe an einen jeden, und es dringt durch bis zu den geheimsten Winkeln unserer Herzen und beurteilt die Triebfedern und Beweggründe, die uns bei unserem Handeln leiten. Und also ins Licht gestellt, werden wir unausbleiblich zum Selbstgericht alles dessen geführt, was diesem Licht nicht entspricht. Das ist der Weg zur Wiederherstellung unserer praktischen Gemeinschaft mit Gott. Wir werden zum Bekenntnis unserer Schuld geführt. Und „wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist Er treu und gerecht, dass Er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit“ (1. Joh 1,9). Überhaupt ist unsere Gemeinschaft mit Gott ohne ein fortgesetztes selbstgerecht nicht denkbar, weil die Sünde in uns wohnt und wir uns in einer bösen Welt befinden. Welch ein Vorrecht ist es daher, zu wissen, dass der Herr nicht müde wird, seinen Dienst als Sachwalter für uns zu versehen, dass Er sich Tag für Tag in unbegreiflicher Liebe und Geduld mit unseren Fehlern und Verirrungen beschäftigt, ja, dass Er, der Herr der Herrlichkeit, sich herablässt, diese niedrigste aller Verrichtungen, das Waschen der Füße, an uns zu versehen! Wie groß muss seine Liebe sein! So wie diese Liebe Ihn einst arm werden ließ, damit wir reich würden, so lässt sie Ihn auch heute noch sich selbst vergessen, um das Wohl und Glück seiner teuer Erkauften zu fördern.
Wie aber kommt es nun, dass trotz dieser unaufhörlichen und unermüdlichen Tätigkeit des Herrn oft Kinder Gottes lange Zeit hindurch in einem verunreinigten Zustand vorangehen? Hat der Herr aufgehört, sich als Sachwalter für sie zu verwenden? Oder hat das Wort Gottes seine reinigende Kraft verloren? Keins von beiden ist der Fall. Vielmehr haben sich solche Gläubige der Wirksamkeit des göttlichen Wortes entzogen. Ach, leider geschieht dieses nur zu oft. Das Wort Gottes übt auf jeden, der sich ihm unterwirft und dessen Ohr geöffnet ist, stets seine Wirkung aus. Wenn aber jemand nicht auf das Wort hört, sei es nun, dass es ihm unmittelbar durch den Geist Gottes, oder mittelbar durch einen Bruder nahegebracht wird, so macht er es wirkungslos und bleibt in einem ungerichteten Zustand.
Wie betrübend ist ein solcher Zustand! Da ist keine Gemeinschaft mit dem Herrn, keine wahre Gemeinschaft mit den Brüdern, kein Zeugnis für Christus. Ein solch untreuer und ungehorsamer Christ häuft nur Unehre auf den kostbaren Namen des Herrn und auf seine Versammlung. Und wer kann wissen, was sein Ende sein würde, wenn der Herr nicht in seiner unendlichen Liebe auch jetzt noch über ihn wachte? Er kann die Seinen, die Er sich durch sein kostbares Blut erkauft hat, nimmer lassen. „Da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende.“ Kann Er sie durch sein Wort nicht mehr erreichen, so wendet Er andere Mittel an, und diese bestehen in den Regierungswegen Gottes.
Wir lesen in Johannes 15 von einer Reinigung, die der Vater als Ackerbauer ausübt an den Reben, welche Frucht bringen. Solange wir auf das Wort Gottes hören und uns durch dasselbe leiten und richten lassen, bleiben wir in der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn; vernachlässigen wir aber das Wort, so müssen wir die Erfahrung der Wege Gottes machen; und diese sind immer ernst. Züchtigungen aller Art, Leiden, Krankheiten, ja selbst der Tod können eintreten, wie wir dies bei den Korinthern sehen, wo infolge der Züchtigungen des Herrn viele schwach und krank und ein gut Teil entschlafen waren. Und der Apostel ruft ihnen zu: „Aber wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet. Wenn wir aber gerichtet werden, so werden wir vom Herrn gezüchtigt, auf dass wir nicht mit der Welt verurteilt werden“ (1. Kor 11,30–32). Ja, selbst diese Züchtigungen sind nur ein Beweis der Liebe des Herrn, der die Seinen nicht vorangehen lassen kann auf einem Weg, auf welchem sie verloren gehen würden. Er will sie um jeden Preis in seine Gemeinschaft zurückführen, zu der Quelle des wahren Glücks, der wahren Ruhe und der vollkommenen Freude. Er hat sie lieb, und darum scheut Er kein Mittel und keinen Weg, um seinen Zweck zu erreichen.
Aber wie viele bittere Wege und ernste Züchtigungen würden wir uns ersparen, wenn wir uns stets durch das Wort und den Geist Gottes leiten ließen! Darum lesen wir auch im 32. Psalm: „Ich will dich unterweisen und dich lehren den Weg, in dem du wandeln sollst; mit meinem Auge will ich dir raten. Seid nicht wie ein Ross, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat, dessen Zierde Zaum und Zügel ist zur Bändigung, wenn sie nicht wollen zu dir kommen“ (V 8–9). Der Herr leitet alle die Seinen. Aber wie groß ist der Unterschied! Die Einen kann Er mit seinen Augen leiten, bei den Anderen muss Er Zaum und Zügel anwenden. Wir sehen von letzteren ein ernstes Beispiel in dem Propheten Jonas, welchem der Herr befohlen hatte, nach Ninive zu gehen und den Bewohnern dieser großen, gottlosen Stadt Buße zu predigen. Er aber wollte nicht hingehen und entfloh in seinem Ungehorsam auf ein Schiff. Doch wie töricht war sein Beginnen! Konnte er der Hand des Herrn entrinnen? Gewiss nicht. Auf dem Schiff überfiel ihn ein großer Sturm; er wurde ins Meer geworfen, von einem großen Fisch verschlungen und, nachdem er im Bauch desselben die Angst und den Schrecken des Gerichts Gottes erfahren hatte, wieder ans Land geworfen. Dann ging er nach Ninive. Wie einfach würde sein Weg gewesen sein, wenn er dem Gebot des Herrn sofort gehorcht hätte! Alle jene bitteren und schmerzlichen Erfahrungen würde er sich erspart haben.
Möge der Herr in seiner reichen Gnade uns ein allezeit unterwürfiges Herz geben, das sich nur in seiner heiligen Nähe und in dem Genuss seiner unendlichen Liebe glücklich fühlt; ein Herz, das sein Wort liebt und höher schätzt als „Tausende von Gold und Silber“ und süßer „als Honig!“ (Ps 119,72.103) Möchten wir nie vergessen, dass Er uns gereinigt hat, und möchten wir durch die Kraft des Geistes in dem steten Bewusstsein dieser vollkommenen Reinheit wandeln! Dies wird nicht nur unsere Herzen mit Anbetung gegen den Herrn erfüllen, sondern uns auch treu und vorsichtig machen in unserem Wandel; und also wird uns „der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilands Jesu Christi reichlich dargereicht werden“ (2. Pet 1,11). Petrus sagt von denen, die abgeirrt sind, dass sie die Reinigung ihrer vorigen Sünden vergessen haben, und dies ist die Ursache des mannigfaltigen Strauchelns vieler Gläubigen. Wie vorsichtig wird zum Beispiel jemand wandeln, der, bekleidet mit einem kostbaren Gewände, einen schmutzigen Weg zu gehen hat, während jemand, dessen Kleider bereits besudelt sind, sich wenig daraus macht, ob noch einige Flecken mehr hinzukommen oder nicht. Der Herr gebe uns allen in seiner Gnade, dass wir auf unserem Pilgerweg durch diese böse und unreine Welt stets auf die Worte des Apostels achten: „Wir wissen, dass ein jeder, der aus Gott geboren ist, nicht sündigt; sondern der aus Gott Geborene bewahrt sich, und der Böse tastet ihn nicht an. Wir wissen, dass wir aus Gott sind, und die ganze Welt liegt in dem Bösen“ (1. Joh 5,18–19).