Botschafter des Heils in Christo 1885

Selbstverleugnung

Der Pfad eines wahren Christen ist ein Pfad der Selbstverleugnung, nach dem Wort des Herrn: „Wenn jemand mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf täglich und folge mir nach“ (Lk 9,23). Beachten wir wohl, dass es nicht heißt: „Der verleugne gewisse Dinge, die ihm angehören, oder gewisse Gewohnheiten, die ihm ankleben.“ Nein, wer Jesu nachfolgen will, der muss „sich selbst“ verleugnen, und zwar Tag für Tag. Jeden Morgen, wenn wir uns erheben und in die Beschäftigungen des täglichen Lebens eintreten, haben wir dasselbe große und wichtige Werk vor uns, uns selbst zu verleugnen.

Unser eigenes, hassenswürdiges „Selbst“ wird uns auf Schritt und Tritt begegnen; denn obwohl wir durch die Gnade Gottes wissen, dass „unser alter Mensch mitgekreuzigt“, dass er mit Christus gestorben und begraben ist und vor den Augen Gottes nicht mehr existiert, so ist dies doch nur wahr im Blick auf unsere Stellung in Christus nach den Gedanken Gottes über uns. Wir wissen und erfahren es täglich, dass unser eigenes ich verleugnet, gerichtet und in Unterwürfigkeit gehalten werden muss. Die Stellung, in welcher wir uns befinden, ist etwas anders, als unsere praktische Verwirklichung derselben. Gott sieht uns vollendet in Christus; wir sind nicht mehr im Fleisch, aber das Fleisch ist in uns, und dasselbe muss durch die Macht des Heiligen Geistes niedergehalten werden. Und dies ist nicht nur wahr in Bezug auf die hässlichen Gewohnheiten und groben Ausschreitungen desselben, sondern auch hinsichtlich seiner feineren und scheinbar schönen Offenbarungen. Hieran denken wir oft wenig und machen es wie Saul, nachdem er die Amalekiter geschlagen hatte: wir verschonen das, was wir für „das Beste“ halten, und bringen die Schärfe des Schwertes nur über „das Schwache und Verächtliche“ (vgl. 1. Sam 15,1–9). Doch das wird nimmermehr genügen. Das ganze „Ich“, das eigene „Selbst“ muss verleugnet werden – nicht nur einzelne Zweige, sondern der ganze Stamm, nicht nur einige Auswüchse der Natur, sondern die Natur selbst. Es ist verhältnismäßig leicht, gewisse Dinge, die dieser alten Natur angehören, zu verleugnen, während man zu derselben Zeit das eigene Ich nährt und pflegt. Es kann sein, dass ich mir viele Genüsse versage, nur um meine Geldliebe zu befriedigen. Es ist möglich, dass ich mich sehr einfach kleide, während ich in anderen Dingen ganz verschwenderisch zu Werke gehe.

Das eigene Ich macht sich überall bemerkbar: im Kämmerlein, in der Familie, auf der Straße, im Geschäft, kurz zu allen Zeiten und unter allen Umständen. Es hat seine besonderen Geschmacksrichtungen und Gewohnheiten, seine Vorurteile und Voreingenommenheiten, seine Zuneigungen und Abneigungen. In allen diesen Dingen muss es verleugnet werden. In religiöser Beziehung z. B. lieben wir solche, die mit uns übereinstimmen, unsere Meinungen anerkennen oder unsere Erkenntnis bewundern. Wir haben solche gern, die äußerlich angenehm und liebenswürdig sind. Alles das muss mit schonungsloser Energie gerichtet werden, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, vielleicht einen treuen und ehrenwerten Christen gering zu achten, einfach weil uns etwas an ihm nicht gefällt, oder andererseits einen gleichgültigen, wenig gediegenen Charakter hoch zu schätzen, weil seine Person, sein Benehmen uns zusagt und er unserer Eigenliebe zu schmeicheln versteht. Wie völlig verwerflich das ist, brauchen wir nicht zu sagen.

Wenn der Leser das 8. bis 10. Kapitel des 1.Korintherbriefes mit Aufmerksamkeit studieren will, so wird er darin eine höchst kostbare Unterweisung über den Gegenstand finden, der uns gerade beschäftigt. Während der Apostel keinen Zoll breit von der Wahrheit abwich, ging er in der Verleugnung seines eignen Ichs bis zur äußersten Grenze. Und so sollte es stets bei dem Christen sein. Handelt es sich um die Wahrheit, so darf ich nichts aufgeben, handelt es sich um mich, alles. „Wenn eine Speise meinem Bruder Ärgernis gibt, so will ich für immer kein Fleisch essen, damit ich meinem Bruder kein Ärgernis gebe“ (Kap 8,13). Welch ein edler Entschluss! Welch eine Bereitwilligkeit, um anderer willen alles aufzugeben! Möchte sich dieselbe Gesinnung bei uns finden!

Im nächsten Kapitel lesen wir: „Wiewohl ich von allen frei bin, so habe ich mich allen zum Sklaven gemacht, auf dass ich so viele als möglich gewinne ... Ich bin allen alles geworden, auf dass ich auf alle Weise etliche errette“ (V 19–22). War Selbstverschonung der Zweck des Apostels, wenn er „allen alles“ wurde? O nein; er verschonte nie sich selbst, noch gab er ein Jota von der Wahrheit Gottes auf, wie manche im Blick auf diese Stelle gemeint haben, sondern in wahrer Verleugnung seiner selbst machte er sich zu einem Knecht aller, zu ihrem Wohl und zur Verherrlichung Gottes. Welch ein schönes Vorbild! Der Herr gebe uns Gnade, ihm nachzuahmen! Wir sind nicht nur berufen, unsere menschlichen Vorurteile, unsere Zuneigungen oder Abneigungen aufzugeben, sondern auch unsere persönlichen Rechte dem Besten anderer zum Opfer zu bringen. Das ist das tägliche Geschäft des Christen, und je mehr und je fleißiger er dasselbe vollführt, desto mehr wandelt er in den Fußstapfen Christus, der sich all seiner Herrlichkeit entäußerte, um uns, seine Feinde, zu gewinnen.

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